Wir setzen uns in die S-Bahn, uns gegenüber auf dem Vierersitz sitzen ein junger Mann und eine junge Frau. Ob sie zusammengehören? Weiß man nicht. Alter und Styling lassen es möglich erscheinen, sie reden aber nicht miteinander.
Die Frau hat eine Medikamentenpackung in der Hand. VAGISAN steht drauf, in großen, roten Buchstaben auf weißem Grund, gut zu erkennen bis ans Ende des Wagens. Sie steckt die Packung nicht etwa verschämt in ihre Tasche, sondern betrachtet sie eingehend von allen Seiten. Auf allen Seiten steht groß und leuchtend VAGISAN und ein bisschen Kleingedrucktes. Der Mann tippt in sein Telefon, ruft jemanden an. „Na, alles fit?“ – „… im Schritt?“, denke ich und bekomme nur durch übermenschliche Anstrengung keinen Lachanfall.
Die Frau holt den Beipackzettel aus der Packung, verschließt die Packung umständlich wieder und steckt sie in ihre Handtasche. Der Mann beendet sein Telefonat. Die Frau liest den Beipackzettel, von unserer Seite aus sind prima die Zeichnungen zu erkennen, was man wo wie weit einführen soll. Der junge Mann macht den nächsten Anruf: „Na, alles fit?“ Sie liest den Beipackzettel, er sagt in sein Telefon: „Da kneif ich doch nicht gleich den Schwanz ein.“
Ich starre konzentriert aus dem Fenster.
Die Frau wirft den Beipackzettel in den S-Bahn-Mülleimer. Ich bin nicht sicher, ob das eine gute Idee ist.
Sie ruft ebenfalls jemanden an. „Na, alles klar?“
Wir steigen aus.
Neulich schrieb ich, dass ich es blöd finde, sich über Leute lustig zu machen, die irgendetwas nicht gut können.
Ebenso blöd finde ich es, sich über Leute lustig zu machen, die einen anderen Geschmack haben als man selbst. Dass man über Geschmack nicht streiten kann, wussten schon die alten Römer, und es ist ja auch sowieso klar: Geschmack ist etwas Individuelles. Was mir gefällt, gefällt meinem Nachbarn vielleicht nicht. Davon abgesehen hat Geschmack natürlich auch mit Modeerscheinungen zu tun, und dann auch mit Sozialisation und Herkunft und so weiter. Viele meiner engeren Freunde haben in manchen Dingen einen ähnlichen Geschmack wie ich. Aber niemand genau denselben. Nicht mal mein Mann und ich haben immer denselben Geschmack! Ich habe Freunde mit – für mich – vollkommen unmöglicher Wohnungseinrichtung, Freunde, die grauenhafte Musik hören, und Freunde, die entsetzliche Frisuren haben. Sie sind meine Freunde, weil sie tolle Menschen sind, und der Rest sind Äußerlichkeiten und eben Geschmackssache. Man stelle sich mal vor, wie langweilig die Welt wäre, wenn alle denselben Geschmack hätten. Ist doch super, dass das Leben bunt ist.
Manche meiner Freunde geben sogar ihren Kindern Namen, die ich nicht schön finde. Na und? Deswegen sind sie immer noch meine Freunde, und ihre Kinder auch. Nach dem ersten „oweia“-Gedanken ist es nämlich ganz schnell so, dass das Kind eben so heißt, wie es heißt, und fertig. Da braucht man dann auch nicht mehr dauernd drüber zu kichern. Und was für Freunde gilt, gilt erst recht für wildfremde Menschen: sie können ihre Kinder nennen, wie sie wollen. Wenn jemand seine Tochter Chantal-Cheyenne nennen möchte, dann soll er das doch bitte in Frieden tun dürfen, ohne dass gleich ganze Webseiten daherkommen und sich über die entsprechenden Geburtsanzeigen lustig machen. Nänänä, guckt mal, was für bescheuerte Namen die Leute ihren Kindern geben! Die haben vielleicht einen doofen Geschmack! Meiner ist viel besser, mein Kind heißt natürlich Johannes oder irgendeine Abwandlung davon. Entschuldigung, aber das ist doch primitiv.
