Ernest van der Kwast (Andreas Ecke): Fünf Viertelstunden bis zum Meer

Neulich bekam ich überraschend eine Einladung vom mare-Verlag. „Oh“, sagte der lustige Mann, „für den berühmten mare-Abend?“ Er war durchaus neidisch, und ich hatte keine Ahnung, was „der berühmte mare-Abend“ überhaupt ist.
„Der berühmte mare-Abend“ ist eine Veranstaltung für Buchhändler und Journalisten. Und zu Recht berühmt! Zwei Autoren waren persönlich da und lasen jeweils ein kleines Stück aus ihren Büchern, nämlich Ulrike Draesner und Ernest van der Kwast. Außerdem war Axel Milberg da und las aus zwei anderen Büchern, zwei Übersetzungen. Programmleiterin Katja Scholtz stellte im Schnelldurchlauf vier weitere Bücher vor, und das machte sie dermaßen pointiert und kompetent und begeistert, dass man die Bücher sofort alle lesen wollte. Und auch noch alles mit Eins-A-Übersetzerwürdigung. Das Programm dauerte ca. eine Stunde, dann gab es guten Wein, gutes Essen, gute Gespräche, und am Ende bekam man noch eine Tüte mit ein paar Büchern und der Vorschau und einem mare-Magazin mit nach Hause und hatte einen wirklich schönen, informativen, anregenden und leckeren Abend.

KwastMeerUnd zu Hause habe ich dann gleich das Buch von Ernest van der Kwast gelesen. Der Autor hatte persönlich daraus vorgelesen, auf Deutsch, und er hat natürlich einen niederländischen Akzent. Rrrrrr. Außerdem war die Stelle, die er vorgelesen hat, so charmant, dass ich gleich weiterlesen wollte, da streiten sich nämlich Giovanna und ihre Schwester um den einzigen Badeanzug, den sie haben. Der Badeanzug zerreißt in der Mitte, und Giovanna geht folglich im Zweiteiler an den Strand. Und das im Jahr 1945 – ein Jahr, bevor der Bikini erfunden wurde – am Stiefelabsatz von Italien. Am Strand liegt der junge Ezio, sieht sie aus dem Meer steigen und ist bezaubert. Er fasst sich ein Herz, spricht sie an, macht ihr einen spontanen Heiratsantrag, den sie nicht beantwortet, und sie verbringen einen leidenschaftlichen Sommer miteinander. Als sie auf seinen zweiten Antrag auch nicht reagiert, geht Ezio vor lauter Kummer fort. Er geht so weit weg, wie es nur geht, bis nach Südtirol, und wird Apfelpflücker. Sechzig Jahre später bekommt er einen Brief von Giovanna.
Ein schmales Büchlein, 95 Seiten, und ach Gott, was ist das alles schön und traurig und anrührend, und dann möchte man die beiden zwischendurch schütteln, damit sie zur Besinnung kommen. Annemarie Stoltenberg schreibt, das sei „haarscharf am Kitsch entlang gesegelt“ und das stimmt, aber es ist eben dran entlang und nicht mittendrin, und hinterher ist einem ganz warm und man wird ganz melancholisch. So eine schöne Liebesgeschichte. (Und Plausibilität wird eh überschätzt.) Wer einfach mal etwas fürs Herz möchte: Hier bitteschön. Es ist einfach zu schön. Und übersetzt ist es von Andreas Ecke, der auch schon Gerbrand Bakker so wundervoll übersetzt hat und von dem ich bedenkenlos alles kaufen würde, weil er nämlich einen Ton treffen kann.

Ernest van der Kwast (Andreas Ecke): Fünf Viertelstunden bis zum Meer. mare, 95 Seiten, 18,00 €

Neuerscheinung: Jasper Fforde, Die letzte Drachentöterin

Es begab sich aber vor einer Zeit, genauer gesagt: vor viereinhalb Jahren, dass mich ein Lektor anrief, den ich flüchtig kannte. Er lese mein Blog, sagte er, und er habe da ein Buch zu übersetzen, von dem er meint, es müsse was für mich sein, es handle sich um ein Jugendbuch mit Zauberei und so. Mein lieber freundlicher Mensch, dachte ich, wenn Du mein Blog läsest, könntest Du wissen, dass Jugendbücher mit Zauberei ungefähr das letzte sind, was mich literarisch interessiert. Aber es war der Eichborn-Verlag, für den ich noch nicht gearbeitet hatte, und der nette Lektor, für den ich noch nicht gearbeitet, von dem ich aber nur Gutes gehört hatte, und es war Jasper Fforde. Also sagte ich: Schick mal, ich guck mal rein. Nicht glaubend, dass das wirklich was für mich sein könnte.

