Angélique Mundt ist Psychotherapeutin mit einer eigenen Praxis in Hamburg. Ehrenamtlich arbeitet sie zudem im Kriseninterventionsteam, und davon berichtet sie in diesem Buch: Das Kriseninterventionsteam (KIT) sind geschulte Leute, die gemeinsam mit der Polizei zu Angehörigen von Unfallopfern, Mordopfern oder Suizidenten gehen, wenn Todesnachrichten überbracht werden müssen. Sie übernehmen die psychische Betreuung in den ersten Stunden und bleiben bei den Angehörigen, bis weitere Familienmitglieder oder Freunde eingetroffen sind oder sie das Gefühl haben, die Betroffenen jetzt alleinlassen zu können. Oder wie Mundt es mehrfach formuliert: Sie steht immer wieder vor der Tür wildfremder Leute und wird gleich klingeln, um ihre Welt in tausend Stücke zu zerschlagen. Um ihr Leben, wie sie es bisher kannten, zu zerstören. Was für eine unfassbare Tätigkeit. Immer wieder.
Mal fällt ein etwas älterer Herr beim Einkaufen einfach tot um. Mal stirbt ein Kind in der Obhut des Jugendamtes den plötzlichen Kindstod, und die Reaktion der drogensüchtigen Mutter ist nicht abzusehen. Ein Vater ersticht seine Frau, und jemand muss es den Kindern erklären. Eine junge Frau wird, völlig unvermittelt, von einem Mann mit schizophrener Paranoia auf offener Straße ermordet. Jemand hat einen Motorradunfall. Oder hat sich das Leben genommen. Es ist immer anders und immer grauenhaft.
Die Mitteilung „Ihr Angehöriger ist tot“ wird von der Polizei ausgesprochen. Immer so schnell es nur irgend geht, immer persönlich, auf keinen Fall am Telefon. Und immer unverblümt. Es wird nicht drumherumgeredet oder beschönigt, man sagt nicht „Ihr Mann ist eingeschlafen“ oder „Ihre Tochter hat uns verlassen“; es muss gleich unmissverständlich und eindeutig sein. Eine furchtbare Aufgabe. Das KIT geht mit, hält sich aber zunächst im Hintergrund. Die Polizei verlässt die Angehörigen dann relativ bald, das KIT übernimmt. Diese Aufteilung ist wichtig, weil derjenige, der die schlimme Nachricht überbringt, nicht derselbe sein soll wie der, der dann den ersten Trost spendet. Manche Angehörigen haben sofort tausend Fragen und wollen alles ganz genau wissen. Manche schweigen. Manche schreien und weinen, andere fangen sofort an, irgendetwas zu organisieren und zu funktionieren. Alle brauchen eine Weile, bis die Botschaft wirklich bei ihnen ankommt. So lange bleibt Angélique Mundt bei ihnen und ist einfach da. Hört zu, nimmt in den Arm, beantwortet Fragen oder überlegt mit, was zu tun ist. Was auch immer gerade nötig ist. Und oft geht sie – evtl. am nächsten Tag – dann noch mit in die Gerichtsmedizin oder ins Krankenhaus, wo die Angehörigen den Toten noch einmal sehen und sich verabschieden können. Damit sie den Tod begreifen können, im Wortsinne. Nicht alle Toten sehen schön aus. Mordopfer. Wasserleichen. Unfallopfer. Angélique Mundt sieht sich die Leiche immer erst selbst an, bespricht nötigenfalls mit dem Arzt, welche Verletzungen noch überdeckt werden sollten (ein Pflaster sieht tröstlicher aus als ein Messerstich, auch wenn derjenige tot ist und nicht mehr blutet). Ob die Hände über oder unter dem Laken sein sollten. Details. Dann geht sie zu den Angehörigen und erklärt ihnen, was sie erwartet, bevor sie mit ihnen wieder hineingeht.
Das Buch ist eingeteilt in Kapitel über das Überbringen von Todesnachrichten, über das Abschiednehmen, über Kinder als Betroffene (als Tote oder Angehörige) und über Suizid. 280 Seiten Horror und der Versuch, Trost zu spenden und praktische Hilfe zu leisten. Ich weiß nicht, wie man das schaffen kann. Natürlich gibt es Gesprächsgruppen für die Leute vom KIT und Supervision, alle sind Psychologen, Psychotherapeuten, Pädagogen und haben vermutlich ihre Methoden, das Erlebte zu verarbeiten. Dennoch.