Diese Eltern haben einfach einen *anderen* Geschmack als ihr. Das dürfen die! Und komme mir jetzt niemand mit „aber was die ihren Kindern damit antun“. Diese Eltern haben Namen für ihre Kinder ausgesucht, die sie schön finden. Sie geben Geburtsanzeigen auf, weil sie froh und glücklich über die Geburt ihrer Kinder sind, und weil sie ihre Kinder lieben. Und dann kommen so ein paar ungehobelte Hanseln daher, die sich für etwas Besseres halten, und kippen öffentlich im Internet Häme über diesen Eltern aus, bloß weil sie einen anderen Geschmack haben.
Das finde ich echt blöd. Es macht mich richtig wütend.
[Nein, ich werde die betreffende Webseite hier nicht verlinken.]
Im Übrigen: Unterschätzt mal die Kevins nicht! Die Kevins hauen uns raus!
Nach Helgoland fährt man in der Sommersaison am schnellsten mit dem Katamaran der Firma Helgoline. Der hat zwar innen ungefähr den Charme eines ICEs, ist aber schnell und komfortabel.
Wir hatten für die Bloggerreise Gruppentickets gebucht. Eine Mitfahrerin musste dann leider zwei oder drei Tage vorher absagen. Sie hat bei der Helgoline angerufen – eigentlich zu spät für eine Rückerstattung – und hat ausgemacht, dass ich am Abfahrtstag die Karte zurückbringe und sie das Geld dann überwiesen bekommt. Supernett, superunkompliziert, superkulant.
Ein weiterer Teilnehmer sagte erst am Tag vor der Abfahrt ab. Dessen Ticket habe ich dann ebenfalls vorgelegt und nachgefragt, ob da noch was geht. Eigentlich nicht, hieß es. Ist ja auch vollkommen logisch und überall so; wenn man erst unmittelbar vor der Abfahrt sagt, dass man nicht mitfährt, dann können sie es nicht mehr erstatten. Man nennt das „eine Stornogebühr von 100 %“. Aber, sagte die nette Dame, sie würde mal nachfragen. Sie fragte nach, und dann habe ich einen Gutschein bekommen. Über den kompletten Betrag. Das, liebe andere Unternehmen, nenne ich kulantes und kundenfreundliches Verhalten. Das ist geradezu sensationell und überhaupt nicht selbstverständlich. Der finanzielle Verlust dürfte für die Helgoline zu verkraften sein, und für die Kundenzufriedenheit haben sie echt was getan. Vielen Dank!
[Initiative für mehr Lob! Es wird zu viel geschimpft. Ich hoffe, es ist jetzt nicht blöd, dass ich das geschrieben habe: man kann ja bestimmt nicht davon ausgehen, dass jetzt jeder immer das Geld zurückbekommt.]
Ich finde es doof, sich über Leute lustig zu machen. Okay, da gibt es Ausnahmen, aber in den allermeisten Fällen finde ich Lustigmachen doof. Vor allem dann, wenn es darum geht, dass jemand etwas nicht gut kann. Haha, guckt mal, der kann das nicht! Lustig. Und selbst? Kannst Du seiltanzen, Schweine schlachten, Teppiche knüpfen? Nein? Dann halt doch einfach die Klappe.
Ganz konkret geht es mir fürchterlich auf den Zwirn, dass sich alle Welt über die schlechte englische Aussprache von Zugbegleitern mokiert. Ein ganzes Buch heißt „Senk ju for träwelling“. Ich habe keine Ahnung, worum es da sonst noch geht, außer um das ach so schlechte Englisch der Zugbegleiter, und ich möchte es auch gar nicht wissen. Schon der Titel macht mich wütend. Und jetzt geht gerade ein Lied von den Wise Guys auf Facebook um, mit demselben Thema. Ich habe keine Lust, diese beiden Dinge zu verlinken, das Buch und den Song. Denn: Mannmannmann, wie unlustig ist das denn? Deutsche Zugbegleiter sprechen Englisch mit deutschen Akzent! Donnerwetter!
