Da sind die Nominierungen für den Preis der Leipziger Buchmesse! Nämlich
in der Belletristik:
Per Leo: Flut und Boden. Roman einer Familie
Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther
Fabian Hischmann: Am Ende schmeißen wir mit Gold
Martin Mosebach: Das Blutbuchenfest
Saša Stanišić: Vor dem Fest
Bei den Übersetzungen:
Paul Berf mit Karl Ove Knausgård (Norwegisch): Spielen
Robin Detje mit William T. Vollmann (Englisch): Europe Central
Ursula Gräfe mit Haruki Murakami (Japanisch): Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Hinrich Schmidt-Henkel mit Denis Diderot (Französisch): Jacques der Fatalist und sein Herr
Ernest Wichner mit Varujan Vosganian (Rumänisch): Buch des Flüsterns
Im Sachbuch:
Diedrich Diederichsen: Über Pop-Musik
Jürgen Kaube: Max Weber: Ein Leben zwischen den Epochen
Helmut Lethen: Der Schatten des Fotografen
Barbara Vinken: Angezogen: Das Geheimnis der Mode
Willemsen, Roger: Das Hohe Haus: Ein Jahr im Parlament
Das klingt natürlich mal wieder alles spannend. Allerdings: In allen drei Kategorien sind vier Männer und eine Frau nominiert. Irrer Zufall.
Jens ist vierzehn Jahre alt und darf zum letzten Mal mit ins Ferienlager „Schneckenmühle“. Dort werden Freundschaften geschlossen, Nachtwanderungen gemacht, Tischtennis und Skat gespielt, Sprüche geklopft, nachts wird zu den Mädchen rübergeschlichen und allgemein wird das Coolsein geübt. Und das Erwachsenwerden. Der erste Alkohol wird getrunken, und Jens lernt im Laufe des Ferienlagers endlich, Karten zu mischen. Nur Tanzen in der abendlichen Disko, das ginge dann doch zu weit, Tanzen kann er nicht, das hat er nie gelernt, er weigert sich auch, es zu versuchen, gleichzeitig würde er aber gern. Jens fragt sich, woher die anderen das alle können. Es ist 1989, der letzte Sommer der DDR.
Und da habe ich dann wohl einiges an Anspielungen nicht verstanden, glaube ich. Wohin verschwinden die beiden Leiter? „Rübergemacht“? Oder was? Habe ich nicht verstanden. Aber vielleicht ist es auch gar nicht zu verstehen, vielleicht erfährt man es auch dann nicht, wenn man die Verhältnisse besser kennt. Und das Ende habe ich auch nicht verstanden – aber das macht rein gar nichts, denn bis dahin ist das alles ganz und gar wundervoll.
Es wird keine große Geschichte erzählt. Eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen ist im Ferienlager, das reicht. Aber die Art und Weise, wie dieses Ferienlager und die unterschiedlichen Typen darin beschrieben werden, macht einfach ganz großen Spaß. Die coolen Sprüche der 14jährigen Jungs, ihre Lebensweisheiten, ihr irgendwo aufgeschnapptes und nachgeplappertes Weltwissen; das alles führt über Gedankensprünge und Assoziationsketten und Durcheinanderreden zu wahnsinnig komischen Gesprächen.
„Vielleicht ist er ja zu den Partisanen gegangen? Warum hat er das mit den Fallschirmspringern erzählt?“
„Partisanen gibt’s doch gar nicht mehr. Es gibt doch keinen Faschismus.“
„Der ist bestimmt rüber“, sagt Holger.
„Rüber? Wie denn?“
„Na, über Ungarn.“
„Und die Mauer?“
„Was denn für ne Mauer?“
„Na, in Budapest, das ist doch die Hauptstadt von Ungarn.“
„In jeder Hauptstadt ist doch nicht ’ne Mauer.“
„In Ungarn gibt’s Danone-Joghurt“, sagt Dennis.