Angélique Mundt verarbeitet der Erlebte unter anderem durch das Schreiben, sie schreibt „nebenbei“ Krimis.
Ich habe die allergrößte Hochachtung vor dieser Arbeit. Und vor Mundts ebenso liebevollem wie reflektierten Blick auf die Menschen und ihre Nöte. Und ihrem Mut, diese Menschen dennoch dem Schlimmsten auszusetzen, weil es einfach nicht anders geht. Angélique Mundt sagt: Man kann vieles nicht verstehen. Es gibt auch keinen Trost. Aber man kann es aushalten. Und dabei kann sie den Menschen helfen, in den ersten Stunden. Für die Zeit danach vermittelt sie therapeutische Weiterbetreuung, Selbsthilfegruppen, was auch immer notwendig ist.
„Wir brauchen keine Helden, sondern Menschen“, sagt Angélique Mundt und meint: Menschen, die mit den Betroffenen fühlen, weinen. Die manchmal selbst keine Worte finden, aber Hände halten. Die zuhören, schweigen und aushalten. Situationen, die man kaum aushalten kann. (Hamburger Abendblatt)
Ich verneige mich. Zutiefst demütig.
Angélique Mundt: Erste Hilfe für die Seele. btb, 280 Seiten, 12,99 €. Auch als E-Book. (Links zur Buchhandlung Cohen und Dobernigg.)
Und hier ist ihre Webseite.
Blancas Mutter ist gestorben, Blanca trauert. Ihre Mutter war so etwas wie ihre große Liebe, ihr Halt, ihr Zuhause. Außerdem ist sie vierzig und spürt, dass das nicht mehr ganz jung ist. Sie fährt mit Freunden in das Sommerhaus der Familie nach Cadaqués, ans Meer. Zu den Freunden zählen ihre beiden Ex-Männer (die Väter ihrer Söhne), zwei Freundinnen, ein paar Kinder, und ihr aktueller Lover ist mit seiner Familie ebenfalls im selben Dorf. Und dann ist da noch ein schöner Unbekannter.
Es könnten unbeschwerte Sommertage sein, wenn nicht die Trauer wäre, die Blanca immer wieder einholt – immer wieder spricht sie ihre Mutter direkt an, immer wieder sind da plötzlich Sätze mit einem „Du“ drin, in denen Erinnerungen auftauchen, wie es früher war, mit der Mutter an diesem magischen Ort. Aber die Freunde sind da, die Patchworkfamilie, es wird gegessen, getrunken, gekifft und gevögelt, denn: „Das Gegenteil von Tod ist nicht Leben, sondern Sex.“ Körperkontakt ist das einzige, was Blanca in der Trauer hilft, was die Traurigkeit für einen Moment aufbricht. Sie trotzt dem Leben so viel Leben wie möglich ab.
Das Buch ist so kurz und so intensiv wie diese wenigen Tage. 169 Seiten, die ebenso leicht wie schwer sind, hochkonzentriert, unmittelbar und roh. Direkt ins Herz. Poetisch, ohne jeglichen Kitsch oder Pathos, die Trauer fällt einen immer wieder an, und doch strotzt es vor Leben. Und wenn ich „poetisch“ usw. schreibe, meine ich natürlich: spektakulär gut übersetzt von Svenja Becker, unglaublich musikalisch und fließend, eine wunderschöne Sprache.
Außerdem möchte ich jetzt bitte ans Meer und da sehr, sehr viel Sonne haben. Und Freunde und Wein und Sex und ein Boot. Nur die Trauer, die brauche ich nicht. Aber wenn sie denn sein muss, dann gern genau so. Was für ein wundervolles Buch.
Milena Busquets bekommt einen Regalplatz zwischen Robert Burns und David Byrne.
Milena Busquets (Svenja Becker): Auch das wird vergehen. Suhrkamp, 169 Seiten.
Hardcover 19,95 € (nicht mehr lieferbar, scheint’s)
Taschenbuch 10,00 €
E-Book 9,99 €.
