Oje, schon wieder eine tote Mutter. Beziehungsweise gleich zwei. Und jäi, schon wieder ein wundervolles Buch. Lukes Mutter kommt bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Der Vater fällt in ein tiefes Loch, trinkt, arbeitet nicht, kümmert sich nicht um Luke. Die beiden müssen ihr Haus verkaufen und in ein ziemlich heruntergekommenes Haus in einem gottverlassenen Kaff ziehen, in dem sie niemanden kennen, und wo klar ist, dass Luke ein Außenseiter sein wird.
Und dann lernt er Jon kennen, einen ebenfalls elfjährigen Jungen, der, wie sich herausstellt, noch schlimmer dran ist als er selbst. Die beiden freunden sich an, und langsam findet auch Lukes Vater wieder zu sich zurück. Ein großes Thema ist also neben dem Verlust auch die Freundschaft, das andere ist die heilsame Kraft der Kunst, denn Luke malt, und sein Vater stellt Holzspielzeug her. Und dann noch etwas Anderes, Großes.
In dieser Nacht drängte sich mir immer wieder eine Frage auf: wenn ich mir hätte aussuchen können, wer mich an jenem Tag vom Kunstunterricht abholt, hätte ich dann lieber Mum oder Dad das Auto fahren lassen? Es war ein schrecklicher Gedanke, aber ich konnte die Frage nicht abschütteln. Sie kam mir immer wieder in den Sinn, und es schien, als könnte ich nur eines tun, nämlich mich ihr stellen, damit sie mich endlich nicht mehr quälte und zur Ruhe kommen ließ.
Wundervolles Buch. Wer Tschick von Wolfgang Herrndorf mochte (das sind, soweit ich weiß, alle, die es gelesen haben), der wird das hier auch lieben. Die Jungs in „Tschick“ sind ein bisschen älter und machen sich auf den Weg, diese beiden hier, Luke und Jon, bemühen sich eher ums Ankommen, um einen Platz im Leben, trotzdem fühlte ich mich irgendwie daran erinnert. Vielleicht einfach, weil es ein Jugendbuch über zwei Jungs ist. Diesen beiden hier möchte man am liebsten mal einen ordentlichen Eintopf kochen. Sehr intensives und in all seinem Elend irgendwie schönes Buch. Man könnte ihm höchstens vielleicht vorwerfen, dass das Ende ein bisschen … ach, egal. Das ist schon alles richtig so. Lesen!
Robert Williams bekommt einen Regalplatz zwischen Oscar Wilde und Tennessee Williams.
Robert Williams (Brigitte Jakobeit): Luke und Jon. 186 Seiten. Berlin Verlag, Taschenbuch, 8,95 €.
Der Roman beginnt so:
Manchmal denke ich, ich bin die Einzige in unserem Viertel, die noch vernünftige Träume hat. Ich habe zwei, und für keinen brauche ich mich zu schämen. Ich will Vadim töten. Und ich will ein Buch über meine Mutter schreiben. Ich habe auch schon einen Titel: „Die Geschichte einer hirnlosen rothaarigen Frau, die noch leben würde, wenn sie auf ihre kluge älteste Tochter gehört hätte.“ Vielleicht ist das nur ein Untertitel. Ich habe Zeit, es mir genau zu überlegen, denn ich habe noch nicht angefangen zu schreiben.
Die siebzehnjährige Sascha (ja, das ist ein Mädchenname! Sascha ist die Abkürzung für Alexander oder Alexandra. Dass sie das aber auch immer erklären muss!) lebt in Frankfurt im sogenannten Russenghetto und hat einen guten Grund, Vadim umbringen zu wollen: er hat nämlich, das erfahren wir bald, Saschas Mutter umgebracht. Zu Hause, vor den Augen Saschas und ihrer beiden kleinen Geschwister. Jetzt sitzt er im Knast, und die drei Kinder leben immer noch in derselben Wohnung, zusammen mit Maria, einer Verwandten von Vadim, die aus Russland gekommen ist, um sich um die Kinder zu kümmern. Wie genau dieses Kümmern auszusehen hat, das erklärt Sascha ihr schon. Sascha weiß nämlich ganz gut, wo es langgeht. Sie ist tough, allerdings vielleicht nicht ganz so tough, wie sie sich das einredet – und das macht einen Teil des Charmes dieses wundervollen Buchs aus: dass wir es mit einer Ich-Erzählerin zu tun haben, die sich aber, wenn sie denn mal in sich selbst reinguckt, genau so belügt, wie wir das wahrscheinlich immerzu alle tun. In ihrem Fall bedeutet das, nur keine Schwäche zuzugeben, auch vor sich selbst nicht.
„Show, don’t tell“ lautet eine wichtige Regel für literarisches Schreiben – man soll zeigen, was jemand tut, nicht groß drumherumerklären, warum und wieso und wie es dazu kam und was dahintersteckt. Bei Ich-Erzählern geht das manchmal ein bisschen verloren, glaube ich, und hier ist es wunderbar durchgehalten. Auch, als Sascha Volker und seinen Sohn kennenlernt und noch eine blöde Liebesverwirrung dazukommt. Wo sie doch Männer nicht leiden kann. Ganz tolles Buch, toll geschrieben, etwas rotzig, sehr geradeheraus, lakonisch und hier und da ironisch, tolle Geschichte, und spannend ist es auch. In anderthalb Tagen durchgelesen.
