Duzen und Siezen

Aus der Reihe „Isa beantwortet Fragen zum Übersetzen“, diesmal eine Frage von Violine:

Worüber ich mich schon öfter gewundert habe, ist, wie man entscheidet, ob eine Person im Roman mit “Sie” oder mit “Du” angesprochen wird. Und wie einem dann als Übersetzer klar wird, dass die Beziehung schon so weit gediehen ist im Verlaufe des Romans, dass zwei sich dann irgendwann duzen können.

Tja. Vor der Frage stehen wir Englischübersetzer natürlich andauernd, oft mehrfach in einem einzigen Buch. In manchen Fällen ist es offensichtlich – wenn zwei Leute miteinander verheiratet sind, wird man sich kaum fragen, ob die beiden sich nun duzen oder siezen sollen (jedenfalls wenn das Buch heute spielt), oder unter Kindern oder guten Freunden usw. Natürlich duzen die sich. Ebenso eindeutig ist, dass ein Chef und seine Angestellten sich siezen, dass Schüler ihre Lehrer siezen und so weiter.
Schwierig wird es da, wo Leute sich zu Beginn des Buches überhaupt erst kennenlernen. Und zwar vielleicht weder auf einer Studentenparty (wo sie sich duzen), noch beruflich (wo sie sich siezen) sondern eher bei einer mittelförmlicheren Gelegenheit – duzen die sich? Da fängt man dann an zu überlegen. Wie alt sind die Figuren, wie förmlich ist der Anlass oder die Situation, in welchem Verhältnis stehen sie zueinander (womöglich noch in gar keinem), was für Typen sind die beiden überhaupt, und so weiter. Das ist einer der Gründe, warum es gut ist, das Buch vorher ganz zu lesen: weil man dann weiß, wie die Protagonisten ticken, man kennt die Figuren viel besser und solche Grundsatzentscheidungen fallen deutlich leichter.
Angenommen, man hat beschlossen, dass zwei Leute sich erstmal siezen, weil beispielsweise er der Chef ist und sie seine Angestellte (hey, ich habe eine Menge leichte Frauenunterhaltung übersetzt), aber dann verlieben sie sich ineinander und landen erst im Bett und dann beim Happy End mit Hochzeit und allem – da muss man irgendwo einen Übergang vom „Sie“ zu „Du“ finden, ohne expressis verbis reinzuschreiben „Wollen wir uns nicht duzen?“. Das geht schon deswegen nicht, weil der Leser ja weiß, dass er eine Übersetzung aus dem Englischen liest, und man ihm das damit nochmal so richtig unter die Nase reibt. Denn da merkt jeder sofort, dass das im Original nicht so gestanden haben kann.
Eine wunderbar platte Faustregel für den Übergang lautet: Duzen ab Kuss. [EDIT: Spätestens. Helga merkt unten an, dass man niemanden küsst, den man siezt. Also besser vorher den Wechsel schaffen!] Nach dem ersten Kuss ist Siezen nicht mehr plausibel. Umso mehr, wenn der Kuss gleich zum Sex führt. Da kann man dann auch einen relativ abrupten Wechsel reinbringen, auch in einer Szene, die viel wörtliche Rede hat: Siezen, Kuss, duzen. Fertig. Sieht auch jeder Leser ein.
Aber manchmal muss man den Wechsel anders hinkriegen, es führt ja nicht jede Beziehung zwischen zwei Menschen gleich ins Bett, aber doch eindeutig so weit, dass sie sich irgendwann duzen. Ich versuche dann im Allgemeinen, eine Stelle zu finden, wo die beiden einander über möglichst viele Seiten nicht direkt ansprechen. Idealerweise liegt ein ganzes Kapitel dazwischen, in dem es um etwas völlig anderes geht, und der Leser hat sozusagen erspürt, dass die beiden sich jetzt schon besser kennen und merkt vielleicht gar nicht, dass sie sich plötzlich duzen. Zwei-drei Mal habe ich Leser gefragt, ob sie gemerkt haben, dass da ein Übergang war, und da waren sie immer ganz überrascht. Haben sie nämlich nicht. („Jetzt, wo Du’s sagst.“)

Ein noch weitergehendes Problem haben Übersetzer (und Autoren) historischer Romane, wo Leute sich möglicherweise Erzen oder Ihrzen. („Hat er das Gold gestohlen?“ – „Natürlich nicht, was denkt Ihr denn von mir?“) Da muss man einfach historisch Bescheid wissen, welche Anredeformen zu welcher Zeit für welche Arten von Beziehungen galten. Ich kenne mich da überhaupt nicht aus, aber da gibt es natürlich Bücher drüber. (Z.B. Von Erlaucht bis Spektabilis oder Duzen, Siezen, Titulieren.)

