Demnächst übersetze ich ein Jugendbuch mit Zauberei und so, da dachte ich, ich zauber mich mal ein bisschen ein. Ich habe nämlich keine Ahnung von Magie und Zauberliteratur. Und ich nehme an, dass Harry Potter da Maßstäbe gesetzt hat, vielleicht Vokabeln etabliert, vielleicht spielt mein Autor auf ihn an, und ich hätte es nicht gemerkt. Womöglich kann man gar keine Zauberliteratur ohne (freiwillige oder unfreiwillige) Potter-Bezüge mehr schreiben. Da bin ich lieber gewappnet.
Den ersten Band habe ich vor Jahren schon mal auf Englisch gelesen. Damals bin ich zu dem Schluss gekommen: och ja, spannendes Kinderbuch, aber weiter hat es mich nicht interessiert. Diesmal auf Deutsch (wegen Zaubervokabular) komme ich zu dem Schluss: och ja, spannendes Kinderbuch, würde mich aber nicht weiter interessieren. Mehr brauche ich hier nicht mehr drüber zu schreiben, oder? Jedenfalls haben nun inzwischen lauter Leute, deren literarisches Urteil mir was wert ist, gesagt, Harry Potter sei ganz toll und würde immer spannender und so weiter. Also mache ich weiter.
Außerdem ist das ja die schlechthinnige Prokrastinationsgelegenheit, so was lässt sich ein Profi natürlich nicht entgehen: bevor ich mit dem Übersetzen anfangen kann, muss ich erstmal sieben Bände Harry Potter lesen. Geht quasi gar nicht anders. Und nenne es Arbeit. Yeah!
Joanne K. Rowling steht im Regal zwischen Ralf Rothmann und Harry Rowohlt.
Joanne K. Rowling (Klaus Fritz): Harry Potter und der Stein der Weisen. Carlsen Verlag, 336 Seiten. Gebundene Ausgabe, 15,90 €.
Taschenbuch 7,90 €, Audiobook 19,95 €
Also, ich geh am Mittwoch Abend zum Quickie mit Maximilian Buddenbohm. Ihr auch? Halb elf, Feldstern, Sternstraße 2, Hamburg. Das ist an der alten Rinderschlachthalle, der Eintritt ist frei, hinterher geht ein Hut rum, und der Quickie dauert siebzehn Minuten.
Das Tollste ist: Er wird aus seinem neuen Buch vorlesen, das heute auch bei mir angekommen ist und demnächst im Buchhandel zu haben ist. Es ist wunderschön und ich freu mich wirklich sehr mit. Natürlich lese ich Merlix‘ Blog seit Anbeginn der Zeiten, kenne also die Geschichten alle schon, aber erstens habe ich glücklicherweise ein so schlechtes Gedächtnis, dass mir die Hälfte trotzdem neu sein wird, zweitens ist ein Buch natürlich was total anderes als ein Blog und muss sowieso nochmal gelesen werden, und drittens sind, glaube ich, auch ein paar neue Sachen drin, die nicht im Blog stehen. Und viertens habe ich heute schon mal von hinten angefangen zu lesen, auf Seite 244, und auf Seite 247 habe ich geweint. Gutes Buch also. (Übrigens ist ja gerade die Zeit, in der jedes Produkt eine „Geschenkidee“ ist. Ich mein ja nur.)
Es scheint mein Jahr der Roadstorys zu sein. Roadstorys haben mich nie besonders interessiert, und dieses Jahr kommen sie plötzlich geballt: Finn-Ole Heinrichs Räuberhände, Lisa Ranks Und im Zweifel für dich selbst, Edgar Rais Nächsten Sommer, irgendwie auch Grossmans Eine Frau flieht vor einer Nachricht (gildet zu Fuß auch als Roadstory?) und jetzt Herrndorfs Tschick – hat sich zufällig so ergeben, und allesamt sind sie großartig.
Unterwegs sind diesmal Maik – Sohn aus reichem Hause, die Mutter ist Alkoholikerin und mal wieder auf der „Beautyfarm“, der Vater ist mit seiner Sekretärin unterwegs, Maik soll die Sommerferien allein zu Hause am Pool verbringen – und Tschick, Russlanddeutscher, „Assi“, unbeliebtester Junge der Klasse. Beide sind 14 Jahre alt, und sie fahren mit einem geklauten Lada von Berlin aus los in die Walachei.