Mir hat ja auch Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche schon so gut gefallen, und so übe ich mich jetzt in Geduld im Warten auf Alina Bronskys nächstes Buch. (Nicht, dass eins angekündigt wäre.) Tolle Autorin.
Alina Bronsky wohnt im Regal zwischen André Brink und Charlotte Brontë.
Alina Bronsky: Scherbenpark. Kiepenheuer und Witsch. 289 Seiten.
Gebunden: 16,95 €
Taschenbuch: 8,99 €
Hörbuch (Katharina Schüttler): 19,95 €
Don’t judge a book by its cover. Immer wieder habe ich „Grunewaldsee“ auf meinen Wunschzettel gesetzt und es dann doch wieder runtergenommen, weil das Cover einfach zu und zu hässlich war. Jetzt ist es als Taschenbuch rausgekommen und nicht mehr hässlich (obwohl ich eigentlich immer lieber gebundene Bücher habe), und außerdem hat die Lieblingsbuchhändlerin es empfohlen – und zwar zu Recht.
Paul ist nicht gerade ein Macher. Er lebt in Berlin, hat Geschichte studiert und wartet jetzt auf einen Referendariatsplatz. Der ist ihm sicher, kann aber ein paar Jahre dauern. Bis dahin macht er hauptsächlich nichts, außer Warten und zwischendurch mal einen Job anzunehmen. Beim Warten begegnen ihm auch schon mal Frauen, ansonsten erinnert er sich an andere Frauen aus seiner Vergangenheit, das ist aber alles eher flüchtig. Wirklich passieren tut in seinem Leben die meiste Zeit nicht viel.
Einmal nimmt er im Sommer einen Job als Deutschlehrer in Malaga an. Und dort begegnet er Maria, mit der er eine leidenschaftliche Affäre anfängt. Dass es eine Affäre bleiben wird, ist von vornherein klar, denn Maria ist erstens verheiratet und zweitens schwanger. Aber so lange es dauert, ist es das Paradies. Als letztes ruft sie ihm hinterher: Permanecemos juntos! Wir bleiben zusammen! Und Paul fährt zurück nach Berlin. Und wartet jetzt nicht mehr nur auf einen Referendariatsplatz, sondern auch auf Maria. Und lebt so vor sich hin.
In den kommenden Jahren schreiben die beiden sich Briefe, allerdings sehr sporadisch. Und schließlich kündigt Maria an, zu einem Kongress nach München zu reisen und Paul sehen zu wollen.
Oberflächlich passiert nicht viel. Aber Treichel schweift immer wieder länger ab (ich würde dann jetzt gern mal auf die Pfaueninsel), und das sorgt dann doch für Spannung. Das einzig Große, was an der Oberfläche passiert, ist, dass in Berlin die Mauer fällt, aber das interessiert Paul nun wirklich überhaupt nicht – bzw. eigentlich passt es ihm nicht mal so richtig. Dabei ist es nicht mal so, dass er sich für gar nichts interessieren würde, er interessiert sich sehr für die Pfaueninsel, kommt aber auch nicht aus den Puschen, da mal irgendwas zu machen. Stattdessen wartet er. Netter Kerl, der Paul, aber halt ein klassischer Loser. Die Lieblingsbuchhändlerin sagt, diese Losertypen um die dreißig heißen in deutschen Büchern immer Paul, ich nehme an, da hat sie nicht Unrecht, ich habe nur ein zu schlechtes Gedächtnis, als dass mir spontan auch nur ein einziger einfiele.
Zu mehr als dieser eher banalen Inhaltsangabe bin ich gerade nicht in der Lage, aber: das ist ein tolles, tolles Buch! Lesen! Ist auch Sex drin!
Treichel wohnt im Regal zwischen B. Traven und Sakae Tsuboi.
Hans-Ulrich Treichel: Grunewaldsee. Suhrkamp, 237 Seiten. Gebunden: 19,80 €, Taschenbuch: 8,95 €
Die sechsjährige Maria ist das vierte Kind einer bitterarmen Witwe. Eines Tages taucht Bonaria Urrai auf, eine ältere, reichere Frau aus dem Dorf, und nimmt Maria als fill’e anima bei sich auf, als „Tochter des Herzens“. Eine Art Adoption. Dieses Vorgehen ist in dem sardischen Dorf in den sechziger Jahren nicht mehr ganz so üblich, die restlichen Dorfbewohner tuscheln eine Weile, aber dann gewöhnt man sich daran. Maria und Bonaria leben fortan wie Mutter und Tochter zusammen. Maria hat ein eigenes Bett, sogar ein eigenes Zimmer. Und sie kann die Schule besuchen, viel länger als die meisten anderen Kinder, sie ist eine gute Schülerin und geht gern hin. Zwischendurch besucht sie ihre ursprüngliche Familie, hilft bei Festen, hilft auch gern bei der Familie ihres Freundes Andría bei der Weinlese mit. Nachts wird Bonaria Urrai manchmal aus dem Haus geholt und verschwindet für ein paar Stunden; Maria lernt schnell, nicht danach zu fragen, was in diesen Nächten geschieht.
