Bilanz
Hab keine Romane geschrieben;
keine einzige Sinfonie.
Mein Umsturz ist Stückwerk geblieben;
wie meine Tanztheorie.
Nicht eine Kathedrale!
Kein Dachgeschoß ausgebaut!
Und wenn ich mal male,
wird’s Mist.
Nie im Puff und keine Visionen,
kein Sieg, keine Oper, kein Mord.
Kein Starkult und keine Millionen,
kein Hit, kein Hut, kein Rekord.
Nobelpreis? Nix draus geworden.
Kein Kriegsheld, Konzernherr, null Orden.
Tor des Monats, Befreiungskampf, Geige?
Macht? Schönheit? Genie? – Fehlanzeige.
Nur dieses kleine Gedicht.
Reicht das nicht?
(F. W. Bernstein: „Die Gedichte. Das heißt in diesem Falle alle.“ Verlag Antje Kunstmann.)
Nein, das reicht nicht. Wir hätten noch mehr davon gewollt. Ja, NOCH mehr.
Ach Mann. Ist mal genug gestorben jetzt, ja? Danke. Bitte hört damit auf.
Ich setze mich auf eine Holzbank und schaue auf das Gestrüpp neben der Bank. Es gefällt mir sehr gut, weil es nichts als sein eigenes Ausharren ausdrückt. Ich möchte so sein wie dieses Gestrüpp. Es ist täglich da, es leistet Widerstand, indem es nicht verschwindet, es klagt nicht, es spricht nicht, es braucht nichts, es ist praktisch unüberwindbar. Ich empfinde Lust, meine Jacke auszuziehen und sie in hohem Bogen in das Gestrüpp zu werfen. Auf diese Weise hätte ich vielleicht Anteil an der Beharrungskraft des Gestrüpps. Schon das Wort Gestrüpp beeindruckt mich. Es ist vielleicht das Wort für die Gesamtmerkwürdigkeit allen Lebens, nach dem ich schon so lange suche. Das Gestrüpp drückt meinen Schmerz aus, ohne mich anzustrengen. (Ein Regenschirm für diesen Tag, S. 93/94)
Wilhelm Genazino ist gestorben. Sehr traurig. Er war erst 75 Jahre alt. Gerade habe ich das Wort „Gestrüpp“ in meine Übersetzung geschrieben.
(Hier ist ein schöner Nachruf von Jo Lendle.)
Einer hat sich von seiner Liebsten getrennt. Nicht, weil da keine Liebe mehr wäre oder zu wenig, oder weil es zwischen ihnen nicht mehr funktionieren würde, sondern weil er katholischer Priester ist und es nicht mehr aushält. Liebe deinen Nächsten, sagt die Kirche, aber wenn du bei mir arbeiten möchtest, gefälligst nur platonisch. Und was, Kirche, ist eigentlich mit dem Thema Verzeihen? Ihr könnt einem Menschen nicht verzeihen, dass er liebt? Es zerreißt ihn, und seine Liebste mit.
Ein Sohn zieht zu Hause aus, und anderswo eine Tochter. Loslassen mit Freude und Sorge und Wehmut und dem Wissen, dass es richtig ist und nur ein bisschen Loslassen und nicht komplett.
Einer musste seinen Hund einschläfern lassen. So ein Baum von einem Mann, er ist innen drin ganz weich, glaube ich, deswegen hat er außen rum so eine Schutzschicht aus Ironie und Bart und Gebrumm, aber manchmal, da macht er die Tür auf und man kann ein bisschen reingucken, und dann ist es da drin warm und schön. Er schreibt: „Das ist der letzte Weg, den ich mit meinem Kumpel gehe“, und es bricht mir das Herz. Er war sein Kumpel, dieser Hund, ich kannte den Hund nicht, aber wenn er über ihn sprach, dann hat man das gemerkt. Am nächsten Morgen frage ich, wie es ihm geht. „Beschossen wär noch geprahlt“, schreibt er, und dann, dass das „beschissen“ heißen sollte, und ich sage: „Ich versteh dich auch beschossen.“
Paare trennen sich, meistens ist das gut so, aber nie geht es ohne Schmerz. Manche hatten schon lange losgelassen, es sich aber nie eingestanden. Manchmal gibt es ein Gezerr um die Kinder, dabei können die am wenigsten dafür, alle sind überfordert. Manchmal können Menschen, die sich einmal geliebt haben, nicht mehr miteinander reden. Vielleicht würde es besser gehen, wenn sie losließen. Verzeihen hat mit Loslassen zu tun.
