Was ist das denn für eine beknackte Frage? Ich habe mit fünf Jahren lesen gelernt, wie soll ich denn jetzt noch wissen, was mein erstes Buch war? Ich weiß ja schon nicht, was ich letzte Woche gelesen habe. Und: solange man noch nicht lesen kann, fällt doch wohl auch Bilderbücherangucken unter „Lesen“, oder? Und was ist mit Vorgelesenkriegen? Zählt das? Und wenn man beim Lesenlernen immer mal einen Satz liest, und dann liest Mama wieder einen Absatz vor? Neenee, so eine Frage kann kein Mensch beantworten.
Ich könnte aber, wo das gestern so schön war, noch ein bisschen beim Thema Weinen bleiben. Hier kommt also stattdessen
das erste Buch, bei dem ich Rotz und Wasser geheult habe:
„Mio, mein Mio“ von Astrid Lindgren (Karl Kurt Peters). Und da lag es am Buch, nicht an den Umständen.
Meine Güte, das arme Waisenkind. (Waisenkind? Ich glaube.) Und wie er dann so was ähnliches wie stirbt und zu seinem Vater in ein Zauberreich kommt. Das ist schon so rührend. Und dann der böse Ritter Kato, der Kinder entführt und sie in Krähen verwandelt (ja? Nagelt mich nicht auf Details fest). Und dann muss der kleine Junge dem bösen Ritter Kato mit einem besonderen Schwert das Herz aus Stein rausschneiden. Wie furchtbar ist das denn! Ein Herz aus Stein! Und das muss er ihm rausschneiden! Un! fass! bar! Rotz und Wasser! Einen Fluss habe ich geheult! Keine Ahnung, wie alt ich da war, vermutlich ungefähr zehn. Eine erfahrene Leserin. Mio, mein Mio war heftig, sehr tränenreich, aber das war auch toll irgendwie, an das Gefühl erinnere ich mich noch. Und ich mag es auch heute noch, bei Büchern zu heulen. (Aber ich bin eh eine Heulsuse, ich heul ja schon bei der Merci-Werbung.)
PS: Eine Freundin unterrichtet an einer berufsbildenden Schule angehende Fremdsprachenkorrespondentinnen, also Menschen, die sich beruflich mit Sprache beschäftigen wollen, die meisten haben Abitur, sind also zwischen 17 und 20 Jahre alt und haben nicht erst gestern lesen gelernt. Eine Schülerin kam zu ihr und erzählte ganz stolz, sie habe ja noch nie ein Buch gelesen, aber jetzt habe sie eins angefangen. Harry Potter. Sie habe schon 20 Seiten gelesen! Und es gefalle ihr! „Mal sehen, ob ich das durchhalte.“ Wahrscheinlich weiß sie auch mit Anfang 40 noch, was ihr erstes Buch war.
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Johannes Mario Simmel: Doch mit den Clowns kamen die Tränen.
Schon wieder Simmel. Der Ort, an den mich dieses Buch erinnert, ist ein Flugzeug der AeroFlot, und mir kamen auch die Tränen. Schlimme, heiße, bittere Tränen, viele Stunden lang. Aber da konnte das Buch nichts für.
März 1991. Ich flog nach Tokyo, um ein Jahr dort zu bleiben. Am Frankfurter Flughafen hatte ich mich vom Liebsten verabschiedet. Wenn ich aus Tokyo zurückkommen würde, würde er in Schottland sein – wir würden uns anderthalb Jahre nicht sehen, genauso lange, wie wir zusammen waren. Kann sich jeder ausrechnen, dass so was nicht gutgehen kann, wenn man sich so lange nicht sieht und jeder in der Zeit so viel Neues erlebt. Ich hatte den Frankfurter Flughafen nassgeweint, ich weinte das Flugzeug voll. Von Frankfurt bis Moskau saß eine Gruppe junger Russen um mich herum, von denen einer Geburtstag hatte. Sie feierten und fanden, ich solle nicht so traurig sein, sondern lieber was trinken. „Trink, Mädchen, trink! Nicht weinen.“ Campari pur. Und noch einen. Ich weinte, sie schenkten mir Campari ein. Und stiegen in Moskau aus. War wahrscheinlich gut, sonst wäre ich gleich mit Alkoholvergiftung in Tokyo angekommen.