7a1821a42699626fUnd dann habe ich beim Übersetzen dauernd gelacht und mich gefreut und mich immer mehr für dieses Buch begeistert. Das ist eine wirklich tolle Geschichte, und wo besagter Lektor auf jeden Fall goldrichtig lag: Genau mein Humor. Es geht um Jennifer Strange, die die Zaubereiagentur Kazam leitet, in der die Zauberer auch alle wohnen. Die Zauberei geht insgesamt in unserer heutigen modernen Welt ja stark zurück, man braucht sie kaum noch, wir haben ja die moderne Technik, aber es ist auch so, dass die Kraft der Magie einfach insgesamt stark gesunken ist. Einstmals mächtige Zauberer können nur noch irgendwas, etwa eine Tüte Chips zum Platzen bringen, ohne sie anzufassen, aber das nutzt halt niemandem etwas. Oder: Es gibt bei Kazam zwei Leute, die Teppiche fliegen können. Das Luftfahrtministerium hat aber aus Sicherheitsgründen die Personenbeförderung mit Teppichen untersagt, sodass den beiden Teppichfliegern jetzt nichts anderes übrig bleibt, als Pizza auszuliefern.
Und so weiter. Ganz, ganz großer Spaß. Und ziemlich klug noch dazu.
Ich habe das also mit großer Begeisterung übersetzt, habe abgegeben, als eine der letzten noch Geld vom insolventen Verlag bekommen, und dann war Eichborn pleite. Und es dauerte und dauerte, bis sie schließlich von Lübbe übernommen wurden, und dann dauerte es nochmal, und jetzt, nicht mal vier Jahre nachdem ich abgegeben habe, ist es also endlich da, beim Lübbe-Jugendbuchableger „one“.
Warnung: Es handelt sich um den ersten Band einer Trilogie. Da kommt also noch was nach. (Allerdings nicht von mir übersetzt.)

Jasper Fforde: Die letzte Drachentöterin. Lübbe one, 252 Seiten, 14,99 €.
Als E-Book 11,99 €.

Neuerscheinung: Jonathan Evison, „Umweg nach Hause“

9783462046595Inzwischen habe ich knapp 50 Bücher übersetzt, und ich gestehe: ich habe durchaus nicht alle meine Kinder gleich lieb. Ich würde auch keine Top-Three vergeben wollen, aber dieses hier nimmt eindeutig einen der Spitzenplätze ein. Was für ein Buch! Wahnsinnig tragisch und genauso komisch, derb und berührend, man lacht und man schluckt. Und bevor ich jetzt vollends unsachlich werde, lasse ich lieber Jonathan Evison selbst etwas über die Hintergründe zu diesem Roman berichten (von mir übersetzt, gebloggt mit freundlicher Genehmigung von KiWi).

Liebe Leute, kauft dieses Buch, lest es, verschenkt es, verleiht es, bringt es unters Volk.
Übrigens wird es auch gerade prominent verfilmt. Ich hoffe, es wird ein großer Erfolg; nicht, weil ich dann reich würde, sondern weil es so toll ist.


