Alexander Posch: Sie nennen es Nichtstun

PoschNichtstunAlexander Poschs namenloser Protagonist ist Hausmann und Vater, bzw. „Herr über drei Kinder“. Seine Frau arbeitet als Ornithologin und schafft das Geld ran, was zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer noch eine erstaunlich ungewöhnliche Konstellation ist. Der Erzähler hadert aber erfreulicherweise gar nicht so sehr mit seiner Männerrolle, sondern vielmehr mit genau dem, womit Generationen von Frauen auch schon gehadert haben: mit der Frage „War’s das jetzt?“ Er ist zu Hause bei den Kindern, hat abends nicht unbedingt das Gefühl, irgendwas „geschafft“ zu haben, aufräumen oder sowas, und seine Frau fragt ihn, was er eigentlich den ganzen Tag gemacht hat. Also quasi wie im wirklichen Leben.
Es passiert auch nicht untendrunter noch eine große Geschichte im Sinne eines Handlungsverlaufs, sondern das Leben geht eben so vor sich hin. Eine alte Nachbarin stirbt, der Getränkehändler ist ein komischer Typ, und zwischendurch ruft der alte Freund Henni an und man trinkt zusammen ein Bier. Und bei all dem philosophiert der Erzähler mit einer dermaßen tragikomischen Verzweiflung vor sich hin, dass es einem ganz weich ums Herz wird. Dabei hat er manchmal ganz große Gedanken, manchmal ganz kleine, und manchmal denkt er einfach kompletten Unsinn, wie man eben so vor sich hindenkt. Frau und Kinder sind dabei eigentlich eher Staffage, er hat sie gern, natürlich, aber in diesem Buch geht es nicht um sie. Was mich am Anfang etwas irritiert hat, aber dann habe ich es verstanden und war plötzlich mit dem Protagonisten zusammen ganz komisch-verzweifelt. Ein wundervolles Buch. Kostprobe:

Was wollte ich doch besorgen, überlege ich, während ich noch die Beklemmung abzuschütteln versuche. Mein innerlich leerer Blick wendet sich nach außen, wo mir ein Kondomautomat auffällt. Er hängt „Bei Kurt“ an der Außenwand. Daneben ein Kaugummiautomat wie in meiner Kindheit. Lächelnd steige ich vom Rad. Bunte Kugeln oder Kondome? Ich schaue auf den Einkaufszettel. Nichts davon steht auf der Liste. Kurt heißt auch nicht Kurt, überlege ich weiter. Auch mein Freund Henni ist in Wirklichkeit nicht Henni. In seinem Pass steht Andreas. Ich bin gegen ausgedachte Namen. Ich bin gegen die Idee, dass man sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Ich schließe das Rad an. Es heißt Melencolia II. Tote Materie darf man benennen. Melencolia I und II sind die Titel von zwei Dürerwerken. Das erste Rad haben sie mir geklaut. Warum Dürer? Warum nicht Dürer, habe ich mir gedacht.

Alexander Posch liest bei unserer Tirili-Lesung am 24. April, das wird natürlich super. Und zu Hause bekommt er einen Regalplatz zwischen Katerina Poladjan und John Preston.

Alexander Posch: Sie nennen es Nichtstun. LangenMüller, 184 Seiten, 17,99 €
Und als E-Book, ACHTUNG: 2,99 €. (Ehrlich gesagt, das finde ich beknackt. Was soll das? Den Kunden das Gefühl geben, bei einem Buch würde man ansonsten fürs Papier bezahlen? Aber gut für Euch jetzt, wenn Ihr es quasi geschenkt bekommt.)