Bei einer wurde eingebrochen. Ihr Schmuck wurde geklaut – Familienerbstücke, Erinnerungsstücke an besondere Momente im Leben, Urlaubsmitbringsel. Alles nicht viel Geld wert, aber es hingen Erinnerungen dran. Man soll sein Herz nicht an Dinge hängen, aber das tut man, man gewinnt Gegenstände lieb, sogar dann, wenn man sie gar nicht mehr trägt, wenn man sie nur einmal im Jahr beim Aufräumen findet und jedes Mal denkt, „ach, das hast du damals in Kroatien auf dem Markt gekauft“. Es ist nicht der materielle Wert.
Eine muss sich von ihrem Kinderwunsch verabschieden. Ihr Mann auch, aber für Männer ist es anders, als Frau ist die Zeit irgendwann vorbei. Der Abschied kommt schleichend, über Jahre, und das sind Jahre der monatlichen Hoffnung und monatlichen Enttäuschung, der zermürbenden Behandlungen und der noch schlimmeren Bemerkungen von Freunden, Kolleginnen, Familie. Mit der Zeit werden die Kommentare weniger, und den Schmerz wickelt man vorsichtig in weiche Tücher, damit er nicht mehr so scharfkantig ist, aber weggehen wird er nicht, und sein Gewicht behält er. Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke.
Zwei haben Krebs. Eine ist alt und der Krebs vielleicht in den Griff zu kriegen, das ist noch nicht ganz klar. Eine ist jung und der Krebs der Brutalste, den man haben kann. Vernichtend. Ich kann mir dieses Loslassen nicht mal im Ansatz vorstellen. Das Leben loslassen. Die geliebte Person loslassen, endgültig und für immer, einfach nur so, weil Krebs ein Arschloch ist. Wie soll das gehen.
Wir wissen, dass alles, was kommt, auch wieder geht.
Warum tut es dann immer wieder und immer mehr weh?
(Gundermann)
Irgendwann im November kommt eine Rundmail von meiner Freundin Simone an sechs oder acht Autorinnen und Autoren: Ob wir nicht mal mit ein paar Leuten ein nettes Haus irgendwo mieten wollen, für eine Woche oder ein paar Tage, und dort schreiben und über das Schreiben sprechen und vielleicht kleine Workshops machen. Fast alle sagen sofort zu, und dann dauert es keine zwei Wochen, bis wir einen Termin erdoodelt, 10 Leute zusammengesucht und das wirklich umwerfend schöne Gutshaus Lexow gemietet haben. Und dort waren wir nun letzte Woche, leider nur zu neunt, weil einer kurzfristig absagen musste.
Das Gutshaus ist das Paradies. Wunderschön renoviert, die Zimmer sind riesig, wir haben jeder ein Doppelzimmer, also genügend Platz, um sich auch mal zurückzuziehen, falls man mal allein sein möchte oder irgendjemand nervt. Es nervt aber niemand. Nicht alle kannten sich vorher, ich kannte ungefähr die Hälfte, teils nur flüchtig. Alle sind kluge Leute mit einem speziellen Humor, alle haben offenbar sehr ähnliche Vorstellungen davon, was wir hier wollen. Wir wollen reden und arbeiten und mehr reden und es gut haben und essen und trinken und arbeiten und lachen und baden.