Man hat mich sogar schon direkt darauf angesprochen. Als Übersetzerin müsse ich doch in der Bahn jedes Mal das kalte Grausen kriegen, wenn diese Durchsagen kommen. Wie bitte? Ehrlich gesagt: ja, ich bekomme das kalte Grausen. Aber nicht, weil die Zugbegleiter so einen Akzent haben, sondern weil ich reflexartig denke: jetzt macht sich bestimmt wieder so ein Vollidiot darüber lustig.
Aber warum? Was daran ist so witzig oder verachtenswert? Wer in der Schule sehr gut in Sprachen ist, wird wohl meistens nicht Zugbegleiter. Ich kenne die Ausbildungsvoraussetzungen nicht, aber ich nehme an, die meisten haben kein Abitur. Sondern wahrscheinlich Realschulabschluss. Was erwartet Ihr denn? Dass studierte Philologen mit einem Prädikatsexamen in angewandter Phonetik Euch die Fahrkarten abknipsen? Vielleicht ist der Zugbegleiter ein ganz reizender Vater, vielleicht spielt die Zugbegleiterin super Eishockey, vielleicht strickt er Socken, vielleicht ist sie ein Kotzbrocken; es ist relativ wahrscheinlich, dass sie irgendwas können oder gerne machen, was ich nicht kann, und was Ihr Aufreger auch nicht könnt. Dafür ist meine englische Aussprache besser. Na und? Ich sag das gerne noch mal: NA UND?
Die Leute sind Zugbegleiter. Ich finde es wirklich und ohne jede Ironie irgendwie reizend, dass die Bahn sie dazu anhält, ihre Durchsagen auch auf Englisch zu machen. Das ist grundsätzlich erstmal gastfreundlich und nett. Die meisten Zugbegleiter wissen wahrscheinlich, dass sie keine Sprachgenies sind; vielleicht haben sie sich bei den ersten Malen fürchterlich geschämt, diese Durchsagen zu machen. Vielleicht macht es ihnen auch Spaß. Weiß man alles nicht. Was man weiß, ist: die Durchsagen werden von Leuten gemacht, deren Kernkompetenz nun mal nicht in Fremdsprachen liegt, und auch nicht liegen muss. Sich darüber lustig zu machen, bloß weil man selbst zufällig ein bisschen besser Englisch kann, ist total billig. Stefan-Raab-Niveau. Ich kann nichts Lustiges daran finden, dass Leute irgendetwas nicht sehr gut können und man sie deswegen verächtlich macht.
Estaunlich, was sich über den Winter an Müll angesammelt hat. Von ganz allein! Vertrockente, staubige, wurzeldurchdrungene Erde. Tote Pflanzen. Vom Frost geplatzte Tontöpfe. Alles kein Wunder, wenn man im Winter den Balkon nicht betritt und ganz vergisst, dass man sich da vielleicht mal um dies oder jenes kümmern könnte. Ob die Erdbeeren nochmal kommen? So richtig super sehen sie nicht aus. Aber ich warte mal ab, vielleicht werden sie ja noch. Estragon, Thymian und ein bisschen Schnittlauch haben es über den Winter geschafft. Auch die Pfingstrose treibt wieder aus; ich habe sie schon seit Jahren, sie bekommt jedes Jahr zuverlässig genau eine Blüte. Weil Pfingstrosen nicht gut in Töpfen gedeihen, sagte mir mal jemand, sie brauchen mehr Platz für Wurzeln und so. Ich habe sie jetzt in einen etwas größeren Topf gesetzt und werde sie mal etwas eifriger düngen, vielleicht kommen ja ein paar mehr Blüten. Sonst schenke ich sie meinen Vermieter, dann kann er sie sich in den Garten pflanzen.
Hach, Frühling. Wie wunderbar.