In meinem Teil des Internets geht gerade ein Link zu einer Sendung im Deutschlandradio Kultur um. Dort bemängelt Rolf Schneider, die Schlamperei der Verlage ließe den Druckfehlerteufel umgehen, und das sei eine Beleidigung des Lesers.
Wer sich das nicht alles durchlesen will: Schneider führt zunächst einige sinnentstellende Druckfehler an. Ja, lustig. Manchmal fehlen sogar ganze Wörter oder sind doppelt. Ja, Schlamperei. Ja, soll alles nicht passieren. Die Verlage, so Schneider, sparen sich das Korrektorat. Und ja, das ist mir auch schon aufgefallen, dass sich in vielen Büchern die Druck- und Tipp- und manchmal Denkfehler häufen.
[Einschub: Ich möchte hinzufügen, was Schneider gar nicht erwähnt: Mir fällt auch immer häufiger auf, dass schlampig lektoriert wird. Da sind Logikfehler und Sachfehler und Brüche in Büchern, die ein Lektor wirklich hätte sehen müssen – erst ist Weihnachten, dann kehrt jemand nach einem traumatischen Erlebnis so ganz langsam wieder ins Leben zurück, geht wieder an die Uni, geht wieder arbeiten, trifft wieder Leute, und dann ist plötzlich Silvestermorgen. Und man fragt sich, was an der Uni und im Arbeitsleben in den vier (!) Tagen zwischen den Jahren alles passiert sein mag, dass jemand nach einem Trauma so schnell wieder auf die Füße kommt. An der Uni zum Beispiel ist in der Zeit vorlesungsfrei, da kann die Figur gar nicht gewesen sein. Oder in einem Gespräch wird nicht immer dazugesagt, wer was sagt, sondern die wörtliche Rede wechselt sich einfach ab, aber am Ende stimmt es nicht. Irgendwo muss einer der beiden zweimal hintereinander etwas gesagt haben, oder wie? Ja, verdammt, ich lese sowas dreimal und zähle dreimal nach, wer jetzt was gesagt haben soll! Und dann passt es nicht! Das regt mich fei auch auf. Einschub Ende.]
Schneider jedenfalls kommt zu dem Schluss:
Druckfehler sind eine elementare Beschädigung des Buches und eine Beleidigung des Lesers. Sie sind eine aus Gründen der Kostenersparnis betriebene Schlamperei.
Das ist wütend und vielleicht ein bisschen harsch formuliert, aber hey: Er hat vollkommen recht. Ich sehe das durchaus genauso. Dummerweise beendet er seinen Ausbruch dann folgendermaßen:
Mutet man sie uns zu, da uns die stilistischen und orthografischen Fehlleistungen der Blogosphäre abgestumpft haben? Wenn wir Druckfehler in Mails und Blogs klaglos hinnehmen, werden wir auch – denkt man vielleicht – das E-Book samt seinen Druckfehlern tolerieren.
Das E-Book ist eine Bedrohung des herkömmlichen Buchs. Wollen wir das herkömmliche Buch bewahren, und ich halte dafür, muss es sich durch Qualität auszeichnen. Das fehlerfreie Druckbild gehört dazu.
Da springen dann doch gleich mal meine Reflexe an.
Die Blogosphäre ist ja, um hier gleich mal die hohe Literatur zu zitieren, ein weites Feld. Ein Blog ist eine Veröffentlichungsmöglichkeit für jedermann, ist also gewissermaßen ein durch und durch demokratisches Medium. Jeder kann seine Meinung oder sein privates Tagebuch veröffentlichen, das ist doch erstmal super. Unter „jeder“ fallen dann halt auch Leute, die ihre Rechtschreibung und Grammatik nicht hundertprozentig im Griff haben. Oder womöglich nicht mal fünfzigprozentig. Und das muss noch nicht mal heißen, dass sie doof wären. Es sind außerdem auch Leute unter den Bloggern, die ein großes literarisches Talent haben, oder solche, die ausschließlich Sprach-Klugscheißereien bloggen. Und solche, die fundierte Meinungen zu irgendeinem Thema haben, sie aber vielleicht nicht umwerfend brillant formulieren können. Und so weiter. Die Welt ist bunt und spiegelt sich in der Blogosphäre.
Und Mails, ja, in Mails werden auch Tippfehler gemacht. Bevor es Mails gab, wurden diese Fehler in Briefen gemacht. Und in Tagebüchern. Und in sonstigen privaten Aufzeichnungen. Niemand hätte daraus abgeleitet, dass es mit den Büchern den Bach runtergeht, bloß weil Leute in privater schriftlicher Kommunikation Fehler machen.
