Alt

Diese Woche war ich mal wieder beim Rhönradturnen. Es war auch eine Neue da, sie ist eben erst nach Hamburg gezogen und war früher irgendwo anders im Verein. Die erste Ansage des Trainers war: wir machen das hier ja ein bisschen anders als in anderen Vereinen. Wir nehmen kleinere Rhönräder. Ja, sagt sie, hab ich schon gesehen.
Es ist offenbar so, das wusste ich natürlich auch nicht, dass man früher in kleineren Rädern geturnt hat, heute nimmt man größere. In kleineren kann man besser mit Gewichtsverlagerung arbeiten, weil man mehr Spielraum hat, logisch.
Die Neue fuhr in einem eher kleinen Rad, das der Trainer ihr zugewiesen hatte, einmal ans andere Ende der Turnhalle und wieder zurück. Dann nahm sie mein Rhönrad, ich machte gerade Pause, „meins“ ist das größte Rad, das da ist. Sie musste schon alle viere ausstrecken, um an die Haltegriffe zu kommen. Damit fuhr sie dann ebenfalls einmal ans andere Ende der Halle und zurück. Der Trainer sah sich das an und brummelte: Das ist doch kein Rhönradturnen mehr.
Der Trainer ist 77 Jahre alt.

Ebenfalls diese Woche war in der ZEIT ein Artikel über einen Besuch der Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger an der Uni Berlin. Sie hat dort vor Studienanfängern unter anderem über ihre Begeisterung für E-Books gesprochen. Von einem „flammenden Bekenntnis“ ist da gar die Rede. Die jungen Leute waren entsetzt. Aber! Das Buch!, fanden sie, sei doch wohl sowas Ähnliches wie heilig. Während Ruth Klüger es einfach irre praktisch findet, dauernd über 1000 Bücher dabeizuhaben, die quasi nichts wiegen.
Ruth Klüger ist 80 Jahre alt.

Wenn ich alt bin, möchte ich gern so sein wie Ruth Klüger. Begeisterungsfähig und offen für Neues. Nichts gegen den Rhönradtrainer, er ist vielleicht ein wenig speziell, aber auch ein liebenswerter Typ. Aber bloß weil man es früher anders gemacht hat und heute etwas größere Räder nimmt, gleich zu sagen, das sei doch kein Rhönradturnen mehr, so möchte ich nicht werden. Ein Teil von Klügers Studenten ist offenbar mit 20 schon so, dass sie das Alte (in dem Fall das Papierbuch) nicht nur für irgendwie „besser“ halten, sondern auch das Neue rundheraus ablehnen. Statt es beispielsweise als Ergänzung zu betrachten.
Gegen das Altern des Körpers kann man nur wenig machen. Aber im Kopf kann man jung bleiben, das ist doch total toll. Ich hoffe, das funktioniert, indem man es rechtzeitig beschließt.
Ich bin 43 Jahre alt.

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9 Kommentare

  1. Penelope Sonntag, 20. November 2011 um 13:07 Uhr [Link]

    *-*!

  2. Markus Sonntag, 20. November 2011 um 13:13 Uhr [Link]

    Ja, Ruth Klüger hat mich diese Woche mit ihrer Begeisterung auch begeistert. Es ist so wahr wie banal: Alter ist relativ.

  3. Maximilian Buddenbohm Sonntag, 20. November 2011 um 14:14 Uhr [Link]

    Da ich den Trainer auch persönlich kenne, kann ich noch einen Punkt ergänzen: Man sollte auch im Alter noch merken, wenn man seltsame Hosen trägt. Man merkt es zum Beispiel daran, dass sie älter als die Enkel sind.

  4. Isabel Bogdan Sonntag, 20. November 2011 um 14:17 Uhr [Link]

    Wobei so ein Enkel ja auch drei Tage alt sein kann und die Hose folglich total hip.

  5. Maximilian Buddenbohm Sonntag, 20. November 2011 um 14:22 Uhr [Link]

    Ja. Und dann wird es irgendwann spanend, wenn sie eingeschult werden oder Führerschein machen.

  6. MonikaZH Sonntag, 20. November 2011 um 20:37 Uhr [Link]

    .
    Diesen Post drucke ich mir auf und pinne ihn an den Spiegel im Bad. Damit ich ihn jeden Tag vor Augen habe und daran erinnert werde wie ich im Alter werden wollte und wie ganz bestimmt nicht. Und daran dass meine Eltern immer sagten „wenn ich mal sooo werde (wie die Grosseltern, starrsinnig und Neuem gegenüber absolut unaufgeschlossen) dann erschiesst du mich bitte“ und wie sie genau so geworden sind. Hmpf.

  7. kaltmamsell Montag, 21. November 2011 um 06:57 Uhr [Link]

    Sehr guter Vorsatz. Mein Ansatz ist, den Früher-war-alles-besser-Reflex zu bekämpfen – auch wenn es mir sehr oft schwer fällt (FRÜHER haben die Kinder noch draußen gespielt! FRÜHER trug man im Winter noch feste Schuhe und nicht diese Sandalen mit dicken Socken drin! etc. pp.).

  8. Isabel Bogdan Montag, 21. November 2011 um 09:39 Uhr [Link]

    „Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Sie widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“ Sokrates

    Sokrates! Das finde ich auch super. Wenn wir mal davon ausgehen, dass der kein Einzelfall war, sondern SEIT Sokrates die Jugend von heute verlottert und schlechte Manieren hat, dann wird offenbar seit zweieinhalb tausend Jahren alles immer schlimmer. Prozentual gesehen kann es also im Moment gar nicht so radikal bergab gehen. Immer, wenn jemand auf die Jugend von heute schimpft oder behauptet, früher wäre irgendwas besser gewesen, denke ich an Sokrates.

  9. Zahnwart Montag, 21. November 2011 um 11:06 Uhr [Link]

    Ach, Studenten der Literaturwissenschaft, das Konservativste unter der Sonne. Ich bewegte mich lange genug unter ihnen, um zu wissen, dass alles Neue ihnen fremd und bedrohlich erscheint. Nie gingen sie ins Theater, nein, schlimmer, mir warfen sie mein Faible fürs Theater sogar vor. Weil dort doch üblestes Schindluder mit ihren heiligen Texten getrieben werde, sie hätten sogar gehört, dass Woyzeck mit dem Handy telefoniere, in der Inszenierung des Ehepaars Esser am Stadtttheater Gießen! Schändlich! (Regisseure waren für die Literaturwissenschaftler so eine Art Trainer, die aufpassten, dass die Schauspieler auch konzentriert probten, die aber auf keinen Fall eine eigene kreative Leistung erbringen sollten. Wozu auch, steht doch alles schon im Text. Ach!)
    Dass sie ein nahezu fetischistisches Verhältnis zum gedruckten Wort pflegten, nahm ich eher als liebenswerte Marotte. Als liebenswerte Marotte mit üblem ökologischen Fußabdruck, schon klar.

    (Und ich passte anscheinend so gut an diesen Fachbereich, dass ich nicht nur mein Studium dort runterriss, nein, ich versuchte mich auch noch an einer Doktorarbeit. In Literaturwissenschaft. Bloß nicht überheblich sein!)

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