„Wenn man wegfährt, wär irgendwie gut, wenn man weiß, wohin.“
„Wir könnten meine Verwandtschaft besuchen. Ich hab einen Großvater in der Walachei.“
„Und wo wohnt der?“
„Wie, wo wohnt der? In der Walachei.“
„Hier in der Nähe oder was?“
„Was?“
„Irgendwo da draußen?“
„Nicht irgendwo da draußen, Mann. In der Walachei.“
„Das ist doch dasselbe.“
„Was ist dasselbe?“
„Irgendwo da draußen und Walachei, das ist dasselbe.“
„Versteh ich nicht.“
„Das ist nur ein Wort, Mann“, sagte ich und trank den Rest von meinem Bier. „Walachei ist nur ein Wort! So wie Dingenskirchen. Oder Jottwehdeh.“
„Meine Familie kommt von da.“
„Ich denk, du kommst aus Russland?“
[…]
„Jottwehdeh gibt’s nicht, Mann! Jottwehdeh heißt janz weit draußen. Und die Walachei gibt’s auch nicht. Wenn Du sagst, einer wohnt in der Walachei, dann heißt das: Er wohnt in der Pampa.“
„Und die Pampa gibt’s auch nicht?“
„Nein.“
„Aber mein Großvater wohnt da.“
„In der Pampa?“
„Du nervst, echt. Mein Großvater wohnt irgendwo am Arsch der Welt in einem Land, das Walachei heißt. Und da fahren wir morgen hin.“
Er war wieder ganz ernst geworden, und ich wurde auch ernst. „Ich kenn hundertfünfzig Länder der Welt mit Hauptstädten komplett“, sagte ich und nahm einen Schluck aus Tschicks Bierflasche. „Walachei gibt’s nicht.“
Ich muss gerade ein bisschen aufpassen, dass ich nicht zu viel abtippe, denn das ist alles ganz wunderbar. Mir haben es vor allem die Dialoge angetan, sie sind so komisch in ihrer Ernsthaftigkeit, wie überhaupt das ganze Buch voller komischer Verzweiflung ist. Auch abseits der Dialoge ist die Sprache des Ich-Erzählers Maik so schön plausibel (soweit ich das beurteilen kann, haha), ohne sich anzubiedern. Denn nichts ist schlimmer als gewollte Jugendsprache.
Maik und Tschick, der eigentlich Andrej Tschichatschow heißt, aber das kann keiner aussprechen, fahren also los in die Walachei, von der sie nicht wissen, wo sie ist. Erstmal Richtung Süden, aber wenn man 14 Jahre alt und mit einem geklauten Wagen unterwegs ist, dann meidet man die Autobahn zunächst und benutzt nur Feldwege und kleine Straßen, und kennt natürlich die ganzen Dörfer nicht, hat also keine Ahnung, ob man überhaupt noch in die richtige Richtung fährt. Macht aber nichts, Hauptsache unterwegs. Später trauen sie sich dann auch auf die Autobahn. Unterwegs passiert natürlich alles mögliche, die beiden treffen unterschiedlichste Menschen, die alle eins gemeinsam haben: sie sind wahnsinnig nett und gar nicht so böse, wie einem das immer beigebracht wird. Und das gefällt mir sehr, wir haben hier keineswegs eine heile Welt, aber trotz einiger Kaputtheit lauter großartige Menschen. Im Sinne von: menschlich. Mir egal, wenn das pathetisch klingt.
Insgesamt volle Punktzahl: spannende Story, großartige Sprache, tolle Figuren, alles richtig gemacht, super Buch. Kaufen, lesen.
Herrndorf steht im Regal zwischen Judith Hermann und Helmut Hertrampf.
Wolfgang Herrndorf: Tschick. Rowohlt Berlin, 256 Seiten, 16,95 €.
Yeah! Hier kommt mal wieder eine dicke Leseempfehlung.
Die Tatarin Rosalinda ist resolut und selbstgerecht. Oder sagen wir: despotisch bis zum Anschlag. Sie weiß, wo es langgeht, sie weiß, was sie will, sie weiß auch, wie sie es bekommt, und sie weiß natürlich, was für alle anderen gut und richtig ist. Und sie hat keinerlei Verständnis, wenn jemand anders womöglich etwas anderes will, denn schließlich will sie für alle nur das Beste. Zum Beispiel für ihre Tochter Sulfia.