Jonathan Evison: Lücken schließen

An dem Wochenende, als meine Schwester sechzehn wurde, fuhr sie mit ein paar Freunden nach Lucerne Valley in der Mojavewüste. In den zwei Wochen davor war diese Fahrt bei uns zu Hause Tischgespräch gewesen. Mein Vater war der Meinung, sie sei doch ein vernünftiges Kind, habe gute Noten, füttere ihre Haustiere zuverlässig und sei immer pünktlich zu Hause, also könne man ihr die Reise wohl erlauben. Meine Mutter hielt das für keine gute Idee. Sie traute den anderen Jugendlichen nicht. Sie waren eine wilde Meute.
Meine Schwester machte die Reise. Sie kehrte nicht zurück. Sie kam bei einem grauenvollen Autounfall ums Leben, als sie gerade sechzehn wurde. Der Unfall, dessen genauer Hergang nie zufriedenstellend geklärt wurde, zerriss unsere Familie. Meine Eltern ließen sich nach fünfundzwanzig Jahren Ehe scheiden. Ich verlor meine wichtigste Bezugsperson. Mein ältester Bruder hat zwei Jahre lang fürchterlich gelitten, und es hat ihn grundlegend verändert. Meine Familie spürt den Schock bis heute. Ich habe immer noch eine schwesterförmige Lücke im Herzen. Nach ein paar Bier lamentiert mein Bruder heute noch darüber, dass er ihr noch sieben Dollar schuldete, als der Unfall passierte. Die sieben Dollar waren ein Streitpunkt gewesen, der irgendwie mit dem Verkauf eines Zehn-Gang-Rads zusammenhing. Sie stritten sich heftig über das Geld, bis zu dem Tag, an dem sie losfuhr. Mein Bruder ist jetzt siebenundfünfzig und versucht immer noch, seine Schuld zu begleichen.
Es gibt Lücken in unserem Leben, die nicht geschlossen werden können – nicht vollständig, niemals. Aber wir haben keine andere Wahl, als es zu versuchen. Wir müssen weitermachen, im Angesicht schrecklicher Verluste, vernichtender Schuldgefühle und überwältigender Hoffnungslosigkeit. Aufgeben wäre der Tod. Mit dieser Einstellung lebe ich, seit ich fünf Jahre alt bin.
Ben Benjamin ist eine Figur, die wirklich alles verloren hat – seine Frau, seine Familie, sein Zuhause, seinen Lebensunterhalt. Gebrochen, pleite, vernichtet und ohne jede Hoffnung, nur noch ein Schatten seiner selbst. Fast zehn Jahre lang war er Hausmann und Vater, die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt sind an ihm vorbeigegangen. Ben hat nicht viele Möglichkeiten und besucht einen Abendkurs über 28 Stunden mit dem Titel „Grundlagen der häuslichen Pflege“. Im überheizten Keller der Abundant Life Foursquare Church lernt er, wie man Katheter einführt, ohne sich strafbar zu machen. Er lernt, wie man sich professionell verhält, Grenzen zieht und einhält und wie man physischen und psychischen Abstand zum Patienten wahrt. Er lernt, dass häusliche Pflege auch nur ein Job ist.
Aber als er die Pflege des tyrannischen neunzehnjährigen Trev übernimmt, der unter einer fortgeschrittenen Muskeldystrophie vom Typ Duchenne leidet, stellt er fest, dass die zahllosen Eselsbrücken und Checklisten aus dem Kurs ihn nicht wirklich darauf vorbereitet haben, sich um einen sturen, verängstigten, sexuell frustrierten Heranwachsenden zu kümmern, der mit der gesamten Welt hadert.
Als ich anfing, diesen Roman zu schreiben, habe ich mir keine Roadstory vorgestellt. Ich wollte nie eine Roadstory schreiben – ich habe mich sogar gegen die Idee gesträubt. Aber die Figuren haben mich auf die Straße geschickt. Sie ließen mir keine Wahl, sie haben mich strampelnd und schreiend auf die Straße gezerrt. Es kam mir vor, als würden Ben und Trev ewig in Bens Van herumfahren, aber nie irgendwo ankommen. Sie steckten beide fest. Der Van musste sie irgendwo hinbringen. Und mich auch, nehme ich an. Denn das hat der Roman getan. Umweg nach Hause ist eine Geschichte des vollständigen Zusammenbruchs und schließlich der Wiederherstellung. Die desaströse Reise wird am Ende durch fünf Bundesstaaten geführt haben und eine Geburt, zwei Festnahmen, einen Moment des Kannibalismus, einen Sandsturm, einen Hagelsturm, mehrere Shitstorms und ein sechshundert Meilen währendes Katz-und-Maus-Spiel mit einem mysteriösen Skylark beinhalten.
Gepäck wird mitgenommen.
Herzen werden gewonnen und verloren.
Fehler werden verziehen.
Zukünfte werden begonnen.
Dieses Buch war eine emotionale Katharsis für seinen Autor. Ich habe es geschrieben, weil ich musste. Weil meine Schwester sich vor neununddreißig Jahren auf die Reise gemacht hat und nicht zurückgekommen ist. Und weil meine Familie immer noch nicht geheilt ist. Der Roman handelt von der Notwendigkeit, sich in diesen Van zu setzen, weil man keine andere Wahl hat, als sich einen Ruck zu geben und weiterzufahren, trotz aller grauenhaften Überraschungen immer weiterzufahren. Es geht um die Menschen und die Dinge, die man auf dem Weg zurück ins Menschsein einsammelt. Und am Ende ist Umweg nach Hause für mich der Van, in dem ich meine Schwester endlich nach Hause bringe.