Auf der deutlich längeren Strecke von Moskau nach Tokyo war ich allein mit 200 Japanern, meinem Schmerz, meinen Tränen, meiner Betrunkenheit, meiner Müdigkeit und meinem Buch. Ich las „Doch mit den Clowns kamen die Tränen“ gegen meine Tränen an. Sobald ich das Buch weglegte, musste ich weinen, weinen, weinen, ich hätte gern geschlafen, aber es ging nicht, ich war von diesem Mann weggegangen, obwohl ich das überhaupt nicht wollte, bloß weil das Studium es so vorsah und wir „vernünftig“ waren, ich wollte bei ihm sein und ihn bei mir haben und mit ihm zusammen sein, und jetzt würde ich ihn anderthalb Jahre nicht sehen, nicht anfassen, nicht riechen, eine endlose Zeit, das Gefühl schnürte mir die Brust zu und machte einen Klumpen in meinen Hals, und ich weinte. Also nahm ich das Buch, um mich vom Weinen abzulenken. Ich war zum Umfallen müde, vom langen Flug und vom Weinen und vom Alkohol, mir fielen die Augen von selbst zu, aber sobald ich das Buch weglegte, musste ich wieder fürchterlich weinen, ich konnte nicht aufhören, ich kam nicht dagegen an, alles tat weh. Alles tat weh. Also las ich, und weinte, und las, und weinte. Was in Tokyo ankam, war ein Häufchen Elend. Ein mickriges, heulendes, übermüdetes, jämmerliches Häufchen Elend, ein trauriger Clown, der traurigste der Welt.
Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon dieses Buch handelt.
PS: Es gab dann doch noch ein Happy End. Mit dem Mann bin ich immer noch zusammen.
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(Hat jemand bestimmt, man dürfe jede Frage nur einmal beantworten? Also.)
Johannes Mario Simmel: Es muss nicht immer Kaviar sein.
Das Buch erinnert mich an meinen Opa, aus dessen Bücherschrank es stammt. Deswegen erinnert es mich außerdem an meine Tante Ingrid, denn sie lebt immer noch in Opas Haus, und Opas Bücherschrank steht immer noch dort, wo er immer stand. Mein Opa starb 1983, da war ich fünfzehn. Wahrscheinlich habe ich es also noch von ihm selbst bekommen, denn ich bin ziemlich sicher, dass ich es im Krankenhaus gelesen habe, als ich mit Windpocken darnierderlag. Und da war ich, glaube ich, noch etwas jünger.
Jedenfalls war Doppelagent Thomas Lieven die erste (und wahrscheinlich einzige) Romanfigur, in die ich mich je verliebt habe. So ein Gentleman, so cool und klug und schön und mutig und überhaupt perfekt. Und kochen konnte er auch noch. Ein paar Jahre lang wäre „Es muss nicht immer Kaviar sein“ die Antwort auf die Frage nach dem Buch gewesen, das ich immer wieder lese. Jetzt allerdings habe ich es bestimmt schon zwanzig Jahre nicht mehr gelesen. Vielleicht sollte ich es noch mal versuchen. Vielleicht auch lieber nicht.
Ich habe auch noch zwei-drei weitere Simmels versucht, so mit um-die-zwanzig. Haben alle nicht so eingeschlagen. Und irgendwann lief der Film zum Buch, den habe ich aber nur zwanzig Minuten ausgehalten: das Grauen! Der hat mit dem Buch gar nichts zu tun, Heinz Rühmann O. W. Fischer als unbeholfen herumstolpernder Thomas Lieven, das ist ungefähr das Gegenteil des echten Thomas Lieven, es ist ein Schimpf und eine Schande, ich war sauer und habe den Fernseher ausgemacht.
Den ersten Satz kann ich immer noch auswendig:
„Wir Deutschen, liebe Kitty, können ein Wirtschaftswunder machen, aber keinen Salat“, sagte Thomas Lieven zu dem schwarzhaarigen Mädchen mit den angenehmen Formen.
Das Buch riecht immer noch nach Opa. Aber möglicherweise riecht das außer mir niemand.
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Gilt auch mit für das Bücherstöckchen, Tag 12 – Ein Buch, das du von Freunden / Bekannten empfohlen bekommen hast
(Hat wer behauptet, man müsse das der Reihe nach beantworten? Also.)
