ich wohne in der Wohlwillstraße auf Sankt Pauli. Mit meinem Mann und unserem fünfjährigen Sohn. Wenn ich aus dem Fenster sehe, sehe ich normalerweise buntes, manchmal wildes, aber immer liebenswertes Leben auf der Straße. Wenn ich zurzeit aus dem Fenster sehe, sehe ich, wie mein Viertel zu Klump gehauen wird. Wie unsere Straße jeden Abend von Leuten als Kulisse für ihre Katz-und-Maus-Spielchen missbraucht wird, sobald unsere Kinder im Bett liegen – falsch, manchmal warten sie nicht mal so lange: Ein Freund meines Sohnes bekam vor ein paar Tagen einen Böller vor die Füße geschmissen, einfach, weil er gerade da war. Der Junge ist fünf.
Was fünfjährige Jungs wissen, offensichtlich ganz im Gegensatz zu denen, die hier im Moment aufeinanderprallen: Wenn keiner nachgibt, hört der Streit nicht auf. Das ist eine essentielle Erkenntnis, daraus entsteht Zivilisation. Bei jungen Männern mit erhöhtem Testosteronstand kommt das aber oft schwer an.
Gestern Abend habe ich versucht, mit ein paar von denen zu reden. Sie können sich vielleicht vorstellen, dass das Gelächter groß war. Auf beiden Seiten. Ich glaube, sowohl die martialisch verpackten Polizisten auf unseren Straßen als auch manche der allabendlichen Demonstranten haben gerade – pardon – verdammt dicke Eier in der Hose. Da wird keiner freiwillig nachgeben.
Aber: Was soll das dann werden? Wo soll das hinführen? Soll das jetzt so weitergehen? Und wie lange noch? Bis einer heult? Soll es das sein, wofür Hamburg steht: Wuchermieten, Helmpflicht für alle und enttäuschte Gesichter?
Diese Stadt hat eine Menge Probleme. Es ist kompliziert. Ich habe keine Lösungsvorschläge, es ist auch nicht mein Job, die zu haben (es ist Ihrer). Ich weiß nur: Gewalt ist ein ganz mieser Trick, der nicht funktioniert.
Herr Scholz, Sie sind mein Bürgermeister. Sie sind der, dem ich glauben und vertrauen möchte. Sie sind der, der mir eine Stimme geben sollte. Warum sind Sie so still? Warum ducken Sie sich auf so merkwürdige Art weg? Verstecken Sie sich etwa hinter Herrn Neumann?
Finden Sie, dass das ein gutes Versteck ist? Falls Sie nur nicht wissen, was Sie sagen sollen, kann ja mal passieren, habe ich einen heißen Tipp für Sie: Es ist gerade nicht die Zeit für Gesetze. Es ist Zeit für Größe. Für politisches Gefühl. Für drei bis fünf Fingerspitzen. Geschichtsbuch aufschlagen und mehr Willy wagen, Herr Scholz!
Bitte verzichten Sie darauf, meinen Brief von einem Ihrer Pressesprecher beantworten zu lassen. Ich brauche keine Antwort von Ihnen. Ich erwarte, dass Sie Format zeigen.
Mit verstörten Grüßen aus der Gefahreninsel
Simone Buchholz
Erschienen heute in der Hamburger Morgenpost. Kommt jetzt einen Hauch zu spät, denn gestern wurden die letzten „Gefahreninseln“ aufgehoben. Trotzdem: die Lage bleibt weiterhin kompliziert, und jemand muss als erster aufhören mit der Gewalt, ganz wie bei den Fünfjährigen.
(Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Simone Buchholz.)
Ihr erinnert Euch an Zhu Yingchun, Chinas berühmtesten Buchdesigner? Sein schönstes Buch hatte ich im November nicht bekommen. Beziehungsweise den Moment verpasst, in dem ich noch danach hätte fragen können. Daraufhin habe ich dem besten Jan von allen ein bisschen Geld dagelassen, und er hat das Buch später für mich gekauft. Dummerweise war Zhu Yingchun an dem Tag nicht da, sodass Yan extra noch einmal hingegangen ist, um es mir auch noch signieren zu lassen. Ich freu mich wirklich sehr, das ist ein wunderschönes Buch, tolles Papier, tolle Zeichnungen, und es gibt nur tausend Stück davon, ich zähle das also jetzt zu meiner Altersvorsorge. Und dann war noch ein Kalender für 2014 dabei, ein Geschenk von Herrn Zhu. Vielen Dank dafür! Und danke, Yan! Du hast was gut, weißt Du ja.
