Lecker

Die Supermarktkette „Netto“ mischt aus Wasser, Weizeneiweiß und Mehl eine Pampe an, färbt sie mit Rote-Bete-Saft fleischfarben, würzt mit etwas Paprika nach und mischt dieses „schnittfeste Wasser“ (Foodwatch) unter Hackfleisch. Nicht unter das gute, frisch durch den Wolf gedrehte Hackfleisch, sondern unter das billige, fettreiche aus der Selbstbedienungstheke. Und zwar 30% Pampe zu 70% schlechtem Hack, und zu sehen ist: nichts. Sieht aus wie Hack. Alsdann schreiben sie als Produktbezeichnung drauf: „Zubereitung aus Hackfleisch gemischt mit pflanzlichem Eiweiß“ und behaupten, das habe 30% weniger Fett. Dabei sind es natürlich nur 30% weniger Fleisch, und zwar sehr fettiges Fleisch. Insgesamt hat das Zeug immer noch mehr Fett als gutes, frisches Hack. Dafür ist die Netto-Pampe dann aber auch ein bisschen teurer; genau wie viele „Light“-Produkte, in denen gute Zutaten durch Wasser und irgendwelche Zusatzstoffe ersetzt werden, um sie ein bisschen teurer zu machen. Guten Appetit!

Netto gehört übrigens zu Edeka. Wir erinnern uns: „Wir lieben Lebensmittel.“

Mehr dazu bei Foodwatch.

Ausflug

Mein jüngstes Patenkind ist zweieinhalb. Buddenbohmblogleser kennen den jungen Mann unter dem Namen „Sohn II“. Sohn II und ich, wir sehen uns gelegentlich, er kennt mich durchaus, aber man kann nicht behaupten, dass ich ihm innig vertraut wäre. Dennoch beschloss er plötzlich eigenmächtig, er wolle jetzt mal etwas mit mir unternehmen. Nur er und ich, wir zwei alleine. Mit zweieinhalb.
Er hat auch gleich eine tolle Idee, was wir machen können: Züge gucken. Züge gucken ist super, schreibe ich Maximilian, ich komme ihn am Samstag Nachmittag abholen.
Samstag früh ist eine Mail von Maximilian da: Sohn II rufe mich seit sieben Uhr morgens pausenlos mit seinem Spielzeughandy an. Ich antworte, dass ich ihn gegen halb vier abhole. Um zwei klingelt das Telefon. Ein Kinderstimmchen, das es offenbar überhaupt nicht mehr erwarten kann, winselt: Ein Auuusfluuug! Ein Auuusfluuug! Mit dir! Ja, sage ich, wir machen einen Ausflug, lass uns Züge gucken gehen, ich hole Dich gleich ab. Das Kinderstimmchen piepst: Und ein Schokoeis! Na klar, sage ich, ein Eis bekommst du auch. Das Kind weiß, was es will.

Und dann laufe ich mit dieser zweieinhalbjährigen Persönlichkeit zweieinhalb Stunden lang durch Hamburg. Wir gucken an der großen Baustelle nach, ob Bagger da sind, aber da sind keine. Samstags arbeiten Bauarbeiter nicht, erkläre ich. Das Kind fragt, ob Züge fahren. Ja, sage ich, Züge fahren. Wir gehen runter an die Alster, dann unter der Brücke durch zur Kunsthalle und gucken erstmal auf die Gleise. Da kommen Züge! Großer Zug! Weißer Zug! Roter Zug! Doppeldeckerzug! Dann gucken wir die Riesenspinne an. Das Kind zögert kurz, ich erkläre, dass das keine echte Spinne ist, und dass sie nicht laufen kann. Große Bünne, keine echte Bünne, sagt das Kind, kann nicht laufen. Keine echte Bünne. Große Bünne. Kann nicht laufen. Er wiederholt das zwar einige Male für sich, hat aber ansonsten offenbar keine Angst.
Als wir auf ein am Straßenrand parkendes Polizeiauto zugehen, macht es das Blaulicht an. Nur für uns. Wir gehen hin, die nette Polizistin fragt, ob das Kind mal im Polizeiauto sitzen möchte. Das Kind möchte das auf keinen Fall, auch nicht mit mir zusammen. Das Kind möchte Züge gucken. Außerdem teilt es mir mit, dass seine Nase laufe und es sie gerne geputzt haben möchte. Ich putze ihm die Nase, wir gehen auf die nächste Brücke, direkt hinterm Bahnhof, wo dauernd Züge drunter herfahren, und gucken eine Weile. Mir wird kalt, es ist ganz schön windig. Das Kind ist kaum vom Brückengeländer wegzubekommen, noch ein Zug! Da! Zug! Und dann: kommt noch ein Zug? Ja, sage ich, da kommen immer Züge.