Die erste, die mir das Buch empfiehlt, ist Lady Grey. Ein tolles Buch sei das, es gehe um eine Frau, deren Mann gestorben ist, und eines Tages sitzt ein älterer Herr im Anzug auf ihrem Badewannenrand. Er ist schon tot, ein Geist, und bleibt fortan bei ihr. Und dann taucht eines Abends noch ein Feuerwehrmann auf. Und das sei ganz toll. Ich zweifle kurz an Lady Greys geistiger Gesundheit und denke dann nicht weiter drüber nach.
Dann eine andere Freundin: ob ich schon die Herrenausstatterin gelesen hätte? Ich frage zurück, ob das das mit dem Geist ist, ja, sagt sie, und ich sage, ach nee, lass mal. Geister echt nicht. Beide Freundinnen beteuern, durchaus noch bei Verstand zu sein, und dass das ein tolles Buch sei.
Als nächstes taucht es auf irgendwelchen Longlists auf, die Buchhändlerin empfiehlt es, schließlich erzählt mir irgendwer, Mariana Leky sei die Freundin von Tilman Rammstedt, und zack! Auf einmal will ich es unbedingt lesen. Der Roman beginnt so:
Alles hätte gut und gern so weitergehen können, aber dann ist alles zerbrochen, was, wie Blank später sagte, ein sicheres Zeichen dafür ist, dass es eben nicht so habe weitergehen können, auch wenn ich das geglaubt hatte. Was man selber glaubt, ist, auch das sagte Blank später, manchmal unmaßgeblich in der Frage, ob etwas zerbrochen gehört oder nicht.
Blank ist überhaupt ganz klug, aber glücklicherweise ziemlich zurückhaltend. Er ist eines Tages plötzlich da und bleibt. Und rettet Katja das Leben, denn ohne ihn wäre sie nach dem Tod ihres Mannes wahrscheinlich verrückt geworden oder sonstwie zugrunde gegangen. Anders gesagt: She have Wackelkontakt with Realität. Und dann taucht plötzlich noch jemand auf: Armin, angeblich Feuerwehrmann, kleinkriminell, Karatefilm-Fan und auch sonst nicht im geringsten auf Katjas Wellenlänge. Armin kann Blank nicht sehen, akzeptiert aber, dass er da ist. Diese beiden Männer holen Katja langsam wieder ins Leben zurück, und das ist alles sehr grotesk und sehr, sehr wunderbar. Tatsächlich erinnert es mich an Tilman Rammstedt, insofern als es sich selbst in all seinem Unernst total ernst nimmt. Oder umgekehrt, wer weiß das schon, kommt wahrscheinlich sowieso auf eins raus. Es hat einen eigenen, wunderbaren Ton, einen ganz großartigen Humor, der sich nie über irgendwas lustig macht, ich musste einige Male laut lachen, dabei ist das natürlich alles überhaupt nicht komisch, sondern eigentlich traurig und melancholisch. Und dann steckt auch noch so viel Wahrheit drin, über Beziehungen und Liebe und Leidenschaft und über den Tod. Und es hat ein Tempo, dass man es ganz schnell durchliest. Ich bin komplett begeistert und möchte, dass Ihr alle sofort in die nächste Buchhandlung geht und dieses Buch kauft. Weil es wundervoll, wundervoll, wundervoll ist.
Mariana Leky: Die Herrenausstatterin. DuMont, gebunden, 207 Seiten. 18,95 €
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Eins vorweg: liebe Verlage, was ist das eigentlich für eine grauenhafte Unsitte, in Titeln die Satzzeichen wegzulassen? Kommt mir nicht damit, die Coverdesigner würden keine Kommas mögen. Das ist Unfug, denn die beschließen ja auch nicht plötzlich, dass der Buchstabe E nicht schön aussieht und lassen ihn weg. „Frauen die Prosecco trinken“, „Alles was du siehst“, „Man kann sich auch wortlos aneinander gewöhnen das muss gar nicht lange dauern“, und jetzt „Ich wär gern wie ich bin“ – was um alles in der Welt soll das? Es macht mich geradezu fertig, es führt tatsächlich dazu, dass ich schon einen sehr, sehr triftigen Grund brauche, um so ein Buch zu lesen. Ansonsten gehe ich mit hör- und sichtbar gerümpfter Nase, ja, durchaus mit lautstark geäußerter Empörung an diesen Büchern vorbei und kaufe sie sicher nicht. Was soll ein Buch schon taugen, bei dem nicht mal der Titel richtig geschrieben ist? Und ja, Zeichensetzung gehört zum Richtigschreiben. Ende der Durchsage.