Die Blogs, die ich lese, werden fast ausschließlich von Leuten geschrieben, die ein gewisses Schreibtalent haben und die Wert auf Rechtschreibung und sowas legen. Ich lege nämlich ebenfalls Wert darauf, sowohl bei dem, was ich lese, als auch bei dem, was ich schreibe. Wer zu schlampig schreibt, den lese ich nicht, so einfach ist das. Aber manchmal vertippe auch ich mich natürlich. Manchmal übersehe ich meine eigenen Tippfehler. Manchmal mache ich sogar echte Fehler, weil ich etwas nicht weiß (wobei ich hoffe, dass das nicht allzu oft passiert). Meine Blogeinträge werden von niemandem außer mir selbst korrekturgelesen. Wenn ich einen Eintrag fertig habe, dann veröffentliche ich ihn. Zack! Mitsamt den Fehlern, die ich übersehen habe. Schockschwerenot.
Das hat aber doch alles nichts damit zu tun, ob jemand von einem Buch erwartet, dass es gründlich und mehrfach lektoriert und korrigiert wurde. Und das E-Book hat damit schon gar nichts zu tun, das E-Book basiert auf derselben Vorlage wie das gedruckte Buch und wird dieselben Fehler drinhaben. Der Unterschied ist nur, dass man sie im E-Book schneller korrigieren kann (vermute ich jedenfalls, ich weiß aber über die Technik nicht Bescheid).
Ich kann natürlich nur von mir auf andere schließen. Ich lege Wert darauf, dass Bücher möglichst fehlerfrei sind, dass sie gut durchkorrigiert und lektoriert sind. Ich werde ungehalten, wenn zu viele Fehler in einem Buch stecken. Und das, obwohl ich bereit bin, in Mails und Blogs auch mal über Tippfehler hinwegzusehen. Meine eigenen Mails und meine eigenen Blogeinträge enthalten auch Fehler. Und von meinen eigenen Büchern erwarte ich auch, dass sie gründlich lektoriert und korrigiert werden.
Dass das E-Book eine „Bedrohung des herkömmlichen Buchs“ sei – ach herrje. Das E-Book ist doch nur eine andere Darreichungsform des herkömmlichen Buchs. Ich erwarte von einem E-Book – was Orthografie und so weiter betrifft – genau dasselbe wie von einem gedruckten Buch. Dass in Lektorat und Korrektorat zunehmend gespart und/oder schlampig gearbeitet wird, ist keine Frage. Was ich da oben als Beispiele für mangelndes Lektorat angeführt habe, ist mir in einem Buch aus dem Hanser-Verlag aufgefallen, also nicht aus irgendeiner billigen Unterhaltungsklitsche. Und ja, das prangere ich mit an.
Das hat aber nicht das Geringste damit zu tun, dass ich es als E-Book gelesen habe, und auch nicht damit, dass ich in privaten Mails über Tippfehler hinwegsehen kann.
Hugh, ich habe gesprochen.
Beim Bäcker.
Ich: Ich hätte gern fünf Berliner.
Verkäufer: Drei sind im Angebot.
Ich: Ähh – ich brauche aber fünf.
Er: Sie könnten ja sechs nehmen.
Ich: Ah. Ja. Das könnte ich dann wohl.
Knapp zwei Wochen nach unserem ersten Ausflug klingelt mein Telefon, Sohn II ist dran. Meiiine Patentante! Meine Isa bist! Patentante! Ausflug! Meine! Im Hintergrund die Stimmen der Eltern, ich höre raus: Sonntag. Ja, sage ich, gerne, dann hole ich Dich am Sonntag wieder ab. Wollen wir Schiffe gucken? – Jaaaa!, ruft er, Ssiffe gucken!
Am Sonntag trete ich aus dem Aufzug: Meiiine Isa! Hach. Und wie er strahlt. Einfach so, weil ich da bin. Und weil wir gleich losgehen, Zug fahren und Schiffe gucken.
Erstmal kommen wir allerdings nicht besonders weit, denn direkt vor der Haustür ist der Spielplatz. Gut, denke ich, dann eben erstmal Spielplatz. Wir haben ja ohnehin nicht wirklich ein Ziel – ich dachte, wir könnten zum Hafen fahren, das fand er auch gut, aber wenn er jetzt erstmal auf den Spielplatz will, meinetwegen. Ich glaube, das ist ein echtes Patentantenprivileg: Wir müssen nichts. Eltern haben wahrscheinlich meistens einen Zeitplan, ein Ziel, müssen irgendwohin. Sie haben kaum mal die Möglichkeit, das Kind bestimmen zu lassen. Ich hingegen kann einfach in Ruhe und im Tempo des Kindes mit ihm durch die Gegend stromern und mal gucken, was es so zu entdecken gibt. Zum Beispiel dann, wenn das Kind sich flach auf den Bauch legt und mit dem Fingernagel einzelne Sandkörner aus irgendeiner Ritze pult.
