Wolfgang Herrndorf: Tschick

Es scheint mein Jahr der Roadstorys zu sein. Roadstorys haben mich nie besonders interessiert, und dieses Jahr kommen sie plötzlich geballt: Finn-Ole Heinrichs Räuberhände, Lisa Ranks Und im Zweifel für dich selbst, Edgar Rais Nächsten Sommer, irgendwie auch Grossmans Eine Frau flieht vor einer Nachricht (gildet zu Fuß auch als Roadstory?) und jetzt Herrndorfs Tschick – hat sich zufällig so ergeben, und allesamt sind sie großartig.

Unterwegs sind diesmal Maik – Sohn aus reichem Hause, die Mutter ist Alkoholikerin und mal wieder auf der „Beautyfarm“, der Vater ist mit seiner Sekretärin unterwegs, Maik soll die Sommerferien allein zu Hause am Pool verbringen – und Tschick, Russlanddeutscher, „Assi“, unbeliebtester Junge der Klasse. Beide sind 14 Jahre alt, und sie fahren mit einem geklauten Lada von Berlin aus los in die Walachei.

„Wenn man wegfährt, wär irgendwie gut, wenn man weiß, wohin.“
„Wir könnten meine Verwandtschaft besuchen. Ich hab einen Großvater in der Walachei.“
„Und wo wohnt der?“
„Wie, wo wohnt der? In der Walachei.“
„Hier in der Nähe oder was?“
„Was?“
„Irgendwo da draußen?“
„Nicht
irgendwo da draußen, Mann. In der Walachei.“
„Das ist doch dasselbe.“
„Was ist dasselbe?“
„Irgendwo da draußen und Walachei, das ist dasselbe.“
„Versteh ich nicht.“
„Das ist nur ein Wort, Mann“, sagte ich und trank den Rest von meinem Bier. „Walachei ist nur ein Wort! So wie Dingenskirchen. Oder Jottwehdeh.“
„Meine Familie kommt von da.“
„Ich denk, du kommst aus Russland?“
[…]
„Jottwehdeh gibt’s nicht, Mann! Jottwehdeh heißt
janz weit draußen. Und die Walachei gibt’s auch nicht. Wenn Du sagst, einer wohnt in der Walachei, dann heißt das: Er wohnt in der Pampa.“
„Und die Pampa gibt’s auch nicht?“
„Nein.“
„Aber mein Großvater wohnt da.“
„In der Pampa?“
„Du nervst, echt. Mein Großvater wohnt irgendwo am Arsch der Welt in einem Land, das Walachei heißt. Und da fahren wir morgen hin.“
Er war wieder ganz ernst geworden, und ich wurde auch ernst. „Ich kenn hundertfünfzig Länder der Welt mit Hauptstädten komplett“, sagte ich und nahm einen Schluck aus Tschicks Bierflasche. „Walachei gibt’s nicht.“

Ich muss gerade ein bisschen aufpassen, dass ich nicht zu viel abtippe, denn das ist alles ganz wunderbar. Mir haben es vor allem die Dialoge angetan, sie sind so komisch in ihrer Ernsthaftigkeit, wie überhaupt das ganze Buch voller komischer Verzweiflung ist. Auch abseits der Dialoge ist die Sprache des Ich-Erzählers Maik so schön plausibel (soweit ich das beurteilen kann, haha), ohne sich anzubiedern. Denn nichts ist schlimmer als gewollte Jugendsprache.
Maik und Tschick, der eigentlich Andrej Tschichatschow heißt, aber das kann keiner aussprechen, fahren also los in die Walachei, von der sie nicht wissen, wo sie ist. Erstmal Richtung Süden, aber wenn man 14 Jahre alt und mit einem geklauten Wagen unterwegs ist, dann meidet man die Autobahn zunächst und benutzt nur Feldwege und kleine Straßen, und kennt natürlich die ganzen Dörfer nicht, hat also keine Ahnung, ob man überhaupt noch in die richtige Richtung fährt. Macht aber nichts, Hauptsache unterwegs. Später trauen sie sich dann auch auf die Autobahn. Unterwegs passiert natürlich alles mögliche, die beiden treffen unterschiedlichste Menschen, die alle eins gemeinsam haben: sie sind wahnsinnig nett und gar nicht so böse, wie einem das immer beigebracht wird. Und das gefällt mir sehr, wir haben hier keineswegs eine heile Welt, aber trotz einiger Kaputtheit lauter großartige Menschen. Im Sinne von: menschlich. Mir egal, wenn das pathetisch klingt.
Insgesamt volle Punktzahl: spannende Story, großartige Sprache, tolle Figuren, alles richtig gemacht, super Buch. Kaufen, lesen.
Herrndorf steht im Regal zwischen Judith Hermann und Helmut Hertrampf.

Wolfgang Herrndorf: Tschick. Rowohlt Berlin, 256 Seiten, 16,95 €.

NACHTRAG, 10.12:

Sylt

Kurz mal raus, durchpusten lassen, zwei Tage. Alte Freunde treffen, lange schlafen, lange frühstücken, lange spazierengehen, sonst nichts. Strahlend blauer Himmel, Sonne, Meer, das funktioniert immer, auch wenn es durchgehend unter Null ist, man packt sich dick ein, und alles ist gut, wie immer alles gut ist, wenn man am Meer ist.
Auf dem letzten Bild sieht man das kabbelige Wasser am nördlichsten Zipfel Deutschlands, da, wo die Strömungen, die rechts und links um Sylt herumfließen, oben aufeinandertreffen.

„Bonjour Tristesse, Du alte Hackfresse.“ Nachlese

Hurra! Unser Tonmann Lars hat wieder ganze Arbeit geleistet – hier ist die ganze Lesung zum Nachhören; Bilder von Klaus Friese, der uns auch moderiert hat, gibt es hier. Lady Grey hat Schuhe geknipst, und Kid37 war auch da. Und AxelK.
Danke Euch fürs Kommen, war ein schöner Abend!


Foto: Lady Grey

NACHTRAG: Lars hat auch die letzten beiden Lesungen (Tristesse – Herbst 2009 und Tirili – Frühjahr 2010) da drüben abgelegt. Da kann man jetzt auch Mek, Bov, Percanta, Henrike nochmal hören, und mehrfach Merlix und mich, weil wir ja immer lesen. Das ist wirklich toll, vielen Dank, Lars!

„Hamburgs Blogger“

So heißt eine kleine Reihe, die der großartige Fotograf Stefan Groenveld gerade angefangen hat. Mehr von ihm gibts hier. Wir kennen uns seit einer Weile aus dem Internet, von Twitter und Facebook – ich weiß nicht mehr, wie es kam, jedenfalls finde ich seine Sport- und Portraitfotos sensationell. Gestern haben wir uns getroffen, bei leichtem Schneeregen abends im Dunkeln draußen. „Perfektes Fotowetter“, meinte er, und wenn ich mir die Bilder so angucke, hatte er da wohl recht. Wobei er drüben bei sich nur welche zeigt, die drinnen entstanden sind, im Elbtunnel. Da war es vergleichsweise mollig.

Vielen Dank, Stefan! Die Bilder sind wirklich toll, und Spaß gemacht hat es auch.

PS: Auf meiner „Über mich„-Seite ist noch eins.

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