Tschüss, 2018

Du warst ein Jahr voller wunderbarer Begegnungen und ein Jahr der Selbstzweifel. Wahrscheinlich ist der zweite Roman immer der schwerste, jedenfalls hat man mir das ungefähr eine Million mal gesagt, und das sei erst recht so, wenn der erste erfolgreich war. Jenun: es kommt mir vor, als stimmte das, jedenfalls ist mein zweiter immer noch nicht fertig, ich hadere und zweifle und kämpfe und komme nur furchtbar langsam voran.
Der Pfau hingegen flog einfach immer noch weiter, das Taschenbuch war fast das komplette Jahr immer noch auf der Bestsellerliste. Jetzt gerade wieder auf Platz 35. Ich höre nicht auf zu staunen, jetzt seit drei Jahren durchgehend. Alles vollkommen irre.
Beim Schreiben jedenfalls habe ich festgestellt, was ich auch 2017 schon festgestellt habe: Am Besten geht es, wenn ich wegfahre. Ich war mal wieder eine Weile allein auf Helgoland, außerdem war ich zweimal zu dritt und einmal kurz zu zweit zum Schreiben an der Ostsee, und das waren die produktivsten Zeiten überhaupt. Wenn es rechts und links von mir klappert, klappere ich auch. Und wenn es rechts und links von mir nicht klappert, sondern stöhnt, dann finde ich das sehr beruhigend. Andere sind auch nicht schneller, andere kämpfen und hadern auch. (Und kichern abends, das tut ebenfalls gut.)
Genau so super, aber ganz anders war das „große“ Schreibcamp im Juni, als wir zu neunt für eine Woche diesen irre schön renovierten Gutshof an der Mecklenburgischen Seenplatte gemietet hatten. Das taugte weniger, um tatsächlich zu schreiben, aber wir haben den ganzen Tag übers Schreiben geredet, gegenseitig Texte gelesen und drüber gesprochen, kleine Workshops gehalten, und das war alles ganz und gar großartig, inspirierend, hilfreich, lustig und überhaupt: ein Highlight des Jahres.

Kurz drauf bin ich 50 geworden. FÜNFZIG! Nicht zu fassen. Ein bisschen hat mich das schon erschreckt, jedenfalls deutlich mehr als 30 und 40. Kurz vor dem Geburtstag hat man mir auch noch die Schilddrüse rausgenommen, das ist keine Riesensache im Vergleich zu dem, was andere so haben, aber es trug zu dem Gefühl bei: Jetzt bist du alt, jetzt gehen die Einzelteile kaputt.
Andererseits … als ich mit Anfang 20 in einer WG wohnte, wurden gleichzeitig Alice Schwarzer und Ulrich Wickert 50. Es gab ein großes Gespräch zwischen den beiden der ZEIT (glaube ich) mit der Überschrift „50 klingt so erwachsen“. Das fanden wir in der WG so lustig, dass wir es uns an die Küchenwand gehängt haben. Natürlich ist 50 erwachsen! Fanden wir. Inzwischen verstehe ich sehr gut, was sie meinten. Ich fühle mich auch nicht so erwachsen wie 50 klingt, und ich hoffe sehr, dass das mit 80 noch genauso ist.

Im Sommer waren wir in Apulien, das war wahnsinnig schön. Herrliches Wetter, sehr schöne Unterkunft und lauter wunderhübsche Kleinstädte. Perfekter Urlaub, viel gelesen und herumgestromert, viel Sonne und Wasser bekommen. Überhaupt: Was für ein Sommer! Einfach mal zuverlässig jeden Tag 30°C, genau meine Temperatur, meinetwegen hätte dieser Sommer ewig weitergehen können. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt so viel draußen war, ich habe gar nicht genug bekommen. Der Rest des Jahres ist dann irgendwie so versickert. Im September war Schreiben angesagt, im Oktober Buchmesse und ein paar Lesungen, unter anderem die große Benefizlesung zugunsten von Seawatch in der Katharinenkirche, mit sechs AutorInnen und 900 Gästen. Wo der November hin ist, ist mir vollkommen schleierhaft, und der Dezember, naja, man kennt das. Im Moment übersetze ich mal wieder, aber dann muss mein eigener Roman fertigwerden.

Das Schönste an 2018 waren die Begegnungen. Es gab ein paar neue Freundschaften und ein paar, die sich intensiviert haben. Und die mich alle sehr glücklich machen. Manche Leute purzeln einem einfach so ins Leben und fühlen sich gleich richtig an. Danke – you know who you are.
Ich war insgesamt ziemlich viel unterwegs. Habe viele Leute getroffen, war im Kino, auf Konzerten, im Theater, hatte Gäste, habe gefeiert, gelacht, geküsst, getrunken, gezweifelt, gehadert, gekämpft, Lesungen gemacht, auf Podien gesessen, bin ausgegangen und gereist und hatte sehr viel Leben. Ich fühle mich auf die allerbeste Weise angekommen, im Literaturbetrieb, in Hamburg, im Leben. Danke, Leben. Du rockst.