Die Bilder sind nicht total unterbelichtet (okay, es sind schlechte Bilder, ich kann es halt nicht). Hier wird ein Tag am See gezeigt; die Doppelseiten sehen alle fast gleich aus, aber die ersten Seiten sind noch fast schwarz, dann wird es heller, schließlich ganz hell, und dann wieder dunkel. Die meisten Seiten haben also irgendeine Schattierung von Grau. Es verändern sich nur Kleinigkeiten: Aus dem Schilfgras fliegen Vögel weg, eine Spinne spinnt ein Netz, das Boot dreht sich ganz langsam, ein paar Enten schwimmen vorbei. Sehr schön, sehr beruhigend, sehr entschleunigt.
Hilal Sezgin schreibt in der Taz über das Vokabular der Fleischindustrie: „Nicht die Zustände müssen verbessert werden, sondern die Public Relations. Man müsse „gemeinsam das Image aufpolieren“, empfahl die Zeitschrift Top agrar. „Höchste Zeit, in die Offensive zu gehen und die Imagewerbung zu verstärken.““
Zoë Beck hat sich Gedanken darüber gemacht, ob man Bücher zu Ende lesen muss. Muss man natürlich nicht.
Benjamin Maack schreibt über den großen Neinsager Bill Watterson. Was ja viele nicht wissen: Er hat am gleichen Tag Geburtstag wie ich. Also, Bill Watterson jetzt, nicht Benjamin Maack. Ich dachte, das interessiert Euch bestimmt.
Bücher sind übrigens total super. Beweise: Literatur verändert das Gehirn, Bücher helfen Gedanken lesen und Literatur fördert die Empathie. Schön und gut, aber kann ich jetzt bitte wieder einfach so zum Spaß lesen? Danke. Da bin ich einer Meinung mit Katy. (Was anderes sind natürlich therapeutische Gründe.)
Apropos Katy: Katy hat eine Erzählung von Christa Wolf übersetzt und darüber einen Essay geschrieben.
Wenn ich das nächste Mal in Berlin bin, will ich unbedingt endlich in der Druckerey von Martin Z. Schröder vorbeigehen. Alles, was ich von ihm gesehen habe, finde ich sensationell schön. Hier geht’s zu seinem Blog.
Irina Korschunow ist gestorben. Hier ein Nachruf in der Süddeutschen.
Wer jetzt immer noch Zeit hat, kann hier Interviews mit Autoren lesen. Viele. Auf Englisch.
Mir ist, als hätte ich das hier schon mal verlinkt, aber macht ja nix, es ist wirklich schön: Arbeitsplätze bekannter Künstler.
Und noch was Schönes: In Portugal streikt die Müllabfuhr, und die Bevölkerung wird von einem kollektiven Geistesblitz getroffen. Sehr schön.
Im Buch stecken sehr alte und extrem wirksame Verfahren von Unterhaltung und Unterweisung. Sie stammen aus vorschriftlicher Zeit, als Erzählen und Wissensvermittlung noch nicht getrennt waren. Nicht zuletzt diese Ahnenreihe verleiht dem Buch seinen Wert. Heute ist „Buch“ ein Teekesselchen: ein Gegenstand und das, was er mit uns macht. So kostbar mir Ersteres ist, am Ende ist Letzteres der Grund, warum ich mein Leben mit Büchern verbringe. Der Gegenstandscharakter ist großartig, aber kein Selbstzweck. Wenn wir es auf seine Haptik reduzieren, wird das Buch irgendwann kleinlaut, wie Vinyl für Vinylfetischisten. Seine Stärke liegt in dem, was es auslöst. Ein Buch ist die Differenz zwischen meinem Leben vor der Lektüre und danach.
… sagt Jo Lendle im Interview mit der FAZ
liebe Katja Kaffeebohne, für diese beiden schönen Morsbags! Stofftaschen kann man natürlich immer gebrauchen, ich trage meistens eine in der Handtasche mit mir spazieren. Und solche Überraschungen finde ich ja sowieso immer super. Vielen, vielen Dank!
PS: „Julie und Julia“ habe ich noch nicht gesehen, will ich aber sehr gerne. Steht schon auf der Liste, die ich eigentlich mal langsam nach „will ich wirklich sehen“ und „hat mir jemand empfohlen, aber nun ja“ sortieren könnte.