Türschild

Viele Jahre hat unser Namensschild an der Wohnungstür uns gute Dienste geleistet. Aber jetzt müssen wir uns wohl eingestehen, dass es hinüber ist. Es war ein Geschenk von Frau Extramittel, und wir sind sehr traurig. Trotzdem hätten wir gern alsbald Ersatz. Kann man sowas auf jeder Kirmes machen lassen? Vielleicht muss ich mal auf den Dom und gucken, was sie so im Angebot haben. Man könnte ja auch über „Kleine wilde Hummel“ oder etwas anderes nachdenken. Hauptsache, der Paketbote weiß Bescheid, welchen Namen er auf das Kärtchen schreiben muss, wenn ich mal wieder Sachen für die Nachbarn angenommen habe.

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Lydia Daher: Und auch nun, gegenüber dem Ganzen – dies. 101 Collagen

41zKoGa6QDL._Der zauberhafte kleine Verlag Voland und Quist ist gerade arg gebeutelt – erst wird er von Droemer Knaur verklagt, weil er ein Buch mit dem Titel „Die schönsten Wanderwege der Wanderhure“ verlegt und Droemer seine Rechte verletzt sieht, und dann bekommt Droemer auch noch vor Gericht recht. Mich macht das fassungslos, die Richter haben tatsächlich befunden, potentielle Leser könnten denken, es handle sich wirklich um einen Wanderführer auf den Pfaden einer reisenden Prostituierten aus dem Mittelalter. Jenun, darum geht es hier gar nicht, es geht um ein anderes Buch aus demselben Verlag.

SAMSUNG CAMERA PICTURESLydia Daher hat ein Jahr lang die Literaturkritiken der großen Zeitungen gelesen, zerschnippelt, zerrissen, neu zusammengesetzt und mit Bildern aus der jeweiligen Ausgabe neu zusammengesetzt. Auf diese Weise entstanden 143 Collagen, von denen hier 101 gezeigt werden. Den allermeisten Collagen-Gedichten sieht man nicht mehr an, welche Literaturrezension da zerrissen wurde, um welches Buch es ging, geschweige denn, wie der Rezensent es fand. Es sind nur noch Wörter übrig, die vollkommen neu zusammengesetzt werden und einen vollkommen neuen Sinn ergeben – aber eben einen, der aus der Literaturkritik herausdestilliert wurde.

SAMSUNG CAMERA PICTURESMan kann das einfach nur so schön finden, man kann aber auch den Klappentext und das Vorwort von Ulrike Almut Sandig lesen – ich zum Beispiel brauche ja immer sowas, um mir auf die Sprünge zu helfen. Und dann wird es auf einmal alles ganz schön toll. Toll aussehen tut es natürlich sowieso, und außerdem riecht es gut. Wenn wir hier nicht so streng alphabetisch wären, könnte es einen Ehrenplatz neben Nora Gomringers Monster Poems bekommen, aber so kommt es jetzt zwischen Almut Klotz & Reverend Christian Dabeler und Friedrich Christian Delius. Da ist es bestimmt auch schön. Aber erstmal lasse ich es noch eine Weile neben mir auf dem Schreibtisch liegen und gucke immer mal wieder rein. Wenn ich alles am Stück lese, kriege ich sonst gar nichts mehr mit. Lieber kleine Häppchen.
 
Lydia Daher: Und auch nun, gegenüber dem Ganzen – dies. 101 Collagen. Voland & Quist, 17,90 €

Ceterum censeo,

… dass auf Literaturveranstaltungen und in allen anderen Darreichungsformen und Packungsgrößen von Autorengesprächen die Frage nach dem autobiografischen Anteil im jeweiligen Buch esse delendam.
Ehrlich. Immerzu werden Autoren gefragt, ob ihre Geschichte autobiografisch ist, wie viel von ihnen selbst im Protagonisten steckt usw. Ich denke dann reflexartig: das ist doch eine Schülerzeitungsfrage. Natürlich ist man ein bisschen neugierig, aber die Grenzen zwischen Neugier und Voyeurismus sind fließend und schnell überschritten. Wenn eine Autorin über eine richtig beschissene Kindheit schreibt, muss man sie dann fragen, wie viel davon autobiografisch ist? Reicht es nicht, sich zu denken, dass man mit solchen Fragen möglicherweise in Wunden bohrt? Wenn jemand mit einem Buch etwas verarbeitet: gut. Das gibt einem aber nicht automatisch das Recht nachzufragen, zumal dann nicht, wenn es so intime Fragen sind, dass man sie anderen Leuten normalerweise nicht stellen würde.
Aber es braucht nicht mal Intimes zu sein. Wenn ein junger Mann aus Ich-Erzählerperspektive über einen jungen Mann schreibt, egal was für eine Geschichte, muss man dann fragen, ob das seine Geschichte ist? Nein, muss man nicht. Es hat nämlich nichts damit zu tun, ob das ein gutes Buch ist. Oder, wie Per Leo gestern bei der Vorstellung der fünf Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse im Hamburger Literaturhaus sagte (aus dem Gedächtnis zitiert):

Ob ein Text literarisch ist oder nicht, ist eine Frage der sprachlichen Gestaltung. Nicht eine Frage des Fiktionalisierungsgrads.

Ganz abgesehen davon ist die Frage nach der autobiografischen Komponente so dermaßen abgedroschen, dass ich mich schon deswegen immer winde, wenn sie kommt. Und sie kommt nachgerade zuverlässig, andauernd.
Man könnte jetzt einwenden, dass Menschen am besten über das schreiben, was sie kennen, und dass die Frage, wie gut sie das Beschriebene kennen, daher durchaus legitim sei. Geschenkt. Ich glaube, es ist für die Bewertung eines literarisches Texts unerheblich. Man kann den Text einigermaßen unabhängig von seinem Autor betrachten (mit Einschränkungen, klar). Die Fragen, die man einer Autorin über ihr Leben stellt, sollten sich jedenfalls an die üblichen Grenzen halten. Es gibt Dinge, die man einfach nicht jeden fragt, und die man nicht jedem erzählt. Das Privatleben des Autors geht die Leserin nur sehr bedingt etwas an. Außerdem möchte ich zu dem Thema zum einemillionsten Mal James Krüss zitieren:

Wenn eine Geschichte einen Sinn hat, dann ist sie wahr, auch wenn sie nicht wirklich passiert ist.

Lasst doch bitte die Autoren mit der Frage in Ruhe, ob das ihre eigene Geschichte ist.

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