Simone Buchholz: Bullenpeitsche

BuchholzBullenpeitsche.jpg.30516276Jahaa, da guckt ihr: Ich habe einen Krimi gelesen! Ich! Krimi! Ich bin ja sonst entsetzlich eingefahren in meinen Lesegewohnheiten, und Krimis gehören einfach nicht dazu. Aber Regeln/Ausnahmen, und ein guter Grund für eine Ausnahme ist, wenn ich die Autorin zufällig in einem Taxi kennenlerne. Was ich sowieso super finde, denn „wir kennen uns aus einem Taxi“ kann man auch nicht über jede Bekanntschaft behaupten. Und das kam so:
Auf der Frankfurter Buchmesse verließ ich abends eine Party und wollte mir ein Taxi suchen. Vor mir gingen zwei Leute, ein Mann und eine Frau, und ich fragte sie, ob sie wüssten, wo hier ein Taxistand sei. Also gingen wir die paar Meter zusammen, und am Taxistand sagte der Mann, er müsse nach Unterursel, und die Frau, sie müsse auf die Zeil. Ich sagte, ich müsse über die Zeil hinweg noch ein kleines bisschen weiter, und ob wir zusammen fahren wollten. Wir setzten uns also ins Taxi, fragten den Fahrer zur Sicherheit noch mal, ob das wirklich eine gute Idee ist, und stellten uns dann erst einander vor. Hallo, ich bin Simone; hallo, ich bin Isa. Innerhalb von drei Minuten wussten wir, dass wir beide aus Hamburg kommen, dass sie Krimis schreibt und ich Bücher übersetze, und wir dachten beide, dass wir den Namen der anderen schon mal irgendwo gehört hätten.
Am nächsten Tag auf der Messe bekam ich eine SMS, ihr sei eingefallen, woher sie mich kennt, nämlich von Karen Köhler, mit der sie befreundet ist, und die kurz drauf bei unserer Herbstlesung las. Wo ich dann auch Simone wiedersah. Und so weiter. Und deshalb habe ich jetzt also einen Krimi gelesen, und: Hat Spaß gemacht! Man sollte doch wirklich gelegentlich mal über den Tellerrand gucken.
„Bullenpeitsche“ ist der aktuelle Band aus der Reihe um die Staatsanwältin Chastity Riley. (Ich nehme an, der Name wird in einem der früheren Bände erklärt.) Chastity ist eine irgendwie sperrige Person, ein bisschen kaputt, voller Selbstzweifel, einerseits einsam, aber voller Bindungsängste, und mit einem starken Gerechtigkeitsgefühl. Sie weiß sehr gut, auf wen sie sich verlassen kann – und das sind nicht immer die offensichtlichsten Personen.
Am Anfang geschieht ein doppelter Polizistenmord in den eleganten Elbvororten. Und am Ende – und das gefällt mir besonders gut – ist nicht etwa der Mörder gefunden und alles gut. Sondern am Ende ist klar, dass dahinter ein Geflecht aus Korruption, Männerbünden und mafiösen Strukturen steht, gegen die man einfach permanent weiter ankämpfen muss. Es gibt keine schnelle Lösung, nicht den einen Verbrecher, der für das eine Verbrechen geschnappt wird. Allerdings gibt es doch den einen großen Oberverbrecher, aber über den verrate ich jetzt nichts.
Und dann gefällt mir die Sprache – sehr eigen, sehr umgangssprachlich, unverwechselbar, sehr St. Pauli. Denn in den Elbvororten sind wir nur am Anfang kurz, ansonsten spielt es im Herzen der Stadt, mit dem Sound der Straße. Und das ist ja sowieso mein Lieblingsgrund, Bücher zu lesen: wenn sie eine eigene Sprache haben. Könnt glatt noch einen hinterherlesen. Hier, echter Krimitipp! Lest Simone Buchholz!

Simone Buchholz bekommt einen Regalplatz zwischen Lothar Günther Buchheim und Nadja Budde.

Simone Buchholz: Bullenpeitsche. Droemer, 12,99 €
E-Book 10,99 €.

Anderswo

Thema Literatur, Wörter usw:

„Wir zahlen ein weit überdurchschnittliches Honorar von 40% des Verkaufserlöses“ für Literaturübersetzungen, schreibt der Luzifer-Verlag. 40% sind in der Tat eine weit überdurchschnittliche Umsatzbeteiligung. Allerdings bekommt mal als Übersetzer üblicherweise erstmal ein Seitenhonorar; um die Beteiligung geht es erst später. Denn was nutzt mir die tollste Beteiligung, wenn der Verlag dann nur 20 Exemplare verkauft? Das ist dann sicher kein „weit überdurchschnittliches Honorar“. Ein überdurchschnittliches Honorar ist alles, was mehr als 20,- €/Normseite sind. Das mit dem Verkauf und der Umsatzbeteiligung kommt dann erst später.
Aber, ach so, sie wollen eh keine „Profis“ (in Anführungszeichen), weil sie „keine Bedienungsanleitungen“ übersetzen. Ähm, ja nee, klar. Dann macht Ihr mal.

Echte Übersetzungsprofis wissen übrigens verblüffende Dinge. Zum Beispiel wie man in zehn Sprachen niest. Gesundheit!

Dorian Steinhoff hat in der JVA Schwerte einen Slam-Workshop gegeben. Sehr, sehr lesenswert.

Schon mal vormerken: Am 22. März ist wieder Indiebookday! Ich schreibe sicher kurz vorher noch mal etwas darüber, jetzt nur kurz: es geht darum, in eine (vorzugsweise unabhängige) Buchhandlung zu gehen und ein Buch aus einem unabhängigen Kleinverlag zu kaufen. Und dann ein Bild von diesem Buch oder von sich selbst mit dem Buch in den sozialen Netzwerken zu posten, im Blog, auf Twitter, Facebook, Instagram, was weiß ich. Wer nicht weiß, was ein unabhängiger Kleinverlag ist, Wibke Ladwig hat da was vorbeitet.

Julian Barnes und ein paar andere Autoren erklären, what made them a writer.
Und Megan Mcardle erklärt, warum Autoren die schlimmsten Prokrastinatoren sind. Wir waren einfach zu gut in Englisch. Oder halt Deutsch. Janee, logisch.
 
 
Thema Besser ist das:

Forscher versuchen jetzt, die Müllteppiche in den Meeren zu kartieren. Eine undankbare Aufgabe.

