Der Roman beginnt so:
“Wieso kommst Du denn erst jetzt?“ Bernhard sieht mich an, als sei ich ihm eine Erklärung schuldig. „Erste Halbzeit ist schon vorbei.“
In ihm schwelt es. Wie immer, wenn er bei seiner Mutter war. Ich könnte ihm sagen, dass er meine Verspätung nicht persönlich nehmen soll, aber Bernhard nimmt selbst schlechtes Wetter persönlich. Ich könnte ihm auch sagen, dass mich Fußball nicht interessiert, nie interessiert hat und auch nie interessieren wird und ich nicht einmal weiß, wer gegen wen spielt – und nur gekommen bin, weil Marc meinte, ich solle mich nicht immer in meiner Tonne verkriechen. Und weil ich ihm etwas zu erzählen habe.
„Tut mir leid“, antworte ich.
Was der Erzähler Felix seinen Freunden Marc, Bernhard und Zoe zu erzählen hat, ist, dass er ein Haus in Frankreich geerbt hat. Und so fahren die Freunde am nächsten Tag in Marcs klapprigem alten VW-Bus von Berlin aus los nach Südfrankreich, um sich dieses Haus anzugucken. Die Strecke schafft man nicht an einem Tag, man braucht schon drei; wir haben es also mit einer Roadstory zu tun, und zwar einer zunehmend rasanten. Unterwegs werden weitere Personen aufgesammelt, und am Ende … „Am Ende der Straße steht ein Haus am Meer“. Am Ende sind außerdem alle emotional und körperlich ziemlich durchgemangelt, um viele Erfahrungen reicher, vielleicht ein wenig erwachsener. Jedenfalls wird viel nachgedacht, die meisten Figuren stellen sich und ihre Lebensplanung in Frage oder auf den Prüfstand, es wird einiges verarbeitet und anderes kaputtgemacht.
Ich habe dies und das zu kritisieren, sprachlich ebenso wie erzähltechnisch. Konjunktiv zwei! Wenn der Autor das nicht kann, dann soll es doch wenigstens der Lektor können. Gleiches gilt für verunglückte Relativsätze, die plötzlich gehäuft auf wenigen Seiten auftauchen, dann ist der Spuk wieder vorbei. Dann am Anfang des Romans diese Erklärungen, sowas hier: „Diogenes!“, begrüßt er mich. Seit ich in dem Bauwagen wohne, nennt er mich gerne Diogenes, wenn er einen geraucht hat. Danke, das verstehen wir auch so. Es hört dann aber glücklicherweise wieder auf. Dann gibt es Brüche in der Erzählperspektive, der Ich-Erzähler wird manchmal plötzlich allwissend und erzählt uns, was die anderen Figuren gerade denken. Hinzu kommen Kleinigkeiten, Flüchtigkeitsfehler, wie dass jemand etwas in ein Feuer schnippt, das erst auf der folgenden Seite angezündet wird. Egal. Geschenkt. Denn trotz dieser Unausgegorenheiten ist das ein wirklich spannendes Buch, das man gerne weiterliest, mit guten Gedanken drin und lustigen Einfällen und einem Unterton von komischer Verzweiflung und gut gezeichneten Typen, und außerdem will ich sofort ans Meer und am liebsten nach Südfrankreich. Nächsten Sommer.
Edgar Rai bekommt einen hübschen Regalplatz zwischen Rabelais und Rammstedt.
Edgar Rai: Nächsten Sommer. 236 Seiten. Aufbau Taschenbuch, 10,00 €
Da mache ich nichtsahnend den Briefkasten auf, liegt da ein Geschenk drin. Einfach so. Von Lady Grey.
Wir sind nicht allein. Aber Besuch kommt eher selten. Manchmal muss man los, und gelegentlich begegnet man sich. Was passiert dann?
Die drei kleinen, grünen Männchen von Quittenquart gehen los und begegnen allen möglichen anderen Wesen. Es wird eng (da muss man durch) und laut (das muss man verstehen), es wird lustig oder gefährlich (oder auch nicht), unheimlich, bunt, verwirrend, immer anders. Und alles so wunderbar illustriert, wie es nur Nadia Budde kann, mit schiefen Wesen, die auf den ersten Blick nicht „schön“ sind, aber doch so zauberhaft. Die lauten Leute! Mit so Trötenmündern! Und die mit den gelben Popos, über die sie sich lustig machen! Superklasse.
