Seit 2006 schreibe ich ins Internet, was ich gelesen habe. Anfangs bin ich einfach am Ende des Jahres am Regal langgegangen, habe überlegt, was es denn alles war, und dann eine nackte Liste gebloggt. Dann hatte ich eine Leseliste im Rechner, die ich immer gleich aktualisiert habe und habe – ebenfalls am Ende des Jahres – zu jedem Buch ein-zwei Sätze geschrieben und sie gebloggt. Seit Januar 2009 schreibe ich über jedes einzelne Buch, das ich gelesen habe, einen eigenen Blogeintrag. Und da ich immer finde, dass ich viel zu wenig lese, habe ich wirklich über *alle* Bücher gebloggt, damit es wenigstens nach so viel wie möglich aussieht.
Das sind jetzt fünf volle Jahre, die ich quasi lückenlos dokumentiert habe. Auch irgendwie gruselig. Es kann also niemand behaupten, er „hätte nicht gedacht“, dass ich irgendwas Bestimmtes gelesen oder nicht gelesen habe. Ganze fünf Jahre? Nein, ein kleines gallisches Dorf … ein einziges ganz gelesenes Buch, und gern gelesenes Buch, habe ich nicht bebloggt, und deswegen fällt es in die Kategorie „Ihr glaubt, ich hätte das nicht gelesen“:
Angela Leinen: Wie man den Bachmannpreis gewinnt. Ich habe keinen Schimmer, wieso ich gerade darüber nicht gebloggt habe. Die Blogger kennen Angela Leinen unter dem Namen Sopran, sie bloggt über Rudern, Tatort, Bücher und Anderswo (ein Dorf in Südfrankreich), und immer ausführlich und kenntnisreich und lustig über den Bachmannpreis. Das Buch wurde in der Blogosphäre allenthalben gelesen, vielleicht habe ich es deswegen nicht hinbekommen, was drüber zu schreiben. Weil alle anderen das schon getan hatten. Exemplarisch sei hier auf die Kaltmamsell hingewiesen, der ich nicht viel hinzuzufügen habe. Im Buch geht es gar nicht ausschließlich um den Bachmannpreis, der ist sozusagen nur der Aufhänger für eine Bestandsaufnahme der deutschen Gegenwartsliteratur. Und es ist ausdrücklich KEIN literaturwissenschaftliches Buch, sondern eins von einer interessierten Leserin, und das macht es so angenehm und kurzweilig. Sehr nettes Buch und hey, immerhin für mich was Superungewöhnliches: ich habe ein Sachbuch gelesen. Ganz! Und gerne! Man lese die verlinkte Rezension bei der Kaltmamsell und dann dieses Buch.
Ich-Erzähler Stefan gründet zu Beginn des neuen Jahrtausends zusammen mit seinen Freunden („Freunden“) Thorsten und Philipp eine Agentur für Unternehmenskommunikation, Werbung, Internet und so weiter. Ihre Kunden sind die Dotcoms. Stefan und Thorsten haben eine unglaublich große Klappe und keinerlei Skrupel, sie wollen das große Geld, Frauen und schnelle Autos, und das kriegen sie auch, mit Geschwätz und miesen Tricks. Stefan hat eine Freundin, Lena, die er liebt, eine Nebengeliebte, Sandra, in die er verliebt (oder verknallt) ist, und darüber hinaus vögelt er, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Er ist, kurz gesagt, ein rechtes Arschloch und hält sich für den Mittelpunkt der Welt. Obermacker Thorsten ist ein noch schlimmerer Arsch, Philipp hingegen ist stiller und läuft eher so mit. Und macht einen am Ende wahnsinnig. Überhaupt, das Ende: großartig. Dass die Dotcomblase geplatzt ist, wissen wir ja, und für seine Figuren kriegt Sascha Lobo wunderbar die Kurve. Eben weil Philipp einen wahnsinnig macht. Und weil Stefan einen wahnsinnig macht. Bis dahin hat man einen sehr kurzweiligen, sehr lustigen und unterhaltsamen Roman gelesen. Und deswegen gilt dieser Eintrag auch für den beim Bücherstöckchen übersprungenen
Tag 13 – Ein Buch, bei dem du nur lachen kannst.