(Die Links führen zur Buchhandlung Uslar und Rai, wo ich es gekauft habe. Gibts natürlich auch in jeder anderen Buchhandlung.)
Das ist meine Lieblingskette.
Ein Herz und ein Hirn, an einer kleinen Kette durch einen Ring gezogen; sie halten einander die Waage, aber das Herz ist eine Winzigkeit schwerer. Es hat mehr Gewicht. Meine Freundin Katy besaß diese Kette und zeigte sie mir, sie sei von einem kleinen Designer bei ihr um die Ecke in Berlin. Ich war sofort schockverliebt und fragte nach dem Preis, und dann fand ich, dass ich doch nicht so dringend eine Kette brauche. Aber tatsächlich ging sie mir nicht aus dem Kopf, und als vor zwei Jahren der Pfau plötzlich steilging, dachte ich: Jetzt. Jetzt kaufst du sie dir.
Sie wurde sofort zum Lieblingsstück, ich habe sie dauernd getragen und sie allen gezeigt. Herz und Hirn. Das Herz ein bisschen schwerer. Und jetzt habe ich mein Herz verloren. Also, zum Glück nicht verloren, es ist noch da, aber es hat sich vom Hirn getrennt. Das passt auch irgendwie, mein neuer Roman hat mit Herzbruch zu tun. („Mein neuer Roman“, sage ich, als gäbe es schon einen.)
Jedenfalls: Das geht so nicht, Herz und Hirn müssen im Gleichgewicht sein, neuer Roman hin oder her. Schmuck zum Juwelier bringen, um ihn reparieren zu lassen – ist das dieses „erwachsen“? Kann jemand einen Goldschmied in Hamburg empfehlen? Oder kann jemand löten?
Morgen, oder je nachdem wann ihr das lest, heute, oder halt schon gestern, jedenfalls:
Am Samstag, dem 24. März 2018, ist Indiebookday!
Die Idee ist, dass möglichst viele Leute in möglichst viele Buchhandlungen gehen – vorzugsweise in unabhängige – und Bücher aus unabhängigen Verlagen kaufen. Wer nicht weiß, welche Verlage unabhängig sind, kann seine Buchhändlerin sicher um Hilfe bitten. Viele Buchhandlungen machen aber sowieso mit und haben Tische mit entsprechenden Büchern vorbereitet. Alsdann macht man ein Foto der erworbenen Bücher oder Selfies mit ebenjenen und teilt dem Rest der Welt über Social Media mit, was man gekauft hat. Blogs, Facebook, Twitter, Instagram, immer schön mit Hashtag #indiebookday. Und wie super diese Bücher sind und wie super die Kleinverlage sind und wie super die unabhängigen Buchhandlungen. Alles weitere gibts auf Facebook (wo man auch die Bilder posten kann) oder direkt unter:
Dieses Jahr gibt es dazu noch etwas Besonderes: Die Indiebook Reading Challenge. Ich schaffe gerade kein Buch pro Woche (ja, das ist Mist), und außerdem führen solche „Challenges“ bei mir schnell dazu, dass ich dringend etwas ganz anderes lesen möchte, aber ich wollte drauf hingewiesen haben, denn die Idee ist gut, und es sind auch reichlich Bücher dabei, zu denen mir jetzt gerade kein Titel einfallen würde. Wenn ich mal ein Jahr frei habe, mache ich vielleicht mit.
Aber erstmal gehe ich morgen zu Cohen und Dobernigg und kaufe „Dunkelgrün, fast schwarz“ von Mareike Fallwickl, erschienen bei der Frankfurter Verlagsanstalt. Und vielleicht noch „Die Architektur des Knotens“ von Julia Jessen, bei Kunstmann erschienen. Und vielleicht „Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“ von Carol Rifka Brunt (Frauke Brodd), erschienen bei Eisele. Und vielleicht … Aaargh! Mal sehen. Ich werde es jedenfalls auf allen Kanälen posten.
Ab in die Bookshops! (Brüller.)