Auf der anderen Seite der Brücke frage ich, ob wir noch in den Bahnhof gehen wollen, wo ganz viele Züge sind, und wo es ein bisschen wärmer ist, oder lieber nach Hause. Nach Hause, sagt er. Wir haben noch gar kein Eis gegessen, sage ich, da marschiert das Kind los, Richtung Bahnhof, im Slalom um Junkies, Punks und Penner herum, und bleibt vor einer Bäckereitheke stehen. Schokoeis!, ruft er. Aber beim Bäcker gibt es kein Eis, wir gehen die Treppe hoch zu Edeka. Das einzige erkennbare Schokoeis ist ein Magnum. Das will er. Das ist aber ein riesiges Eis, sage ich, das teilen wir uns besser, ja? Ja, sagt er. Schokoeis, sagt er.
Wir setzen uns mit dem riesigen Eis auf eine Treppe, weil nirgends Sitzgelegenheiten sind und ein so kleines Kind unmöglich im Gehen ein so großes Eis essen kann. Keine drei Minuten später kommt die Polizei und sagt, dass wir dort nicht sitzen sollen. Immerhin sagen sie uns auch, wo es Bänke gibt.
Das Kind braucht bestimmt fast eine halbe Stunde, um das ganze Magnum aufzuessen. Hochkonzentriert, unglaublich geduldig und beharrlich und erstaunlich unfallfrei. Ich frage ein paarmal nach, ob ich mal abbeißen darf, weise darauf hin, dass wir uns das Eis doch teilen wollten – keine Chance.
Als er mit dem Eis fertig ist, gucken wir noch ein bisschen auf die Züge runter. Kommt noch ein Zug? Ja, es kommt noch ein Zug. Es kommt immer noch ein Zug. Fährt weg! Ja, der Zug fährt weg. Guck, da kommt ein neuer. Großer Zug! Doppeldeckerzug! Kommt noch ein Zug? Ich glaube, er hätte noch Stunden dort stehen können.
Insgesamt waren wir zweieinhalb Stunden unterwegs. Seine Eltern berichten, er spreche seither quasi von nichts anderem. Zweieinhalb Stunden finde ich ganz schön viel für so einen kleinen Mann, der mich eigentlich kaum kannte. Das ist jetzt zwei Wochen her, morgen hole ich ihn wieder ab. Er hat mich nämlich wieder angerufen und das praktisch allein mit mir verabredet. Meiiine Isa! Meine Patentante! Ein Auuusfluuug! Am Sonntag!
Mal sehen, was wir machen, vielleicht gehen wir Züge gucken. Vielleicht fahren wir ein bisschen mit einem Zug, hoch oben am Hafen entlang, das wird bestimmt toll.
Kommt noch ein Zug? Ja. Es kommt immer noch ein Zug.

Das ist keine großartige Geschichte. Aber es ist so großartig, wenn man Menschen so einfach glücklich machen kann. Züge, Eis, fertig. Kind glücklich. Wundervoll.

Lesenlesenlesen

Da lese ich im Moment schon so viel, aber der Stapel ungelesener Bücher ist trotzdem grotesk hoch und wird immer höher, ich weiß nicht, wie das kommt. Letzte Woche haben sich im Hamburger Literaturhaus die Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse vorgestellt, da will man dann auch die Hälfte gleich lesen, unbedingt jetzt endlich „Sand“, dann auf jeden Fall Jens Sparschuh, vielleicht auch Fatah und/oder Steinäcker. Dann Klüssendorf, Ruge, Ondaatje, und von Gerbrand Bakker gibt es perfiderweise gleich zwei neue Bücher auf einmal, das ist doch doof, wer soll denn das alles lesen. Katrin Seddigs neues Buch ist da, das muss eigentlich gleich als allererstes, aber mal ehrlich, soll ich echt Bücher kaufen? („Sand“ liegt immerhin schon aufm Nachttisch, zusammen mit … ach du meine Güte, da ist noch ein Stapel. Der ist allerdings kleiner.)
Ich glaube, ich fange mal damit an, dass ich einige Bücher von dem Stapel ins Regal sortiere. Nächstes Jahr ist auch noch ein Jahr. Hilfe!