Wer was wissen will, geht los.
Wer wen trifft, hat’s gut.
Und wer Lady Grey trifft, hat’s ganz besonders gut. Weil sie so aus dem Häuschen gerät, wenn es etwas Neues von Nadia Budde gibt, dass sie es mir mit der Post sofort schicken muss, statt die paar Tage zu warten, bis wir uns eh sehen.
Danke, Du Gute.
Nadia Budde: Unheimliche Begegnungen auf Quittenquart. Peter Hammer Verlag, 13,90 €
(Wenn ich eine Bibliothek mit Kinderbuchabteilung ausstatten dürfte, würde ich als erstes die gesammelten Werke von Nadia Budde und Wolf Erlbruch bestellen. Und ziemlich viel von Axel Scheffler. Und viel aus dem Peter Hammer-Verlag.)
Der Roman beginnt so:
Sonst, wenn sie zu Hause sind, ist er derjenige, der anfängt, der weiß, wie es geht, die Zeit zwischen ihnen anzuhalten, derjenige, der Berührungen verwandelt in solche, die das Gegenteil von flüchtig sind und wichtig und unabdingbar, wenn er seine Hand auf ihren Bauch legt, liegen lässt, schwerer werden lässt und nach oben streicht, das Hemdchen, das sie beim Schlafen trägt, zusammen mit ihrem leichtern Widerstand beiseiteschiebt wie einen lästigen Schleier, während er etwas in ihr Ohr flüstert, das sie zum Lachen bringt, weil es sie kitzelt und weil Lachen vielleicht dagegen hilft, dass sich all die kleinen Härchen in ihrem Nacken aufrichten und dass ihre Knie weich werden, das dürfen sie jetzt, weil sie liegt, und die Knie müssen sie gerade nicht tragen, ihre Arme können sich um seinen Nacken schließen, ihre Augen dürfen zufallen und seine dann auch, und die Bilder der Gedanken dürfen blasser werden, bis es dahinter hell wird, weiß und gleißend, und die Struktur nachlässt, bis es eine helle, weiße Fläche wird, in der sie sein können, ohne dass da noch irgendetwas anderes wäre außer dem Licht, von dem da so viel ist, und noch mehr – aber jetzt ist sie diejenige …
Ui, jetzt so beim Abtippen klingt das ja erstens nach höllenlangen Sätzen und zweitens ein bisschen esoterisch mit dem Licht und dem Weiß und so. Aber so ist das gar nicht.
Jette und Marvin, Mo, Ruben, Per, Anna, Alexandra und die anderen sind alle in dem Alter, in dem man sich mal entscheidet. Wer jemanden hat, muss entscheiden, ob man zusammenbleibt und ob man Kinder bekommt (und was man tut, wenn es nicht klappt). Wer niemanden hat, sucht. Und alle haben eine Vergangenheit, in die wir auch einen Blick werfen.
Ich musste beim Lesen immer wieder an PeterLichts Trennungslied denken; hier geht es zwar nicht um Trennung, sondern um das zwischen den Trennungen, um die Beziehungen nämlich, aber es ist ein ebensolcher Reigen wie bei PeterLicht: einer kennt den anderen, aber seine Frau nicht, die wiederum mit der nächsten befreundet ist und in der Vergangenheit wieder mit einem anderen zusammen war, und so weiter. Natürlich läuft keine Beziehung einfach so rund, jede hat ein anderes Problem, jede geht anders mit ihren Themen um.
Und wenn ich neulich über Judith Schalanskys Matrosenroman schrieb, man habe da einen Haufen Puzzlestücke in der Hand, die kein Bild ergeben, so hat man hier ebenfalls Puzzlestücke, die aber ein sehr genaues Bild ergeben. „Portrait einer Generation“ steht hinten drauf, das mag eine abgedroschene Worthülse sein, stimmt aber. Sehr schönes Buch, sehr gut zu lesen.
Johanna Straub steht im Regal zwischen Bram Stoker und Botho Strauß.
Johanna Straub: Das Beste daran. 221 Seiten. Liebeskind, 16,90 €