Sulfia ist leider nicht nur dumm, sondern auch noch hässlich, und so kann Rosalinda sich gar nicht erklären, wie Sulfia plötzlich schwanger sein kann. Sulfia weiß es auch nicht, sie sagt, sie habe nur von einem Mann geträumt. Rosalinda weiß, dass so was vorkommt, und hält es auch für die plausibelste Erklärung, denn ein echter Mann würde Sulfia sicher nicht anrühren, so dumm und hässlich wie sie ist. Das Baby muss also weg, und so beginnt das Buch damit, dass allerlei Abtreibungsversuche schiefgehen und schließlich Aminat geboren wird (klar, dass Rosalinda den Namen bestimmt).
Aminat ist nun überraschenderweise klug und schön. Sie kommt eben nach ihrer Großmutter, nicht nach ihrer Mutter. Und natürlich kümmert Rosalinda sich um sie, denn Sulfia ist ja zu dumm dazu und weiß gar nicht, wie man ein Kind erzieht, und überhaupt ist Aminat schließlich Rosalindas Enkelin. Wir begleiten die Geschichte dieser drei Frauen über ungefähr 30 Jahre. 30 Jahre, in denen verschiedene Männer kommen und gehen, in denen sich politisch und damit im Alltag einiges verändert, und in denen Rosalinda ihre Tochter niedermacht und ihre Enkelin vergöttert, einerseits, sie andererseits aber natürlich ebenso rücksichtslos behandelt wie alle anderen auch. Kostprobe:
Ich packte auch in Sulfias Haushalt mit an, einer musste es ja tun. Ich räumte auf, in der Küche, im Flur, im Schlafzimmer auch. Ich saugte Staub, wischte die Böden und putzte die Toilette. Ich wollte nicht, dass Aminat im Dreck aufwuchs, zwischen den Darmbakterien ihres Stiefvaters auf der Klobrille und seinen Herpesviren an den benutzten Stofftaschentüchern, die er herumliegen ließ. Ich sammelte sie auf, suchte sie zwischen den Decken und Kissen im Ehebett zusammen, hob sie vom Boden unter der Couch auf, wusch sie in einer Schüssel, hängte sie zum Trocknen auf, bügelte sie anschließend. So auch mit der ganzen anderen Wäsche, die ich fand.
Sulfia war undankbar wie immer. Sie sagte nur: „Mutter, lass das bitte.“ Irgendwann schrie sie mich sogar an. Das war, nachdem ich ihren Schrank aufgeräumt hatte, Unterhosen, Büstenhalter und Strumpfhosen sortiert und gefaltet, die löchrigen herausgelegt und per Hand gestopft. Ich hatte das alles gemacht, obwohl ich in dieser Zeit lieber ferngesehen oder eine Zeitschrift gelesen hätte, und dafür schrie sie mich jetzt so laut an, dass Aminat in der Tür auftauchte und „Mama, spinnst du?“ fragte.
Was für ein Buch! Eine Tragikomödie, ebenso tragisch wie komisch, oder vielleicht eher: grotesk, und erstaunlicherweise muss man Rosalinda in ihrer ganzen Verbittertheit und Härte auch irgendwie ein bisschen mögen. Alle anderen möchte man manchmal gerne aufwecken und schütteln, damit sie zur Besinnung kommen und der Frau endlich mal Paroli bieten, aber jenun. So sind sie eben allesamt nicht gestrickt. Außer Aminat.
Auch sprachlich ist das alles irgendwie speziell – kurze, einfache Sätze, die eine sonderbar fremde Anmutung haben. Dabei ist gar nichts „falsch“ oder hat eine auffällige Grammatik oder so. Hervorragend gemacht, passt perfekt. Wirklich ein wundervolles Buch, mit sehr viel Humor und sehr viel Ironie. Dabei gibt es gar nichts zu Lachen. Total toll, und jetzt möchte ich sofort „Scherbenpark“ hinterherlesen.
Alina Bronsky kommt im Regal zwischen André Brink und Charlotte Brontë.
Alina Bronsky: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche. Kiepenheuer und Witsch, 317 Seiten, 18,95 €
Ich werde gerade hysterisch über das neue Buch von Jonathan Safran Foer, habe überhaupt keine Zeit, was drüber zu schreiben, und die Bilder darf man nicht klauen, aber GUCKT EUCH DAS AN, das ist ja unfassbar, UNFASSBAR, hier gibt es noch mehr Bilder, ich muss das sofort kaufen, es erscheint am Montag und kostet laut Amazon unfassbare 30,- €, das ist ja fast nichts, unfassbar, MEIN RIECHSALZ!
Und ich platze vor Neugier, wer es übersetzen wird, ob überhaupt, ob das überhaupt geht, bestimmt wird es versucht, und ich bin total gespannt, ob und wie das funktioniert. Und wer es macht. *hibbel*