Wir bauen im Spielplatzsand ein paar Straßen, indem wir mit der Schaufel, die dort rumliegt, ein Stück Sand glattstreichen. Dann stecken wir kleine Stöckchen als Ampeln rein und klären nochmal die Sache mit Rot und Grün und Stehenbleiben und Warten und Autos. Ich glaube, so richtig kapiert hat er das noch nicht. Und so langsam denke ich, wir könnten dann auch mal los zum Bahnhof, wenn wir es heute noch zu den Schiffen schaffen wollen. Das Kind indes sagt: nein. Oder tut so, als hätte es mich nicht gehört. Noch fünf Minuten, sage ich, dann gehen wir zu den Zügen. Zug fahren! Schiffe gucken! Das Kind schüttelt den Kopf. Drei Minuten später sage ich: So, dann wollen wir mal los! Das Kind baut Straßen. Drei Minuten später sage ich: Na komm, wir gehen Schiffe gucken! Das Kind backt Schokoladenkuchen.
Irgendwann habe ich ihn endlich losgeeist, wir gehen einige Meter in die richtige Richtung, da kommen Freunde auf den Spielplatz. Geht weg, denke ich, gerade hatte ich ihn so weit! Oben am Fenster steht die Herzdame und lacht sich kaputt. Das Kind spielt.
Dann ganz plötzlich steht es auf und marschiert los. Sein eigener Entschluss. Allerdings kommen wir schon wieder nicht besonders weit, auf dem Weg zum Bahnhof muss ich an das Lied von Wir sind Helden denken:
Du bleibst, kaum kannst Du laufen
alle zwei Meter stehn
und du fällst auf die Knie
um noch ein Wunder zu sehn.
Ja, haha, wenn er zwischen den Wundern wenigstens zwei Meter weit käme! Es fühlt sich eher an wie: zwei Meter vor, einen Meter neunzig zurück. Und wieder auf den Bauch legen, Wunder gucken. Bei den meisten Wundern handelt es sich um Sand oder leere Bonbonpapierchen, nichts, was man als Erwachsener spontan nachvollziehen könnte. Bei allem Vorsatz, uns einfach nur treiben zu lassen und nichts vorzuhaben und das Tempo des Kindes mitzumachen – ich merke doch, dass es eine Geduldsprobe ist. Lockermachen, sage ich mir, niemand hat bestimmt, dass wir es in unter einer Stunde zum Bahnhof schaffen müssen. Und am nächsten Wunder zieh ich ihn vorbei.
Dann wieder dasselbe wie schon auf dem Spielplatz: Auf einmal beschließt der Junge, dass es jetzt weitergeht, er marschiert los, rennt ein Stück, und ruckzuck sind wir plötzlich am Bahnhof. Und steigen in einen großen Zug! Das Kind strahlt. Großer Zug! Und wir sitzen drin! Und der Zug wackelt! Wie toll ist das denn! Und laut ist er! Ach, wie wundervoll. Und dann passiert noch was total Tolles: Wir sind in eine U-Bahn gestiegen, unterirdisch, und auf einmal geht es ein bisschen hoch und dann raus, ins Freie, und hoch oben über der Stadt her zum Hafen. Also, mal ehrlich jetzt: Das finde auch ich immer noch toll. Mit der U3 am Hafen entlang zu fahren.
An den Landungsbrücken steigen wir aus und trödeln ein bisschen herum. Wir gucken von oben auf die Schiffe, ganz hinten sind große Kräne, auf der anderen Seite die Elbphilharmonie. Das Kind steht vor einem blickdichten Geländer und möchte hochgehoben werden, um drübergucken zu können, logisch. Hundert Meter weiter ist ein Gitter, da könnte es durchgucken, ohne dass ich es hochheben müsste. Ich sage, komm, lass uns ein Stück weitergehen, da kannst Du besser gucken. Er geht einen Meter weiter und möchte wieder hochgehoben werden. Woher soll er auch verstanden haben, dass ich „hundert Meter weiter“ meinte? Die Welt ist so groß.
Wir treffen einen Straßenmusikanten, der Gitarre spielt und eine ganz tolle Maschine dabeihat, an der verschiedene kleine Figürchen kleine Bewegungen machen. Wirklich super, er bedient sie mit den Knien. Für das Kind aber viel toller: Es gibt eine kleine Sammlung von Geräuschmachern und die Erlaubnis, mitzumusizieren. Das Kind haut eine Weile auf den Klaviertasten herum, es hupt und quietscht und dengelt – ganz großer Spaß. Und dann wirft er dem Musiker ganz stolz eine Münze in den Hut.