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Jonathan Evison: Umweg nach Hause. Kiepenheuer und Witsch, 384 Seiten, 19,99 €
Auch als E-Book, 17,99 € (Affiliate-Links zur Buchhandlung Osiander)

Preis der Leipziger Buchmesse

Hier sind die Nominierungen für den Preis der Leipziger Buchmesse:

Kategorie Belletristik:

Ursula Ackrill: „Zeiden, im Januar“ (Verlag Klaus Wagenbach)
Teresa Präauer: „Johnny und Jean“ (Wallstein Verlag)
Norbert Scheuer: „Die Sprache der Vögel“ (Verlag C.H. Beck)
Jan Wagner: „Regentonnenvariationen“ (Hanser Berlin)
Michael Wildenhain: „Das Lächeln der Alligatoren“ (Klett-Cotta Verlag)

Kategorie Sachbuch/Essayistik:

Philipp Felsch: „Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990″ (Verlag C.H. Beck)
Karl-Heinz Göttert: „Mythos Redemacht. Eine andere Geschichte der Rhetorik“ (S. Fischer Verlag)
Reiner Stach: „Kafka. Die frühen Jahre“ (S. Fischer Verlag)
Philipp Ther: „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa“ (Suhrkamp Verlag)
Joseph Vogl: „Der Souveränitätseffekt“ (diaphanes)

Kategorie Übersetzung:

Klaus Binder übersetzte aus dem Lateinischen:
Lukrez: „Über die Natur der Dinge“ (Verlag Galiani Berlin)

Elisabeth Edl übersetzte aus dem Französischen:
Patrick Modiano: „Gräser der Nacht“ (Carl Hanser Verlag)

Moshe Kahn übersetzte aus dem Italienischen:
Stefano D´Arrigo: „Horcynus Orca“ (S. Fischer Verlag)

Mirjam Pressler übersetzte aus dem Hebräischen:
Amos Oz: „Judas“ (Suhrkamp Verlag)

Thomas Steinfeld übersetzte aus dem Schwedischen:
Selma Lagerlöf: „Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden“ (Die Andere Bibliothek)

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Davon habe ich gelesen: Nichts. So geht das nicht weiter! Und Ihr so?

Mehr dazu hier.

Tausend Tode schreiben

tumblr_nfumi3H33I1snbv2io1_1280„‘Tausend Tode schreiben (Version 1/4)’ ist die erste Fassung eines groß angelegten Projekts. Die Idee ist, dass tausend Autoren tausend kurze Texte über den Tod schreiben: Persönliche Begegnungen, wissenschaftliche Betrachtungen, Fiktion. Diese vielfältigen Texte sollen zusammenwirken als ein transpersonaler Text, der – so die Annahme – einiges über das aktuelle Bild des Todes in unserer Gesellschaft verraten wird.

‘Tausend Tode schreiben’ ist ein work in progress. Die jetzt vorliegende Version 1/4 versammelt 135 Texte. Zwei weitere Versionen folgen am 16.1.2015 (2/4) und 16.2.2015 (3/4), die endgültige und vollständige Fassung (4/4) erscheint am 13.3.2015 zur Leipziger Buchmesse. Käufer*innen älterer Versionen bekommen die jeweils neuen gratis.“

Was für ein unfassbares Wahnsinnsprojekt: Tausend Autorinnen und Autoren schreiben tausend Tode. Und weil einer davon von mir ist, weiß ich, dass Verlegerin Christiane Frohmann trotzdem immer noch supernette Mails schreibt und das alles gut im Griff zu haben scheint. TAUSEND Autoren! TAUSEND Texte! Vollkommen irrwitzig. Ich habe noch nicht alle gelesen, kann aber schon sagen, dass das eine wirklich großartige Textsammlung geworden ist. Viel sehr Berührendes dabei. Stefan Mesch hat etwas ausführlicher drüber geschrieben.

Die Erlöse – Autoren- und Herausgeberanteil – werden komplett einem Berliner Kinderhospitz gespendet. Also geht hin und kauft dieses E-Book, es kostet 4,99 €, die sind so oder so gut angelegt, auch wenn der Tod nicht Euer Lieblingsthema ist. Kann man gut bei minimore kaufen, aber auch in anderen E-Book-Shops, die hier aufgelistet sind.

L‘chaim! Auf das Leben.

(Und falls noch jemand etwas beisteuern möchte: Das geht auch noch.)

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