Noch mehr Plastik ist in Zahnpasta, Duschgel und ähnlichem. Vom BUND gibt es jetzt eine Liste der Produkte, die Mikroplastik enthalten. Dummerweise steht die Zahnpasta, die ich seit Jahren benutze, auch drauf. Und Zahnpasta umgewöhnen ist irgendwie immer doof.

Und hier: Vier Millionen Kilo Müll, nur aus Kaffeekapseln. Das muss man sich mal auf der Zunge, oder besser: im Hirn zergehen lassen: Vier. Millionen. Kilo. Komplett sinnlos, einfach nur so, because we can. Tendenz steigend. Und das nicht etwa, weil es keine anderen Möglichkeiten gäbe, Kaffee zu kochen. Sowas macht mich richtig wütend, warum denken Leute sich so einen bescheuerten Unsinn aus, und warum kaufen so unfassbar viele Leute den bescheuerten Unsinn dann auch noch?

Smilla Dankert mal wieder: Discover the I in „girl“. Es gibt so tolle Leute da draußen.

Im Kopenhagener Zoo wurde eine Giraffe geschlachtet und an die Löwen verfüttert. Es gab einen unfassbaren Aufschrei, die Beteiligten wurden bedroht, beschimpft, bespuckt.
Hallo? Löwen fressen keine Tofuburger, Löwen fressen Fleisch. Hätten sie die Giraffe nicht bekommen, dann hätten sie Schwein, Rind oder Pferd bekommen, wo ist der Unterschied? Die Giraffe musste sowieso weg. Und in freier Wildbahn wäre ihr Tod deutlich unangenehmer gewesen.
Möcht mal erleben, dass es beispielsweise wegen der Millionen männlicher Legehennenküken so einen Aufschrei gäbe. Hier ist ein vernünftiger Kommentar von Heiko Werning in der taz.

Angelika Klüssendorf: April

KluessendorfAprilVor knapp zwei Jahren war ich schwer beeindruckt von Angelika Klüssendorfs Das Mädchen. Darin beschrieb sie eine durch und durch beschissene Kindheit voller Gewalt und Grausamkeiten.
In diesem Roman ist das namenlose „Mädchen“ nun erwachsen geworden und nennt sich April. April ist, wie es im Klappentext so schön formuliert ist, „nach einer Jugend ohne Jugend auf dem Weg in ein eigenes Leben – das den Umständen abgetrotzt werden muss.“ Das trifft es sehr gut.
Nach einer so harten Kindheit kommt nicht im jungen Erwachsenenalter plötzlich der Prinz auf dem weißen Pferd und erlöst das Mädchen. April kämpft vielmehr ständig mit ihrer Vergangenheit und ihren Dämonen. Sie ist unsicher, verführbar, schwach und stark zugleich oder abwechselnd. Sie hat weiterhin häufig wechselnde Bezugspersonen, und sie bemüht sich weiterhin um Kontinuität, um ein geregeltes Leben, um Sicherheit. Manchmal klappt es für eine Weile, manchmal scheitert sie; manchmal lässt sie das Leben einfach geschehen, manchmal nimmt sie es in die Hand. Und dann wieder von vorn. Und sie stellt fest, wie grässlich schwer es ihr fällt, einfach glücklich zu sein. Manchmal ist sie es, und sobald sie das merkt, kommt ihre Wut wieder hoch, ein harter Knoten unterhalb der letzten Rippe, der manchmal aufplatzt und spitze, rote Pfeile verschießt, und dann bekommt sie diese Wutanfälle, die sie sich selbst nicht erklären kann, und die alles kaputtmachen. Wo Glück lauert, lauert immer auch der Wunsch nach Destruktion.
„April“ ist deutlich weniger hart und deutlich hoffnungsvoller als „Das Mädchen“. Aber es berührt einen genauso. Und zwar gerade deswegen, weil die Sprache extrem nüchtern und lakonisch ist, und vielleicht auch deswegen, weil keine wirkliche Geschichte erzählt wird. Es gibt keinen Spannungsbogen mit Anfang, Mittelteil und Ende, sondern wir begleiten einfach ein Stück Leben. Ein beschissenes Leben, das langsam, ganz langsam ein wenig besser wird. Inklusive einiger Rückschläge.
„April“ erscheint diese Woche. Es funktioniert für sich allein wunderbar, aber ich empfehle „Das Mädchen“ ausdrücklich auch dazu. Und jetzt gehe ich mal gucken, was Angelika Klüssendorf sonst noch so geschrieben hat. Ganz große Leseempfehlung!

Angelika Klüssendorf wohnt im Regal zwischen Alexander Kluge und Harriet Köhler.

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Angelika Klüssendorf liest morgen, am Mittwoch (12.02.) im Hamburger Literaturhaus, und ich verlose hier zwei mal zwei Karten. Schreibt mir einen Buchtipp in die Kommentare (hahahaha! Als hätte ich nicht sowieso tausend Bücher auf dem Stapel!), wenn Ihr zwei Karten gewinnen wollt, heute Abend gegen 24:00 Uhr wird dann ausgelost.

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Angelika Klüssendorf: April. Kiepenheuer und Witsch, 219 Seiten, 18,99 € (Partnerlink zur Buchhandlung Osiander)

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