Am ersten Abend setzen wir uns zusammen und jeder sagt, was er gern lernen möchte, worüber er reden möchte. Und jemand anders sagt „dazu kann ich was sagen“. Und wir erzählen uns, woran wir gerade arbeiten, wie weit wir sind, und daraus ergeben sich neue Gesprächsthemenwünsche, die alle auf Post-its an die Wand geklebt werden. Wir überlegen uns, was wir wann machen wollen, was besonders dringend ist, was sich zusammenfassen lässt, und sortieren die Post-its neu.
Und dann machen wir sechs Tage lang das, worauf wir uns sechs Monate lang gefreut haben. Manche laufen morgens eine Runde. Frank macht Rührei. Tatjana geht in den Garten, Kräuter ernten. Ich werfe Beeren in Joghurt. Ein- oder zweimal am Tag setzen wir uns zusammen und reden über ein Thema. Wir brainstormen unter Anleitung nach einem bestimmten System zu Franks Sujet. Wir reden übers Plotten, über Sex und Gewalt, über Dialoge, Rhythmus, Hörspiele und Interviews, über Verlage und Motivation und Scheitern. Immer nur die, die wollen; niemand muss an irgendwas teilnehmen, es gibt keine Regeln, wir sind ja alle freiwillig hier und weil wir etwas wollen. Wir lernen Boxen, weil Romy das für den nächsten Roman braucht und Markus es kann und zwei Paar Handschuhe mitgebracht hat. Wir baden im nahen See, ich springe als einzige auf dem Trampolin herum und lasse mich auf der Slackline festhalten (was ist los mit euch, Leute?).
Wir sitzen im Garten, auf der Terrasse oder im Haus und arbeiten still vor uns hin, wir geben einander etwas zu lesen und sprechen zu zweit oder in Kleingruppen darüber. Angélique erklärt mir ganz viel über meine Figur. Ich fange an, Simones Fahne zu lesen, komme aber nicht weit. Vier von uns lassen sich von einer Aromatherapeutin in die totale Entspannung massieren. Nachmittags fahren zwei oder drei vielleicht mal einkaufen, jemand anders kocht oder grillt oder wirft Salat zusammen, und die nächsten räumen hinterher alles weg und machen die Küche wieder klar. Niemand ist schwierig in Sachen Essen oder Geld oder sonstwas. Abends spielen wir tatsächlich Flaschendrehen oder Personenraten, wir singen und tanzen, manche sogar auf dem Tisch, eine muss hinterher den Besen mit ins Bett nehmen, und wir können nicht mehr aufhören zu lachen. Wir vereinbaren eine Anspielung, die wir alle in unseren respektiven nächsten Romanen unterbringen wollen. Am vorletzten Abend machen wir eine Lesung, zu der (leider) so wenig Leute kommen, dass wir (zum Glück!) doch nicht an neun verschiedenen Stellen lesen, sondern alle nacheinander im Café, sodass wir einander auch hören können, und das ist viel schöner, als wenn jeder seins gemacht hätte.
(Zwischen Simone und mir die Buchhändlerin, die bei der Lesung den Büchertisch gemacht hat.)
Am letzten Tag fahren wir alle zusammen an den See und baden und paddeln oder sitzen einfach in der Sonne herum, und es ist so unfassbar und umwerfend idyllisch und schön, dass man fast ein bisschen weinen möchte, und das sieht man im Wasser zum Glück nicht.
Wir haben uns ein halbes Jahr lang auf diese Woche gefreut. Wir hatten große Hoffnungen. Aber dass es so großartig wird, konnte keiner ahnen. So konstruktiv und produktiv und motivierend und inspirierend und lustig und lecker und erholsam und wundervoll. Oder wie Romy auf Facebook schrieb: Wir kamen als Kollegen an und reisen als Freunde wieder ab.
Danke an alle. Vor allem an Simone Buchholz für den Anstoß. Und an Romy Fölck, Markus Friederici, Anja Goerz, Tatjana Kruse, Angélique Mundt, Till Raether und Frank Spilker für generelles Supersein und eure Wärme. Ich habe da jetzt etwas im Herzen, was da bleiben wird.