So langsam bekommt der Leser aber eine Ahnung, was da geschieht. Und irgendwann passiert ein größeres Unglück, in dessen Folge auch Maria Dinge erfährt, die sie lieber nicht gewusst hätte.
Erzählt wird das alles aus einer gewissen Distanz, sehr unprätentiös, zwischendurch ist es trotzdem richtig spannend. Und sowieso faszinierend, wie tief die Dorfbewohner noch in den sechziger Jahren in ihrem Glauben und ihrem Aberglauben verwurzelt sind, teilweise kommt einem diese Kultur geradezu archaisch vor. Und dann auch wieder ganz modern. Sehr beeindruckendes Buch, dessen eigentliches Thema ich hier nicht verrate. Denn es kommt erst relativ spät wirklich zutage, und ihr sollt es bitte alle lesen: wundervolles Buch.
Michela Murgia bekommt einen Regalplatz zwischen Murasaki und Musil.
Michela Murgia (Julika Brandestini): Accabadora. 170 Seiten. Gebunden: Wagenbach, 17,90 €
Taschenbuch: dtv, 8,90 €
Der Roman beginnt so:
Dass es eines Tages geschieht, dass man hier, in diesem losfahrenden Zug sitzt, Kopf und Herz in Aufruhr, es ist, als hätte man es immer gewusst, als wäre jede Stunde des Lebens nur dazu da gewesen, uns nun dieser ein Stück näher zu bringen, die man so oft sich ausgemalt und gefürchtet, vielleicht auch geträumt hat, und man dachte sich schon, dass ein Telefonanruf das alles in Gang bringen würde, zu spät am Abend oder zu früh am Morgen, als dass das Herz ruhig bleiben könnte – das kann nur eine schlechte Nachricht sein, gute Nachrichten halten sich an die Bürozeiten und den Beamtenschlaf, gute Nachrichten können immer ein, zwei Stunden, auch bis morgen warten, man behält sie gern noch eine Weile für sich, ich bin die Einzige, die es weiß, ich treffe Leute, die Ahnungslosen, sie sehen mich, aber sie ahnen nicht, was meine Brust schwellen lässt, natürlich werde ich es sagen, aber nicht jetzt, jetzt noch nicht.
Die schlechte Nachricht, die Dora in der Schweiz aufschreckt, ist, dass ihr Vater in Süditalien im Sterben liegt. Sie wirft schnell ein paar Sachen in eine Tasche und fährt Hals über Kopf los, mit dem Zug. Es ist eine lange Reise mit dem Zug aus der Schweiz nach Süditalien, sie weiß nicht, ob sie noch rechtzeitig kommen wird; und irgendwie weiß sie auch nicht, ob sie das wirklich will. Und dann passieren unterwegs Dinge, sie verpasst einen Anschluss, der Zug bleibt eine Weile stehen, sie lernt im Speisewagen einen Mann kennen und steigt mit ihm aus.
Wie in dem Anfang schon zu sehen ist, geschieht das alles in endlosen, ratternden Sätzen, in denen das Zugfahren irgendwie durchklingt, ich zitiere mal den Klappentext:
„In einem ganz eigenen Ton, einer originellen, rhythmischen Sprache und köstlichen Dialogen gelingt ihr die Nahaufnahme einer Frau in einer dramatischen Lebenssituation.“
Ja, lieber Klappentextschreiber, das stimmt und ist schön ausgedrückt, aber diese Sprache hier, das Deutsche, das kommt nicht direkt von der Autorin, sondern von Claudia Steinitz, die also ebenso mitzuloben ist wie die Autorin. Denn: ein wundervolles Buch, keins, das Getöse macht, sondern leise dahinreist, mit dem Zug, das rattert und zweifelt und weiterfährt und ganz viel nicht sagt, was wundervoll ist, und das voller ganz zarter Momente ist. Und in dem Dora nur manchmal Dora ist, manchmal ist sie auch „man“. Wenn irgendwer immer noch nicht verstanden haben sollte, was ich immer mit dem eigenen Ton meine, mit dem Sound oder Rhythmus eines Buchs, der soll das hier lesen. Für mich macht die erzählte Geschichte ja immer nur den kleineren Teil eines Buchs aus (der hier aber auch super ist), viel mehr interessiert mich die Sprache. Lest dieses Buch, es ist eins dieser kleinen Wunder.
Und währenddessen geschieht irgendwo anders etwas ganz anderes, und auch das ist eine wirklich wundervolle Idee.
Silvie Neeman Romascano wohnt im Regal zwischen Natsume Sôseki und Pablo Neruda.
Silvie Neeman Romascano (Claudia Steinitz): Nichts ist geschehen. Rotpunktverlag, 148 Seiten, 19,50 €