Und ein ganz besonderes Spezialproblem haben Schwedischübersetzer. Im Schwedischen gibt es ebenfalls Du und Sie, die Schweden haben aber irgendwann beschlossen, das „Sie“ nicht mehr zu benutzen, und seither duzen sich dort alle. Soll man das jetzt als „Du“ übersetzen (denn immerhin ist es im Original ein eindeutiges „Du“), und das sozusagen als Lokalkolorit, als eben typisch Schwedisch betrachten – oder übersetzt man im Sinne der sogenannten „Wirkungsäquivalenz“, also so, dass es hier genauso wirkt wie dort, sprich: wenn ein Sie in unseren Ohren eben „normaler“ wäre, dann übersetzt man das Schwedische „Du“ in ein deutsches „Sie“? Ich habe dazu keine rechte Meinung, sehe beide Entscheidungen ein.

18 Kommentare

  1. nata Samstag, 16. Juni 2012 um 22:33 Uhr [Link]

    Mal ganz dumm gefragt, was ist denn mit den Namen? Irgendwann stellt sich doch heraus, on zwei Personen sich beim Vornamen nennen oder noch bei Mr. und Mrs. Sowieso sind.

  2. Andrea Kamphuis Samstag, 16. Juni 2012 um 22:41 Uhr [Link]

    Nata, das klappt z. B. in all den „mittelförmlichen“ Vorname-plus-Sie-Zusammenhängen nicht. Ich kenn das aus vielen wissenschaftlichen Instituten, Uniseminaren usw.: „Klaus, haben Sie daran gedacht …“
    Erst recht gilt das für amerikanische Romane usw., in denen sich die meisten Leute, die derselben Generation angehören, beim Vornamen nennen, auch wenn sie sich kaum kennen.

  3. Isabel Bogdan Samstag, 16. Juni 2012 um 22:43 Uhr [Link]

    Ja, das kann man prima als Anhaltspunkt für den Wechsel nehmen, wenn es sich gerade anbietet. Allerdings sind die Engländer oft relativ schnell mit dem Vornamen dabei, auch wenn ansonsten die Umgangsebene noch recht hoch ist, sie sich also wohl eher siezen würden. Es besteht sogar die Möglichkeit, zum Nachnamen zurückzukehren, wenn man sich schon mal beim Vornamen genannt hat. Auf Deutsch geht das normalerweise nicht (außer man war sehr betrunken) – wenn man sich mal geduzt hat, bleibt es normalerweise dabei, da kann man nicht plötzlich zum Sie zurückkehren. (Außer man möchte damit absichtlich und demonstrativ irgendwas verdeutlichen oder bewirken.)
    Vor- oder Nachname wird also unbedingt in die Überlegungen mit einfließen, aber das ist keine Eins-zu-eins-Lösung, die immer funktionieren würde.

  4. Andrea Kamphuis Samstag, 16. Juni 2012 um 22:45 Uhr [Link]

    Tolle Literaturtipps übrigens, Isa. Danke!

  5. slowtiger Samstag, 16. Juni 2012 um 22:46 Uhr [Link]

    Fürs Amerikanische immer hilfreich: http://usaerklaert.wordpress.com/2007/04/04/buffy-staffel-8-und-die-vornamen-falle/ – aber das wirst du natürlich alles schon kennen.

  6. Isabel Bogdan Samstag, 16. Juni 2012 um 22:46 Uhr [Link]

    Hihi, Andrea, gleichzeitig!

  7. Anne Samstag, 16. Juni 2012 um 22:46 Uhr [Link]

    In Filmen fällt mir das sehr auf, da merk ich auch oft den Übergang und es ist schon ein bisschen komisch. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass man doch mittlerweile so oft Filme im Original geguckt hat, dass man schon weiß, dass die da eben eigentlich nur „you“ sagen.

    • John Sonntag, 17. Juni 2012 um 11:39 Uhr [Link]

      Ich glaube, Filme werden manchmal ziemlich schlampig übersetzt, oder bei der Synchronisation geht etwas schief. Mir fällt auch immer mal wieder auf, dass das Du plötzlich und unpassend kommt. Manchmal geht es danach mit einem Sie weiter, um ein paar Szenen später wieder beim Du zu landen. So als ob Teile des Films von unterschiedlichen Leuten übersetzt wurden, oder als ob die Synchronisation nicht in der Reihenfolge der Szenen im Film erfolgte.

      Von der Übersetzung von technischen Begriffen in Filmen will ich gar nicht reden. Ganz klassisch ist die Verwechselung von Silizium und Silikon. Nein, die Dame trägt kein Silizium vor sich her, und der Schaltkreis ist nicht aus Silikon gemacht.

      Ein anderer Klassiker in älteren Filmen ist der „katalytische Konverter“ (catalytic converter). Da muss eine ganze Generation von Filmübersetzern das falsche Wörterbuch gehabt haben, bis einer gemerkt hat, dass die da im Film vom Katalysator am Auto reden.