Christina Viragh …

… schreibt über ihre Arbeit an der Übersetzung von Péter Nádas‘ opus magnum „Parallelgeschichten“ (1700 Seiten):

    Ich musste mir mein Interesse für den Roman bewahren, Interesse im starken Sinn, des Dabeiseins, und das ging nur, wenn ich mich nicht von ihm besetzen ließ. Musste ihm ein möglichst intensives, von ihm unabhängiges Leben entgegenstellen, oder besser, mich von dem Intensiven, das auf mich zukam, einnehmen lassen. Und es kam seltsamerweise einiges auf mich zu. Vielleicht auch nicht seltsamerweise, vielleicht ist es so, wenn man sich über eine lange Zeit auf etwas konzentriert, dass ein Intensives das andere ruft.

Toller Artikel! Und zwar hier.

Nochmal Suna

Letzte Woche war ich auf einer Beerdigung in meinem Heimatdorf. Der Vater meiner ältesten Schulfreundin ist gestorben; also niemand, der mir im Alltag fehlen wird, aber jemand, der doch irgendwie auch zu meinem Leben gehört hat. Ich kannte ihn, seit ich sechs Jahre alt war, seine Tochter war jahrelang meine beste Freundin („erstbeste Freundin“), und sie ist die einzige, die mir aus der Schulzeit geblieben ist. Manchmal telefonieren wir zwei Jahre lang nicht miteinander – aber wenn, dann nicht unter drei Stunden. Und es ist immer gleich wieder eine Nähe da.
Mein Heimatdorf ist vier Zugstunden entfernt, ich hatte also viel Zeit zum Lesen. Suna habe ich gelesen. Eine Familiengeschichte; eine Mutter erzählt ihrem Kind die Geschichte ihrer Vorfahren. Auf eine unglaublich innige und zu Herzen gehende Weise.
Dann war die Beerdigung, auf der natürlich ebenfalls Geschichten erzählt wurden. Geschichten, die mit „weißt Du noch“ anfingen. Ich weiß noch, dass der verstorbene Vater seinem Sohn die Beinamen „Erwin Cäsar Tütenfrosch“ gegeben hat, einfach so aus Quatsch. Er war ein großer Quatschmacher, der Vater. Auf der Traueranzeige steht hinter dem Vornamen des Sohnes die Abkürzung „E.C.“, und ich glaube kurz, womöglich heißt er wirklich Erwin Cäsar, und nur ich habe das für Quatsch gehalten. Erwin Cäsar ist ein Adoptivkind, vielleicht hieß er ja schon so, bevor er in die Familie meiner Freundin kam. Erwin Cäsar war außerdem lange Jahre der beste Freund meines jüngsten Bruders. Ich habe nachgefragt, er heißt nicht wirklich Erwin Cäsar, sie haben die Initialen nur als Hommage an den Humor des Vaters mit auf die Trauerkarte geschrieben. Den Tütenfrosch haben sie weggelassen, der wäre dann doch zu dicke gewesen.
Ich habe auch eine Adoptivschwester. Sie führt einen häuslichen Pflegedienst in unserem Dorf und hat den Vater meiner Freundin gepflegt. Nicht sehr lange, aber die paar Tage vor seinem Tod. Er hatte sich gewünscht, dass sie ihn pflegt. Er kannte sie seit dem Tag, an dem sie in unsere Familie kam.
Auf dem Rückweg wieder Suna gelesen. Suna ist auch ein Adoptivkind. Vier Stunden auf der Rückfahrt war ich, von der Trauerfeier schon gehörig emotionalisiert, vollkommen gefangen von diesem Buch und der Familiengeschichte. Dann kam ich nach Hause und habe Maximilians Geschichtsstunde mit seinem großen Sohn gelesen und noch mal Tränen vergossen, nicht die ersten an diesem Tag. Abends im Bett Suna ausgelesen. Und am nächsten Morgen versucht, eine Rezension zu schreiben, in der vielleicht meine Aufgewühltheit rübergekommen ist, ich dem Buch aber bestimmt nicht gerecht geworden bin.
Inzwischen ist eine Woche vergangen, ich habe längst anderes gelesen. Aber an Suna denke ich immer noch. An die Beerdigung und an die Familie meiner Freundin natürlich auch. Vielleicht ist es ganz in Ordnung, wenn sich in meiner Erinnerung das Buch mit der Beerdigung verknüpft, auch wenn die Geschichten gar nichts miteinander zu tun haben.
Maximilian hat das Buch jetzt ebenfalls besprochen. Wir sind uns nicht besonders oft einig, was Bücher betrifft. Diesmal schon. Wer noch überlegt, ob er Suna lesen soll, der lese bitte Maximilians Besprechung. Und dann Suna. Unbedingt. Wirklich.

(Noch eine Besprechung bei der Textzicke.)

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