(Hier ist Teil 1, hier Teil 2, und hier Teil 3.)
Nach ein paar Nachrichten und Telefonaten in verschiedene Richtungen und etwas Hin und Her wird das Klavier schließlich abgeholt. Ich kann nicht mal zum Abschied ein paar Töne drauf klimpern, denn die Mechanik ist ja schon ausgebaut. Es kommen also zwei vergnügte starke Männer und nehmen mein Klavier einfach mit. Mit so einem Spezial-Rollwagen die Treppe runter, ich gucke vorsichtshalber nicht hin, weil ich Angst habe, es rutscht ihnen weg. Als sie unten angekommen sind, gehe ich mit dem Klavierhocker und den Glasuntersetzern, auf denen es gestanden hat, hinterher, denn das sollen sie natürlich alles mitnehmen.


Und dann wird es auf dem LKW festgezurrt, und ich verdrücke ein kleines Tränchen, denn natürlich schmerzt es jetzt doch ein bisschen, dieses wirklich sehr schöne Stück herzugeben. Aber es ist einfach zu schade, wenn es nur herumsteht und nichts weiter tut als gut auszusehen. Und jetzt habe ich kein Klavier mehr.

Ich schicke K. die Fotos von der Abholaktion, und nicht viel später kommen Fotos von ihr zurück, von meinem Klavier in ihrem Wohnzimmer.
Die Mechanik war längst fertig überarbeitet und wurde drei Tage später bei K. wieder eingebaut. Inzwischen weiß sie auch, dass ich mir wünsche, es mal zu besuchen, es zu hören und zu sehen, und sie sagt, das ist natürlich überhaupt kein Problem, klar können wir mal gucken kommen. Einmal muss es noch nachgestimmt werden. Ich hoffe, es macht sie glücklich.
Statt des Klaviers ist in unserem Wohnzimmer jetzt irgendwie ein Loch. Und immer, wenn ich die leere Wand sehe, kommt mir Element of Crime in den Sinn:
Das Klavier, auf dem du nicht spielen kannst,
Der Abwasch, den du immer verschiebst,
Und die Schokolade, die du in Krankenhausmengen verbrauchst,
Das alles kommt mit
Und ich auch.

(Hier ist Teil 1, hier Teil 2.)
Ich bekomme über 20 Zuschriften von Leuten, die sich für das Klavier interessieren. Für ihr Ferienhaus in Portugal. Für die Enkelin (und ich habe den Verdacht, dass es mit den Eltern der Enkelin nicht abgesprochen ist). Kurze Mails mit einem einzigen Satz. Lange Mails mit den eigenen Klavier-Geschichten. Wahnsinnig nette Mails. Mails aus Köln oder Bayern oder Sachsen. Mails aus Hamburg.
Einige kann ich schnell aussortieren. Beispielsweise finde ich, dass man ein Klavier nicht bis nach Portugal transportieren muss. Erstens gibt es dort ja auch welche, zweitens lebt meins seit 100 Jahren in Norddeutschland, es war noch nie weiter südlich als Köln. In Portugal sind es im Sommer 40°C, und im Winter in einem ungeheizten Ferienhaus wahrscheinlich 4°C. Das würde es wohl nicht lange mitmachen.
Die lustigste Mail kommt vom Kulissenbauer eines großen Hamburger Theaters, sie bauen gerade an einem Bühnenbild mit mehreren Klavieren. Kurz erscheint mir eine Zweitkarriere als Theaterklavier sehr glamourös, allerdings müsse ich wissen, heißt es dann in der Mail, dass der Theaterbetrieb bisweilen ein wenig ruppig sei und sie das Klavier möglicherweise zersägen würden. „Wenn das für Sie in Ordnung ist.“ Öhm, nee. Ist es nicht nicht. Doch nicht so glam.

Ich schreibe eine Mutter an, die es für ihren elfjährigen Sohn möchte, wir machen einen Termin aus. Ihr Mail ist furchtbar nett, das Klavier würde bei ihnen „zwischen Feuerwehrautos, Legosteinen und Englischvokabeln“ stehen, das kommt mir vor wie genau der richtige Ort. Der Klavierbauer Herr Becker kommt auch noch mal dazu und gibt seine Expertise ab, was wirklich nett ist. Ich bin beeindruckt, wie gut der Sohn schon spielt, und am nächsten Abend sagen sie ab. Der Mutter kommt die Reparatur irgendwie doch zu aufwändig vor, auch wenn sich an den Kosten nichts ändert, und der Sohn kann sich nicht gut vorstellen, wie das Klavier klingen würde, wenn es gestimmt wäre. Was auch vielleicht ein bisschen viel verlangt ist, wenn man elf Jahre alt ist.
Die nächste, bei der ich mich melde, heißt K. und freut sich sehr. Sie braucht Herrn Becker nicht nochmal dabei, es genügt, wenn ich ihr sage, was er gesagt hat. Sie kann auch gar nicht spielen, möchte es aber lernen. Sie findet das Klavier wunderschön. (Zu Recht.) Ich bitte einen kompetenten Nachbarn, ihr ein bisschen was auf dem verstimmten Ding vorzuspielen, damit sie es mal hört. Ich finde immer noch: für 20 Jahre ungestimmt gar nicht mal so schlimm. Der Nachbar sagt, man kann eine ganz einfache Mechanik einbauen, die das Klavier stumm schaltet und den Ton auf Kopfhörer überträgt, sodass die Nachbarn nichts hören.
Mir blutet jetzt doch ein bisschen das Herz, es wegzugeben. Kurz überlege ich, ob ich nicht lieber so etwas einbauen lasse und es doch noch mal selbst versuche … ach, who am I kidding. Mache ich ja doch nicht.