Und dann fahren wir auch schon wieder zurück, es ist spät geworden über all der Trödelei, aber das macht ja nichts. Wir steigen wieder in die U-Bahn und kaufen auf dem Heimweg noch ein paar Blumen für die Mama. Er sucht sie selbst aus und trägt sie vom Bahnhof den ganzen Weg allein nach Hause. Allerdings muss ich zwischendurch auch etwas tragen, nämlich Sohn II. Erst geht er eine Weile an meiner Hand, was normalerweise überhaupt nicht in Frage kommt („alleine!“). Dann schmiegt er seine Wange an meine Hand. Dann muss ich ihn ein Stück tragen, aber das ist auch in Ordnung, er war ganz schön lange auf den Beinen. Und immer ganz allein die Treppen rauf und runter, so eine normale Treppenstufe ist verdammt hoch, wenn man zweieinhalb ist. Ich trage ihn ein Stück, dann sage ich, dass er ganz schön schwer ist, so ein großer Junge, und ob er nicht vielleicht doch noch ein Stück alleine laufen kann? Nein, sagt er, kann nicht alleine laufen. Drei Schritte später sagt er: Kann noch ein S-tück alleine laufen. Hach.
Abends eine Mail von Maximilian: Sohn II habe sich in der Bettkante verbissen und raune mit tiefer Stimme: Isaaa.
Sagte ich letztes Mal, es sei schön, wenn man jemanden mit so einfachen Mitteln so glücklich machen kann? Stimmt ja auch. Aber die Wahrheit ist: mich selbst macht es auch glücklich.
Boah, puh! Was für ein eigenartiges Buch. Ich-Erzähler Wim Endersson ist Mitte zwanzig und hat das Glück, in CobyCounty zu leben, schon immer: CobyCounty ist eine Art Paradies, es ist immer das Meer zu sehen, es ist scheinbar immer schönes Wetter (nur nicht, wenn es regnet, dann ist immer gleich „Starkregen“, aber der geht schnell vorbei); man hat unverbindliche Affären, und wenn die zu Ende gehen, leidet man halt ein bisschen und geht dann auf eine Tanzparty und betrinkt sich und fängt die nächste unverbindliche Affäre an. Alle arbeiten irgendwie im Kulturbetrieb oder im Tourismus, alle verdienen gutes Geld und sind glücklich und gesund und sehen gut aus und tragen qualitativ hochwertige Frühlingstextilien, denn jetzt wird Frühling. Und Frühling ist in diesem Paradies aus Plastik eine ganze besondere Jahreszeit, es gibt Partys und die schönsten Touristen der Welt kommen, und viele Einwohner von CobyCounty nehmen sich einfach mal zwei Monate frei, und alles ist toll.
Bis es einem immer unbehaglicher wird und immer unangenehmer und geradezu gruselig. Diese ganze Künstlichkeit und Oberflächlichkeit und Fassadenputzerei geht bis in die Sprache hinein, in der dauernd Dinge „relativ“ oder „ziemlich“ oder „fast“ irgendwas sind, und die immer ein bisschen aufgesetzt und künstlich wirkt. Da heißen die SMS dann schon mal Short Message oder Kurznachricht, der Fernseher wird zum TV-Gerät, immer alles ein bisschen unecht.
Es gipfelt schließlich in einem Satz, mit dem Wim seine Mutter beschreibt: „Meine Mutter wird immer ehrlich zu sich selbst sein, denke ich, sie wird sich einfach für immer etwas vormachen.“ Dieser Satz beschreibt ebensogut den Erzähler selbst (hier, ehrliches Sichwasvormachen: „Ich umarme ihn auf meine neue, herzliche Art“) und das ganze CobyCounty – und wenn man es weiterdenkt, trifft es wahrscheinlich sogar in echt auf die meisten Menschen zu, wir sind doch irgendwie alle immer ehrlich zu uns selbst und machen uns immer etwas vor. Was jetzt nach viel schwererem Tobak klingt als das Buch vielleicht ist, aber vielleicht auch nicht. Vielleicht kommt es nur so leicht daher. Huiuiui. Beeindruckendes Buch, und auf jeden Fall eine Leseempfehlung.
Und was Anke sagt: irre gutes Cover. Eine silbern schimmernde Fläche und silbern schimmernde, geprägte Buchstaben. Alles so schön clean hier.
Leif Randt bekommt einen Regalplatz zwischen zwei Lieblingsautoren: Tilman Rammstedt und Elisabeth Rank.
Leif Randt: Schimmernder Dunst über CobyCounty. Berlin Verlag, 191 Seiten. 18,90 €.
E-Book 17,99 €.
UPDATE: Ha! Leif Randt bekommt den Düsseldorfer Literaturpreis. Herzlichen Glückwunsch!