Sprücheklopfen ist Sascha Lobos Metier, und hier sind sie wunderbar getimet. Ich habe, was mir selten passiert, sogar über die Slapstickszenen gelacht. Das mit dem Schwein! Also die zweite Schweineszene, unfassbar. Und solche Details wie das farblich zur Bar passende Schnittchenkonzept. Oder die Verwendung des Worts „Hitler“. Hat mir sehr gefallen.
Ich hatte erwartet, dass es möglicherweise schwierig werden würde, Sascha Lobo und seine Figur Stefan auseinanderzuhalten. War es aber gar nicht. Natürlich ist Sascha Lobo ebenfalls ein Poser und Schwätzer und Selbstdarsteller, davon lebt er. Und Stefans Geschichte dürfte nah an seiner eigenen dran sein. Aber er ist nicht so ein Arschloch und geht nicht über Leichen. Glaube ich. So gut kennen wir uns nicht, aber ich mag ihn, sonst hätte ich das Buch wahrscheinlich nicht gelesen. Und da hätte ich was verpasst.
Sascha Lobo wird im Regal zwischen Robert Littell und David Lodge wohnen.
Ach ja, Superlative. Seufz. Sehr gut gefällt mir Der Ursprung der Welt von Jorge Edwards (Sabine Giersberg). Die Gestaltung stammt von Julie August.
Jo, gestreift halt. Aber man ahnt was, oben rechts. „Der Ursprung der Welt“ ist der Titel eines Gemäldes von Gustave Courbet von 1866, das damals ein Skandal war. Das Bild spielt in dem Buch eine wichtige Rolle: Ein Mann entdeckt im Nachlass seines besten Freundes, eines Fotografen, Fotos, die dem berühmten Gemälde nachgestellt sind. Der Kopf der Frau ist – wie auch auf dem Gemälde – nicht zu sehen, aber er hat doch den Verdacht, dass es sich um seine eigene Frau handelt. Er wird eifersüchtig, und diese Eifersucht wirft ihn völlig aus der Bahn, er wird geradezu besessen von der Vorstellung, seine Frau könnte ein Verhältnis mit seinem besten Freund gehabt haben. Lange her, dass ich es gelesen habe (ich hoffe, die Inhaltsangabe stimmt), aber ich weiß, dass ich es unglaublich großartig und überzeugend fand. Sehr beeindruckend. Und mit einem wunderbar gelösten Schluss. Das ist eine dringende Leseempfehlung, 160 Seiten, kann man schnell mal eben. Und es sieht wunderschön aus.
Was man da oben sieht, ist natürlich nur der Schutzumschlag. Weiße Streifen auf halbtransparenten schmaleren Streifen. Das Gemälde „Der Ursprung der Welt“ hat Julie August verschä dezent darunter versteckt.
Astrid Lindgren (Else von Hollander-Lossow): Kati in Amerika | Italien | Paris
Kati lebt mit ihrer gestrengen Tante in einer klitzekleinen Dachwohnung in Stockholm. Aus irgendeinem Grund, den ich vergessen habe, will sie im ersten Band nach Amerika reisen – die Tante sagt erst, dass das selbstverständlich überhaupt nicht in Frage kommt, und als nächstes sagt sie, dass sie mitfährt. Was nun ungefähr genau nicht das ist, was Kati sich vorgestellt hat, aber nun. Besser zu zweit als gar nicht. Und siehe: die Tante verliebt sich, heiratet und bleibt in Amerika (=USA).
In Band zwei hat Kati die Wohnung folglich plötzlich für sich allein. Ihr Freund Jan will sofort heiraten und einziehen, aber Kati winkt ab. Stattdessen zieht ihre Freundin Eva mit ein, die mit Kati zusammen als Sekretärin im selben Anwaltsbüro arbeitet. Die beiden tippen irgendwann spaßeshalber im Fußballtoto, gewinnen überraschend eine Menge Geld und beschließen, dieses Geld in eine „Gesellschaftsreise“ nach Italien zu stecken. Wo sie Lennart kennenlernen. Vor allem Kati lernt Lennart kennen. Oh, Lennart. Vermutlich nach Thomas Lieven der zweite literarische Mann, in den ich mich verliebt habe.
Naja, und in Band drei geht es dann auf Hochzeitsreise nach Paris. Ich verrate aber nicht, mit wem!