(Alle Fotos sind von Anja Goerz.)
Das erste Buch, das ich übersetzt habe, hieß „Gärten auf kleinstem Raum. Ideen für die Fensterbank, Balkon, Hof und Hauseingang.“ Nicht wirklich mein Thema, aber es war der Moment, in dem ich zum ersten Mal in meinem Leben dachte: Das ist es, was ich machen will. Ich will Bücher übersetzen. Da habe ich ein bisschen Zeit, mich in ein Thema einzuarbeiten, kann mit der Sprache arbeiten, und am Ende habe ich ein Produkt in der Hand, das schön aussieht und in dem mein Name drinsteht. Das will ich machen. An Literatur habe ich damals noch nicht gedacht, Literatur war etwas „Großes“, was große Leute machten, die etwas konnten. Ich doch nicht. Aber ich wollte übersetzen, und ich hatte das Gefühl, dass ich darin eines Tages ganz gut werden könnte. Dass es mir liegt und mir Spaß macht. Und dass ich gut werden wollte. Ich hatte zum ersten Mal im Leben Ehrgeiz.
Der Übersetzerverband nahm einen damals erst auf, wenn man schon zwei Bücher übersetzt hatte. Mein zweites hieß „Selbstgemachte Kerzen und Potpourris“. Sobald ich es fertig hatte, trat ich in den VdÜ ein und bewarb mich auch sofort auf mein erstes Seminar: Sachbuchübersetzen bei Irene Rumler und Klaus Stadler. Das Seminar fand im Europäischen Übersetzerkollegium in Straelen statt, und ich war komplett geflasht. Erstens davon, dass es da ein Arbeitszentrum für Übersetzer gibt, wo man für eine begrenzte Zeit wohnen und arbeiten kann und die größte Übersetzer-Spezialbibliothek der Welt zur Verfügung hat. Und Kolleginnen, die ebenfalls übersetzen. Und dann natürlich vom Seminar, mit richtigen Übersetzerinnen, die teilweise schon zehn Bücher oder so übersetzt hatten, und zwar richtige! Nicht nur so Potpourriquatsch. Ich telefonierte jeden Abend mit dem lustigen Mann und blubberte ihn stundenlang voll damit, was ich alles Tolles gelernt hatte und wie großartig alles war.
Seit diesem Seminar wartete ich darauf, ein Buch zum Übersetzen zu bekommen, mit dem ich mich ins EÜK traute, ohne Seminar, um dort einfach an meiner eigenen Übersetzung zu arbeiten. Nach ein paar eher unaufregenden Jugendsachbüchern bekam ich einen sehr schönen Bildband über Bar- und Clubdesign. Das war doch etwas Vorzeigbares, fand ich, und fuhr für zwei Wochen zum Arbeiten nach Straelen.
Eine der ebenfalls dort arbeitenden Kolleginnen war Maria Csollány. „Die Mau“. Sie hat mir sofort das Du und das „Mau“ angeboten, wir waren ja Kolleginnen und ich ganz gerührt, dass sie das so sah. Eine ältere Dame, die für ihre Lyrik-Übersetzungen aus dem Niederländischen gerade erst den Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie bekommen hatte. Eine große alte Dame. Eine kleine alte Dame mit einem sehr feinen, leisen Humor und einer unglaublich liebevollen Zugewandtheit und großem Interesse an mir jungem Hüpfer. Ich gestand, dass ich mich kaum hergetraut hatte, mit meinen popeligen Potpourribüchern, wo doch lauter so große Leute wie sie dawaren. „Ach, weißt du“, sagte sie, „ich habe in den siebziger Jahren angefangen mit Büchern über Makramee und Kochen aus der Tiefkühltruhe.“
Jetzt ist Maria Csollány im Alter von 86 Jahren gestorben.
Gute Reise, Mau. Wir haben uns danach nur noch ein, zweimal irgendwo gesehen, aber ich habe immer wieder an dich gedacht. Wie viel Mut mir dieser kleine Satz gemacht hat.