K. und ich trinken Kaffee und mögen uns und plaudern über Wohnungseinrichtungen. Und darüber, wie es jetzt weitergeht, wer wann was wo abholt, bzw. abholen lässt. Herr Becker heißt inzwischen Michael.
Die Reihenfolge ist (das weiß ich, weil es schon mit Michael und Mutter-und-Sohn besprochen war):
1. Michael holt die Mechanik ab und repariert sie in seiner Werkstatt.
2. Die Klaviertransporteure holen den Rest des Klaviers ab und bringen ihn zu K.
3. Der Klavierbauer baut die Mechanik bei ihr wieder ein und stimmt das Klavier.
4. Wir überlegen uns, was wir an die Stelle stellen, wo bisher das Klavier stand. Und ob da wirklich kein Bücherregal hin soll. Weil, warum denn nicht? Dummerweise wäre es schon vom ersten Tag an voll.
5. Ich frage K., ob ich mal zu ihr kommen und es hören darf, aber das weiß sie noch nicht.
Punkt 1 ist erledigt. Die Mechanik ist in der Werkstatt, es kommt kein Ton mehr aus dem Klavier. Der Transporteur, den Michael empfohlen hat, hat gerade keine Manpower, ein anderer macht nach ein paar Tagen ein Angebot, das uns allen sehr teuer vorkommt, der erste sagt dann aber doch, das sei normal – es muss hier aus dem zweiten Stock runter und bei K. in den vierten hoch. Wir bleiben dran. Also, K. bleibt dran, ich warte ab.
(tbc)
„Als letztes kommt das Klavier.“ So lautet der erste Satz meines aktuellen Romans, der damit beginnt, dass eine der Protagonistinnen in die WG einzieht: „Als letztes kommt das Klavier.“ Als wir vor 20 Jahren nach Hamburg zogen, kam das Klavier ebenfalls als letztes die Treppe hoch in den zweiten Stock. Ich habe vorsichtshalber nicht hingeguckt, das Klavier ist unfassbar schwer. Aus dem Treppenhaus kam ein Schrei, und ich dachte: wenn es ihnen wegrutscht, dann ist der, der unten geht, tot. Es ist nicht weggerutscht, die Möbelpacker haben überlebt, das Klavier auch.
Und jetzt steht es seit 20 Jahren in unserem Hamburger Wohnzimmer und sieht sehr gut aus. In den letzten Jahren sind wir aber zunehmend der Meinung, dass gutes Aussehen allein nicht reicht, um hier herumstehen zu dürfen.

Das Klavier kommt noch aus Brochterbeck, diesen Satz kenne ich schon mein ganzes Leben. (In Brochterbeck war ich allerdings noch nie.) In Brochterbeck stand das Elternhaus meiner Großmutter, sie selbst dürfte Mitte der 30er Jahre dort weggezogen sein. Meine Großmutter war genauso unmusikalisch wie mein Vater, aber mein Urgroßvater, der Vater meiner Großmutter, war Organist und Küster in Brochterbeck. Ihm gehörte das Klavier.
In meinem Elternhaus stand das Klavier im sogenannten Arbeitskeller, nicht gerade der gemütlichste Raum im Haus. Anfangs habe ich noch darauf Klavierspielen gelernt, dann kauften meine Eltern aber bald einen Flügel, der im Wohnzimmer stand. Nicht für meinen unmusikalischen Vater, sondern vor allem für meine Mutter, und naja, mich. Ich übte fürderhin also auf dem Flügel – allerdings nicht, weil ich selbst das unbedingt gewollt hätte, sondern weil meine Mutter es wollte. Meine Klavierlehrerin war eine alte Hexe. Anders gesagt: ich übte eher gar nicht. Da half es auch nicht mehr, dass ich irgendwann die Lehrerin wechselte und Unterricht bei der bezaubernden Christiane Oelze bekam; das Kind war in den Brunnen gefallen, ich hatte keine Lust. Und dann war ich auch bald mit der Schule fertig und zog zum Studium weg, und das war’s mit mir und dem Klavierspiel. Das Klavier wurde nach der Anschaffung des Flügels verliehen. Erst an die befreundete Nachbarschaft, dann an eine Kollegin meiner Mutter, zuletzt an Onkel und Tante.