    • Isabel Bogdan Sonntag, 17. Juni 2012 um 12:37 Uhr [Link]

      FIlm habe ich nie gemacht, aber folgendes gehört: Filme werden oft so übersetzt, dass der Übersetzer ausdrücklich den Auftrag bekommt, so wörtlich wie möglich zu übersetzen. Im schlimmsten Fall übersetzt er nur aus einem Transkript und sieht den Film nicht mal. Das geht natürlich schon mal gar nicht.
      Und dann kommt im zweiten Schritt der Synchronautor und versucht, die superwörtlichen Übersetzungen so umzuschreiben, dass die Synchronsprecher das lippensynchron sprechen können.
      Wieso manche Fehler niemand bemerkt, ist mir auch manchmal schleierhaft. Mein Lieblings-Filmübersetzungsfehler ist bei den Blues Brothers, wo sie über die alten Zeiten mit der Band schwärmen, und einer sagt: „Und Du hast auch immer so schön die Harfe geblasen.“
      Da waren doch mindestens ein Übersetzer, ein Synchronautor, ein Synchronsprecher und ein Synchronregisseur dran beteiligt, wahrscheinlich waren aber noch zig andere Leute im Studio und haben das gelesen und gehört – und keiner von denen hat gemerkt, dass man eine Harfe nicht blasen kann? Oder sie haben es gemerkt und es trotzdem so gelassen? Und niemand ist auf die Idee gekommen, dass „harp“ in dem Fall die blues harp oder mouth harp ist, also die Mundharmonika? Das ist doch nicht zu fassen.

      Andererseits: manche Fehler sind so offensichtlich, dass sie niemand sieht. Wald, Bäume, man kennt das.

  8. Isabel Bogdan Samstag, 16. Juni 2012 um 22:48 Uhr [Link]

    Nee, slowtiger, kenn ich nicht. Das ist so lang!

  9. Isabel Bogdan Samstag, 16. Juni 2012 um 23:03 Uhr [Link]

    Oh, das ist lang, aber es lohnt sich. Sehr guter Artikel. Danke!

  10. Helga Samstag, 16. Juni 2012 um 23:06 Uhr [Link]

    Ganz ehrlich: das Duzen nach dem ersten Kuss finde ich immer voll peinlich. Man küsst niemanden, den man siezt.

  11. Isabel Bogdan Samstag, 16. Juni 2012 um 23:08 Uhr [Link]

    Hihi. Stimmt. Okay, ich füge da oben noch ein „spätestens“ ein.

  12. Violine Sonntag, 17. Juni 2012 um 06:24 Uhr [Link]

    Dank Dir. Ja, das ist ein weites Feld.

  13. Elle Sonntag, 17. Juni 2012 um 11:48 Uhr [Link]

    Noch eine Frage: Lesen Übersetzer nicht jedes Buch vorher ganz? Also muss man nicht die ganze Handlung / Figurenentwicklung kennen, um von Anfang an den richtigen Ton zu treffen? Wäre so meine Vermutung.
    Was das Duzen im Schwedischen angeht, ich meine mich zu erinnern, dass es bei den Wallander-Romanen eine Vorbemerkung vom Übersetzer gab, dass sich in Schweden eben alle duzen und dass das entsprechend übersetzt wurde, auch wenns für deutsche Leser ungewöhnlich klingt.

  14. Isabel Bogdan Sonntag, 17. Juni 2012 um 12:31 Uhr [Link]

    Ja, theoretisch lesen wir vorher alles. Das ist auch richtig so – genau, damit man ein Gespür für den Ton bekommt und die Figuren kennenlernt und so weiter. Es gibt aber auch Kollegen, die sich beim Übersetzen die Spannung erhalten wollen und es daher nicht vorher lesen. Das kann man schon mal machen, wenn man den Autor sehr gut kennt. Ich lese immer vorher, allerdings nicht unbedingt alles, sondern manchmal lese ich vielleicht die ersten 50 oder 80 Seiten, dann fange ich vorne schon mal an zu übersetzen und lese parallel hinten weiter.
    Von einer Kollegin weiß ich, dass sie gar nicht vorne anfängt mit dem Übersetzen, sondern irgendwo mitten drin, wo sie das Gefühl hat, einen guten Einstieg zu finden, und wo sie meint, dass auch der Autor seinen Ton gefunden hat. Dann übersetzt sie bis zum Ende durch, und den Anfang erst zum Schluss, wenn sie wirklich gut drin ist. Finde ich super, habe ich selbst aber trotzdem noch nie gemacht.

  15. rebhuhn Mittwoch, 11. Juli 2012 um 12:03 Uhr [Link]

    Ebenso eindeutig ist, dass ein Chef und seine Angestellten sich siezen, dass Schüler ihre Lehrer siezen und so weiter.

    Angestellte und Chef duzen sich in meinem deutschen [F&E-]Umfeld ständig. Meist direkt nach Anstellung. Ist das tatsächlich so selten?

  16. Dennis K. Dienstag, 16. Oktober 2012 um 22:34 Uhr [Link]

    Leider gibt es bei den meisten Deutschen ja das Klischee, alle Engländer würden sich Duzen. Dabei ist das Duzen in den USA und England nahezu ausgestorben. „Du“ heißt im Englischen nämlich „Thou“ (=2.Person Singular).
    In den USA und England sprechen sich selbst Kinder mit der sehr höflichen Form „Ihr“ an (=“You“ 2. Person Plural).

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