„Und Schweppes.“
„Quatsch, Ungarn ist doch sozialistisch.“
„Trotzdem gibt’s da Danone. Da sind unten Früchte drinne, zum Umrühren.“
„Wieso muss man den denn unrühren?“
„Ist doch toll.“
„Aber warum muss man das selber machen?“
„Mein Vater hat solchen Zweikomponenten-Kleber, den rührt man auch selber zusammen, das hält dann ewig.“
„Aber Joghurt ist doch nicht zum Kleben.“
„Die werden sich schon was dabei gedacht haben.“
Sowas macht mich froh. Ehrlich jetzt, genau so laufen solche Gespräche doch, und ich finde das unglaublich komisch. Überhaupt hat Jochen Schmidt einen sehr genauen Blick auf die Komik im Alltag dieser Ferienlagerkinder, aber er denunziert sie dabei nicht eine Sekunde lang, er macht sich nie über sie lustig, sondern nimmt seine Helden immer ernst. Und das macht dieses Buch so charmant und wundervoll.
Jochen Schmidt bekommt einen Regalplatz zwischen Harald Schmidt und Kathrin Schmidt.
NACHTRAG: Stefan Möller mochte es auch und hat die Anspielungen auch verstanden. Und viel eloquenter drüber geschrieben als ich.
Jochen Schmidt: Schneckenmühle. C.H.Beck, 220 Seiten, 17,95 €.
E-Book 13,99 €.
(Partnerlinks zur Buchhandlung Osiander. Wenn Ihr es dort kauft, werde ich unfassbar reich.)
Herbert liest kennt Ihr, ne? Ich gucke das immer gerne, Herbert hat immer sehr persönliche und enthusiastische Buchempfehlungen, sodass man das alles gleich selbst lesen möchte. Außerdem geht er in andererleuts Wohnungen und analysiert deren Bücherregale, das finde ich auch immer super. Ich gucke den Leuten sowieso immer gern in die Wohnung (und überlege dann, ob ich Herbert an unser Regal einladen soll, oder ob er mir dann eine Zwangsneurose diagnostiziert). Bücherregal und Arbeitszimmer von Annika Reich sind zum Beispiel sensationell, ich habe ihr Buch, das hier seit ewig auf dem Stapel liegt, mal wieder nach oben geholt. Ist dann demnächst endlich dran.
Und jetzt guckt! Alles! Und vor allem ab Minute 13:20!
Danke für die „junge Autorin“, Herbert! Hihi. Und überhaupt: danke!
Und, hast Du was gemacht?
Ihr erinnert Euch an Zhu Yingchun, Chinas berühmtesten Buchdesigner? Sein schönstes Buch hatte ich im November nicht bekommen. Beziehungsweise den Moment verpasst, in dem ich noch danach hätte fragen können. Daraufhin habe ich dem besten Jan von allen ein bisschen Geld dagelassen, und er hat das Buch später für mich gekauft. Dummerweise war Zhu Yingchun an dem Tag nicht da, sodass Yan extra noch einmal hingegangen ist, um es mir auch noch signieren zu lassen. Ich freu mich wirklich sehr, das ist ein wunderschönes Buch, tolles Papier, tolle Zeichnungen, und es gibt nur tausend Stück davon, ich zähle das also jetzt zu meiner Altersvorsorge. Und dann war noch ein Kalender für 2014 dabei, ein Geschenk von Herrn Zhu. Vielen Dank dafür! Und danke, Yan! Du hast was gut, weißt Du ja.
Die Bilder sind nicht total unterbelichtet (okay, es sind schlechte Bilder, ich kann es halt nicht). Hier wird ein Tag am See gezeigt; die Doppelseiten sehen alle fast gleich aus, aber die ersten Seiten sind noch fast schwarz, dann wird es heller, schließlich ganz hell, und dann wieder dunkel. Die meisten Seiten haben also irgendeine Schattierung von Grau. Es verändern sich nur Kleinigkeiten: Aus dem Schilfgras fliegen Vögel weg, eine Spinne spinnt ein Netz, das Boot dreht sich ganz langsam, ein paar Enten schwimmen vorbei. Sehr schön, sehr beruhigend, sehr entschleunigt.
Nunu Kaller war schon halb auf dem Weg in die Shoppingsucht. Zumindest war sie so weit, dass sie sich damit selbst auf die Nerven ging, und so hat sie sich ein Jahr Auszeit verordnet: sie hat beschlossen, ein Jahr lang keine Klamotten zu kaufen. Ihr kluger Freund hat sie außerdem ermuntert, sich in dieser Zeit mit den Herstellungsbedingungen konventionell produzierter Kleidung zu beschäftigen. Über dieses Jahr hat sie ein Blog geführt, und daraus ist nun dieses Buch entstanden.