Nach einigen Jahren wollte auch meine Tante es nicht mehr haben. Ich war Anfang dreißig und dachte, vielleicht versuche ich es ja doch noch mal. Wir ließen das Klavier nach Coesfeld bringen und stimmen, und ich suchte mir einen Lehrer. Dieser Lehrer war vor allem eins: lustlos. Ich sollte irgendwelche Tonleitern üben, was ich nicht tat, konnte sie also in der nächsten Stunde nicht, hampelte mich irgendwie durch und bekam zur nächsten Woche die nächste Tonleiter auf. Ansonsten fing er mit der Träumerei von Schumann an, die ist zwar kurz, aber wenn man fünfzehn Jahre kein Klavier angefasst hat, vielleicht doch ein winziges bisschen anspruchsvoll? Ich weiß nicht, wie lange das ging, es können höchstens ein paar Monate gewesen sein, die ich bei ihm Unterricht hatte. Das war Anfang der Nullerjahre, und das war’s mal wieder mit mir und dem Klavier.
2005 zogen wir nach Hamburg. Als letztes kam das Klavier. Und da steht es jetzt, seit zwanzig Jahren, und sieht gut aus. Es ist aus Kirschholz, mit dezenten Intarsienarbeiten, die weißen Tasten aus Elfenbein, die schwarzen aus Ebenholz. Es steht eigentlich perfekt und passt wunderbar dahin, aber es ist doch irgendwie traurig, wenn so ein Instrument nicht gespielt wird. Gelegentlich setzt sich mal ein Gast daran und klimpert ein bisschen herum. Dafür, dass es seit über 20 Jahren nicht gestimmt wurde, ist es gar nicht mal so schlimm. Dennoch: das arme Klavier. (Das Klavier im Roman übrigens wird ebenfalls nicht gespielt, sieht aber auch nicht gut aus und steht im Weg, die Figur holt sich dauernd blaue Flecken daran.)
Seit einigen Jahren frage ich immer mal wieder herum, ob nicht jemand ein Klavier haben möchte. Eher halbherzig, wenn es sich gerade ergibt, und bisher erfolglos. Es ist einer dieser ewigen Punkte auf der To-do-Liste, „Klavier loswerden“, aber erstmal war immer anderes wichtig. Und ich habe keine Ahnung, ob es noch irgendwas taugt.
(Weiter mit Teil 2)
Alle LESUNGSTERMINE stehen immer HIER.
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Die Künstlerin Lea Kubeneck liest Bücher und bildet alle darin enthaltenen Farbbezeichnungen als Farbcode ab: It is colorit.
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Hier gibts Infos zur Reise nach Südtirol mit dem Salonfestival. Beste Erholung, direkt nach der Buchmesse!
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Hier ist der Beitrag im NDR Kulturjournal über die Wohnverwandtschaften.
Immer, wenn Galeria Karstadt-Kaufhof-Horten gerade mal wieder pleite ist und alle über die „Verödung der Innenstädte“ jaulen, denke ich: Verödung? Geht mal bitte nach Geschäftsschluss in eine klassische Fußgängerzone, öder geht es doch nicht. Und während der Geschäftszeiten: wie öde ist bitte Shoppen? Dinge kaufen, die wir in den allermeisten Fällen nicht brauchen? Niemand spricht miteinander, jeder macht sein Ding, aber alle auf einmal. Das soll „nicht öde“ sein? Das, was typischerweise als „Innenstadt“ bezeichnet wird, ist doch der Inbegriff von Ödnis. Da passiert überhaupt nichts, da laufen nur Leute durcheinander und konsumieren.
Und jedes Mal denke ich bei diesen Kaufhauspleiten: Ist doch super. Reißt die hässlichen Kästen ab und macht Orte hin, an denen Menschen sein möchten. Eine Grünfläche. Irgendwas mit Wasser. Ein Café, eine Buchhandlung, einen Blumenladen drumherum. Einen Spielplatz, und zwar einen amtlichen, für alle Altersgruppen. Einen Skaterpark. Vielleicht eine kleine Kita mit angeschlossenem Seniorenheim, weil sich die Kombination als super entpuppt hat. Eine Werkstatt zum Dinge-Selberreparieren, eine Mitkochküche, eine Bücherei. Kunst. Kunst!
Gestern war ich ENDLICH zum ersten Mal im Jupiter. Das ist das ehemalige Karstadt-Sport-Gebäude am Anfang der Mönckebergstraße. Wie toll ist das bitte? Ich bin total begeistert! Ein paar einzelne kleine Lädchen von Hamburger Labels. Jede Menge Kunst. Eine Hip-Hop-Schule, es läuft Musik, Menschen tanzen, sie üben Choreographien oder einzelne Moves. Mehr Kunst. Eine Open Lab Microfactory (mal nachgucken, was genau das ist). Ein Stockwerk nur für Kinder. Dachterrasse, Café, mehr Musik. Fantastischer Ausblick über die Stadt.
GEHT DOCH! Bitte unbedingt beibehalten und in anderen Städten und anderen Kaufhäusern nachmachen!