Kommt alle gut ins neue Jahr!

Amos Oz

Einmal habe ich ihn am Geräteschuppen aufgehalten. Habe gefragt, was er liest.
Boas zuckte die Achseln und antwortete widerstrebend, „’n Buch. Warum?“
Ich wollte wissen, welches Buch.
„Sprachbuch.“
Das heißt?
„Grammatik für Mund und Ohr. Dass mit der Rechtschreibung und all dem mal Schluss ist.“
Kann man ein „Sprachbuch“ lesen, als sei es Unterhaltungslektüre zum Zeitvertreib?
„Worte und das“, er schenkt mir sein bedächtiges Lächeln, „das ist wie Menschen kennen. Woher sie stammen. Wer mit wem verwandt ist. Wie jeder sich in allen möglichen Situationen verhält. Und außerdem“ (er zögert, schickt die rechte Hand auf eine lange Reise um seinen riesigen Schädel, um sich damit die linke Schläfe zu kratzen, eine unlogische und doch fast königliche Geste), „und außerdem gibt’s das gar nicht: Zeit vertreiben. Die Zeit vergeht überhaupt nicht.“
Vergeht nicht? Was soll das heißen?
„Was weiß ich? Vielleicht isses umgekehrt. Dass wir in der Zeit weitergehen. Was weiß ich? Oder dass die Zeit die Menschen verbringt.“

Amos Oz: Black Box. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama.

Jetzt ist auch noch Amos Oz gestorben, mit nur 79 Jahren. Ich hatte doch eigentlich gefunden, es sei mal wieder genug gestorben worden. Möge ihm die Erde leicht sein.

Vom Laufen

Beim Laufen im Park wurde mir soeben mitgeteilt, ich zitiere im Wortlaut:

„Dein Hintern ist Pudding!“

Ich bin schockiert. Ehrlich. Wie verroht muss man sein, um jegliche Achtung vor dem Gebrauch kontextadäquaten Vokabulars fahren zu lassen? Ich meine, wer wildfremden Leuten im Park gänzlich ungeniert mitteilt, dass er Teile ihres Körpers für eine süße Nachspeise hält, der benutzt doch bitte nicht so einen verschämten, um nicht zu sagen: verklemmten Ausdruck wie Hintern. Da kann man doch verfickt noch mal bitte Arsch sagen, wie sich das gehört! Wo kommen wir denn sonst hin – als nächstes wird man noch gesiezt oder was? „Verzeihung, gnädige Frau, Ihr Allerwertester ist Crème Brûlée“? Nee, nee, nee, da wollen wir doch mal bitte schön die Contenance bewahren.

F. W. Bernstein

Bilanz

Hab keine Romane geschrieben;
keine einzige Sinfonie.
Mein Umsturz ist Stückwerk geblieben;
wie meine Tanztheorie.

Nicht eine Kathedrale!
Kein Dachgeschoß ausgebaut!
Und wenn ich mal male,
wird’s Mist.

Nie im Puff und keine Visionen,
kein Sieg, keine Oper, kein Mord.
Kein Starkult und keine Millionen,
kein Hit, kein Hut, kein Rekord.

Nobelpreis? Nix draus geworden.
Kein Kriegsheld, Konzernherr, null Orden.
Tor des Monats, Befreiungskampf, Geige?
Macht? Schönheit? Genie? – Fehlanzeige.

Nur dieses kleine Gedicht.
Reicht das nicht?

(F. W. Bernstein: „Die Gedichte. Das heißt in diesem Falle alle.“ Verlag Antje Kunstmann.)

Nein, das reicht nicht. Wir hätten noch mehr davon gewollt. Ja, NOCH mehr.
Ach Mann. Ist mal genug gestorben jetzt, ja? Danke. Bitte hört damit auf.

Wilhelm Genazino

Ich setze mich auf eine Holzbank und schaue auf das Gestrüpp neben der Bank. Es gefällt mir sehr gut, weil es nichts als sein eigenes Ausharren ausdrückt. Ich möchte so sein wie dieses Gestrüpp. Es ist täglich da, es leistet Widerstand, indem es nicht verschwindet, es klagt nicht, es spricht nicht, es braucht nichts, es ist praktisch unüberwindbar. Ich empfinde Lust, meine Jacke auszuziehen und sie in hohem Bogen in das Gestrüpp zu werfen. Auf diese Weise hätte ich vielleicht Anteil an der Beharrungskraft des Gestrüpps. Schon das Wort Gestrüpp beeindruckt mich. Es ist vielleicht das Wort für die Gesamtmerkwürdigkeit allen Lebens, nach dem ich schon so lange suche. Das Gestrüpp drückt meinen Schmerz aus, ohne mich anzustrengen. (Ein Regenschirm für diesen Tag, S. 93/94)

Wilhelm Genazino ist gestorben. Sehr traurig. Er war erst 75 Jahre alt. Gerade habe ich das Wort „Gestrüpp“ in meine Übersetzung geschrieben.

(Hier ist ein schöner Nachruf von Jo Lendle.)

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