Ehrlich gesagt: als KiWi die Werbung da rechts gebucht hat, dachte ich, nun ja, so ein Blogger-Selbsterfahrungsbuch, ich sehe ein, dass sie das für meinen Werbeplatz ausgesucht haben, aber muss ich das wirklich lesen? Shoppingsucht hatte ich nie (im Gegenteil, ich hasse Shoppen, schon immer. Wohl liebe ich neue Kleider!), und mit den Abgründen der Textilindustrie habe ich mich sowieso schon immer wieder beschäftigt. In sofern passt es hier natürlich auch hin, und natürlich habe ich reingelesen.
Und dann fand ich es so charmant geschrieben, dass ich Nunu Kaller spontan auf Facebook kontaktiert und ihr die Blogwerbung gezeigt habe. Was soll ich sagen – wir haben ein bisschen gechattet und uns gleich gemocht (doch, das geht nach ein paar Zeilen), und dann habe ich das Buch in zwei oder drei Rutschen durchgelesen. Weil es wirklich Spaß macht und oft so schön selbstironisch ist. Dass ich es so zügig weggelesen habe, kann allerdings auch daher kommen, dass ich dauernd das Gefühl hatte, das auch schon alles selbst gedacht zu haben. Mit Ausnahme der Shoppingsucht und des erklärten Verzichts, aber ansonsten passierte uns ungefähr das gleiche: je mehr ich über die Zustände in der Textilindustrie wusste, desto weniger wollte ich an diesem System teilnehmen. Erst piepst nur irgendwas im Kopf leise „eigentlich sollte man das nicht kaufen“, aber dann kommt das Gefühl irgendwann nach und sagt sehr entschieden: Nein. Man will dann gar nicht mehr.
Oder die Szene „ich will gar nicht missionieren, aber es beschäftigt mich halt so!“ – die habe ich gleich dem lustigen Mann zum Lesen rübergereicht, weil ich mich so erwischt fühlte. Er hat nur „tja“ gesagt und gelacht. Hihi.
Oder dieses Gefühl der Überforderung, weil man gerne alles so richtig wie möglich machen würde, aber dauernd daran scheitert. Weil es eben nicht so einfach ist.
Was mir hingegen vollkommen abgeht, ist der Wunsch, Dinge selbst zu machen. Nunu versucht es mit unterschiedlichem Erfolg mit Nähen und Stricken – für mich vollkommen unvorstellbar, ich weiß genau, was dabei rauskäme.
Und dann sind natürlich auch noch eine ganze Menge Informationen eingestreut. Zwar habe ich mich auch immer wieder mit dem Thema befasst, aber vieles wusste ich trotzdem nicht. Etwa, wie die Firma Monsanto indische Baumwollbauern durch ihre skrupellosen Geschäftsmethoden in den Selbstmord treibt. Und zwar nicht ein paar einzelne, sondern 250.000 Bauern. Zweihundertfünfzigtausend! Oder dass die Deutschen im Jahr 2011 geschlagene sechs Milliarden Kleidungsstücke gekauft haben, das sind im Schnitt 75 Kleidungsstücke pro Person. In einem Jahr. Wer um alles in der Welt kauft so viele Klamotten? (Ich weiß es: ein Teil meiner Facebookfreundinnen, die sich gleich geoutet haben. 75 Kleidungsstücke jedes Jahr! Wahnsinn.)
Kurzfassung: das Tolle an dem Buch ist, dass Nunu Kaller das Thema natürlich ernst nimmt, sich selbst aber nicht. Dass ihr trotz aller fürchterlichen Erkenntnisse der Humor nicht abhandenkommt. Deswegen macht das so einen Spaß. Ich würde jedenfalls sehr gern ein Gurkengesöff mit ihr trinken gehen. Irgendwann machen wir das mal.
Es liegt bei jedem selbst, ein kritischer Konsument zu werden. Vor mir, nur weil ich an Sprechdurchfall leide und permanent reden muss über das, was mich bewegt, gibt’s nix zu beweisen. (S. 235)
Nunu Kaller bekommt im Regal einen Platz zwischen Mascha Kaléko und Wladimir Kaminer.
Nunu Kaller: Ich kauf nix. KiWi Taschenbuch, 8,99. Auch als E-Book.
(Partnerlinks zur Buchhandlung Osiander. Wenn Ihr es dort kauft, macht ihr mich unermesslich reich.)