Anfang des Jahres schrieb ich, dass dieses Jahr vielleicht etwas ruhiger werden würde, und ahnte schon, dass das nicht klappen würde. „Irgendwann Anfang März“ die neue Gardam abgeben, war der Plan. Hmmm, ja klar, da konnte ich dann natürlich mal eben noch ein Kapitel „Fire and Fury“ einschieben, logisch ging das. Nur dass am selben Tag die Meldung von Hanser kam, dass sie von der neuen Gardam doch wieder ein Leseexemplar machen wollen und ich also nicht „irgendwann Anfang März“ abgeben kann, sondern es schon am 26. Februar in Satz sollte, sprich: auch schon lektoriert sein. Also habe ich mal wieder für ein paar Wochen den Turbo eingelegt, das war auch nicht schlimm, ich war vergnügt, weil diese Gardam wirklich absolut fantastisch ist, unfassbar guter Roman, das hat großen Spaß gemacht. Erscheint im Herbst. Und ich gehe seit meinem Bandscheibenvorfall vor zwei Jahren regelmäßig zum Feldenkrais, das tut gut, ich war auch körperlich gut drauf, hatte keine Rückenschmerzen und nix. Und dachte die ganze Zeit: Noch drei Wochen. Dann machst du Pause. Ist nur viel im Moment, aber alles ist gut. Und den ganzen Kranken, Siechen und Maladen in meinem Umfeld habe ich gesagt: Das macht mir nix, krank wurde bei mir nicht eingebaut, I don’t do krank, ich stecke euch alle mit Gesund an.
Und weil Hochmut bekanntlich vor dem Fall kommt, wurde ich dann pünktlich zur Gardam-Abgabe, genau: krank. Und kann euch jetzt voller Überzeugung berichten: Kehlkopfentzündung ist doof. Gruselig, wenn plötzlich einfach kein Ton mehr aus einem rauskommt. Das dauerte lehrbuchmäßig drei Tage, dann kam meine Stimme langsam zurück, dafür bekam ich dann Fieber und bla, was man halt so hat. Ich musste eine Lesung absagen, es wäre die 101. gewesen. Und eine Party, das war sehr schade, man hätte dort Lindy Hop lernen können, und die Fotos hinterher sahen supernett aus. Immerhin: Sieht aus, als würde ich stattdessen jetzt Tango tanzen lernen. Feine Sache.
Eine Woche später war ich auf einer anderen, ebenfalls supernetten Party in München, halbwegs wieder fit. Schönes Fest, tolle Gäste, zauberhafte Gastgeber, und eine schöne lange Heimfahrt am nächsten Tag mit K., mit der ich viel zu lange keine Zeit zu zweit hatte. Und letztes Wochenende war ich mit dem lustigen Mann ein paar Tage in Worpswede, das war schon lange geplant und ebenfalls sehr schön, auch wenn die meiste Zeit Nieselnebel war und ein Teil der Museen geschlossen wegen Umbau. Egal, es war genügend offen, und es gibt ja auch reichlich zu sehen. Und spazierenzugehen und zu essen und zu schlafen.
Und morgen fahre ich nun schon wieder weg, nach Leipzig zur Buchmesse, wo ich am Donnerstag im Übersetzerzentrum ein Podium moderiere. Berühmte erste Male. Und außerdem lauter tolle Leute treffe, ich freu mich schon wieder sehr auf die Messe. Und dann ist aber auch genug Zeit mit Kranksein und Reisen und Luftholen vergangen, dann fange ich endlich wieder an zu schreiben. Und zu laufen. Und dann soll bitte Frühling werden und die Sonne scheinen, ich habe es auch, wie jedes Jahr um diese Zeit, mal wieder gründlich satt, immer so viel anziehen zu müssen, ich möchte mir ein kleines Kleidchen überwerfen und fertig.
Der Plan ist immer noch, vor den Sommerferien mit der ersten Fassung des neuen Romans fertig zu sein. Ich habe immer noch Angst vor der eigenen Courage. Es ist immer noch ein ziemlich ehrgeiziges Projekt. Aber nu bin ich mitten drin und meistens guter Dinge, dass es was werden kann. Im April mache ich 10 Tage Schreibklausur zu dritt, das wird sicher gut und produktiv und hilfreich.
Ach so, Hanser will die nächste Gardam übrigens auch vorziehen. Also tschüss, lockere zweite Jahreshälfte. Hello Schreibtisch, my old friend. Denn dass das jemand anders übersetzt, kommt, wenn man mich fragt, gar nicht in die Tüte.