Der triftige Grund, das Buch trotzdem zu lesen, war diesmal, dass die Übersetzerin Ebba Drolshagen so begeistert davon war. Begeisterte Übersetzer sind überhaupt immer ein guter Grund, ein Buch zu lesen. Denn niemand kennt das Buch so gut wie sein Übersetzer, und wir sind meist ziemlich kritisch. Weil wir gründlich sind und die ganzen Macken und Fehler und Unschärfen usw. bemerken, die man beim reinen Lesen leichter überliest. Beim Übersetzen kann man sie nicht überlesen. Wenn der Übersetzer das Buch also auch noch toll findet, nachdem er mit dem Übersetzen fertig ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um ein sehr gutes Buch handelt, ziemlich hoch.
Quod erat demonstrandum.
Und gleich noch eine Übersetzerbehauptung hinterher: wenn der Übersetzer das Buch liebt, wird die Übersetzung gut. (Diese Behauptung allerdings ist natürlich total wacklig und aus allen denkbaren Richtungen anfecht- und unhaltbar. Na und?) Will sagen: dies ist ein wundervolles Buch, und es ist wundervoll übersetzt. Demnächst muss ich unbedingt mal etwas darüber schreiben, wieso ich das einfach so behaupten kann, ohne dass ich auch nur ein Wort Norwegisch verstünde. Natürlich habe ich nicht ins Original geguckt. Aber dieses Buch hat einen sehr eigenen Ton, und das reicht mir, denn er ist wundervoll und überzeugend. So leise und innig und intensiv und leidenschaftlich und klug und manchmal verzweifelt – so wie die Frauen (und Männer), die hier beschrieben werden. (Wobei die nicht alle leise sind, manche sind eher laut.) Alle sind auf der Suche; zum einen nach der Liebe, oder nach Heilung von der zerbrochenen Liebe, und zum anderen nach künstlerischer und/oder intellektueller Erfüllung. Lauter kluge Frauen, und ich stelle sie mir alle vor wie die Autorin auf dem Foto hinten in der Klappe: wunderschön. Und keineswegs in zu großen Männerhemden. Was für ein wunderbares Thema für eine literatur- oder filmwissenschaftliche Arbeit! Der Roman beginnt so:
Hier sehen wir Sigrid. Es ist neun Uhr morgens, es ist Januar, und es ist das Licht im Januar 2008, das den Raum hart, aber verlässlich durchflutet, mit einer Farbtemperatur von 5600 Grad Kelvin, der Farbtemperatur von normalem Tageslicht und somit der großen Scheinwerfer, die man mitunter, um in einem Film Tageslicht zu simulieren, vor einem Fenster aufstellt und durch das Fenster strahlen lässt, deren Licht uns, die wir draußen verübergehen und nur die Scheinwerfer, nicht aber deren Effekt im Zimmer sehen, aber viel zu grell erscheint, um Tageslicht zu sein. In diesem natürlichen Tageslicht also sitzt Sigrid am Schreibtisch, der an der einen Wand steht. Sie schaut nachdenklich, die Haare hängen ihr ins Gesicht, hin und wieder zieht sie an den Haaren, vermutlich unbewusst, denn Sigrids Gesicht verrät, dass sie von all dem, was sie in der Hand hält und betrachtet, völlig absorbiert ist: ein Buch mit dem Schwarzweißportrait eines Mannes.
Damit ist ja schon einiges angelegt. Viele Kapitel beginnen mit Variationen des Satzes „Und hier sehen wir …“, auch diese Erklärung über das Licht deutet es an: man sieht das ganze Buch wie einen Film, teilweise inklusive Kamerafahrten. Andererseits lesen wir auch sehr viele Gedankengänge sämtlicher Personen mit, und das stört sich nicht im Geringsten. Um Film geht es auch inhaltlich immer wieder, vor allem um Kill Bill und Lost in Translation. Mehr will ich gar nicht erzählen – lest dieses Buch! Wunderschöne Sprache, wunderbare Geschichten über wundervolle Frauen. Und Männer. Und Fische. Und den Pferdekopfnebel und einen Zahn und George Bush (Vater und Sohn) und Sophia Coppola und Golf. Sehr toll.
Gunnhild Øyehaug (Ebba Drolshagen): Ich wär gern wie ich bin. Suhrkamp Taschenbuch, 272 Seiten. 13,90 €