Man sieht es dem Buch an: ich habe es in meiner Jugend ungefähr achttausend Mal gelesen. Weil ich eine alte Kitschtante bin. Denn das ist natürlich alles unfassbar brav und betulich und so zauberhaft und alles. Und witzig ist es auch. Und lehrreich! Seitdem kann ich zum Beispiel einen Satz fließend auf Italienisch sagen, nämlich: Mi arricci i baffi. Das bedeutet „dreh mir den Schnurrbart“ und ist sicher ein sehr nützlicher Satz.
Die Übersetzung stammt von Else von Hollander-Lossow, die wunderbare Dinge getan hat. Da gibt es beispielsweise eine Szene, in der eine der vier Sekretärinnen im Anwaltsbüro erzählt, wie ihr Chef ihr morgens gesagt hat, sie habe schöne Beine, mittags durchblicken ließ, dass mit seiner Frau nicht alles so toll sei, abends musste sie länger arbeiten, und schließlich lud er sie zum Essen ein.
„Dass die Männer es nicht begreifen!“
„Was begreifen sie nicht?“, fragte ich.
„Man merkt die Absicht, und man wird verstimmt“, sagte Eva.
Ein Goethezitat! Habe ich natürlich erst Jahre später gemerkt, als ich das Buch immer noch auswendig konnte und jemand diesen Satz zitierte, und ich überrascht frug: Wie, Du hast Kati gelesen? Welche Kati, fragte er.
Noch so was: als Eva und Kati in Italien sind, sagt Eva, sie wäre gern Katharina di Medici gewesen. Vor dem Abendbrot noch schnell ein paar Todesurteile unterzeichnen, das hätte ihr gefallen. „Und wenn der Kopf dann rollt, dann sag ich ‚Hoppla!’“
Das habe ich erst bemerkt, als wir vor einigen Jahren im Theater die Dreigroschenoper sahen. Da zitiert die Seeräuberjenny auf einmal Kati in Italien!
Würde die Übersetzerin noch leben, dann würde ich ihr eine Mail schicken. Ich würde sie fragen, ob Astrid Lindgren etwa Goethe und Brecht zitiert, oder ob sie das selbst war. Das glaube ich nämlich. Ich glaube, die Übersetzerin hat Goethe und Brecht eingefügt, einfach so, weil es passt, und weil es Spaß macht. Und ich finde das großartig. GROSSARTIG! So großartig, dass ich sowas auch tue, wenn es sich gerade anbietet. So großartig, dass ich sogar schon einmal ein Kati-Zitat wo untergebracht habe. Das ist aber so unauffällig, dass es wahrscheinlich nur A. gemerkt hat. Vielleicht sollte ich das Buch noch mal lesen, nur um zu gucken, ob noch mehr solche Zitate drin sind. Liebe Frau von Hollander-Lossow: meine Verehrung.
Immer dieser Quatsch mit dem Hassen. Es gibt natürlich einen Haufen Bücher, die ich mal super fand und jetzt nicht mehr. Erst hatte ich vor, hier „Der blöde Prinz“ zu antworten. Aber dann fiel mir auf: ist ja Quatsch, natürlich hasse ich ihn nicht. Ich finde immer noch, dass das ein wirklich nettes Kinderbuch ist. Man kann’s halt nur nicht mehr hören. Und der Satz „ach nein, das ist schon auch für Erwachsene“ lässt mich immer vermuten, dass diese Erwachsenen sonst überhaupt nicht lesen und womöglich ein etwas schlichtes Gemüt haben, und gleich hinterher schelte ich mich selbst für meine Arroganz. Denn den kleinen Prinzen scheiße zu finden, ist genauso einfach, wie ihn super zu finden. Es ist so einfach, sich darüber lustig zu machen, irgendwie wohlfeil. Und ja, klar tue ich das auch.
Es gibt genügend Leute, die sich auf ihrer Hochzeit in der Kirche vorlesen lassen „Du bist Zeit deines Lebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast, sagte der Fuchs“, und die Hälfte der versammelten Gemeinde ist gerührt. Ich nicht, ich denke „schnarch“, aber da kann der kleine Prinz ja nichts für, und das Brautpaar auch nicht. Das Brautpaar ist nämlich durchaus nicht blöd, bloß weil es den blöden Prinzen gut findet.
Und so habe ich nun auch diese Frage zweckentfremdet, wie die meisten anderen auch, und sage den Kleiner-Prinz-Hassern: seid nachsichtig. Nicht alles, was abgedroschen ist, ist auch gleich schlecht. Man sieht nur mit dem Herzen gut.