Das Klavier (2)

Teil 1 steht hier.

Im November 2024 werde ich auf Facebook innerhalb einer Stunde zwei Stühle und einen Couchtisch los. Nachdem das so flott ging, stelle ich kurzentschlossen auch das Klavier rein. Zu verschenken. Ich schreibe dazu, dass es wunderschön aussieht, aber möglicherweise kein so gutes Instrument mehr ist. Ich verstehe nichts davon, aber alle sagen, mit einem so alten Klavier könne man normalerweise nicht mehr viel anfangen. Aber für ein Ferienhaus, einen Kindergarten, eine Kneipe muss es doch gut sein, denke ich, und viel zu schade zum Wegwerfen! Ich wüsste auch gar nicht, wie „Wegwerfen“ geht – von professionellen Klaviertransporteuren für viel Geld zum Wertstoffhof bringen lassen, oder wie macht man das? Eine Freundin sagt, ich soll es einem Schrotthändler anbieten, der ist nämlich scharf auf den gusseisernen Rahmen, und dafür muss er dann halt den Rest auch mitnehmen.
Auf Facebook kommen jede Menge Antworten. „Viel zu schade, sowas gibt man doch nicht weg!“ – „So ein schönes Stück!“ – „So ein altes Ding kannste nur noch wegwerfen.“ – „Hoffentlich findet es ein wertschätzendes Zuhause.“ –„Frag doch mal bei Stilbruch.“ – „Das kann man gar nicht mehr stimmen.“ – „Ich hätte Interesse.“ – „Hundert Jahre? Vergiss es, das ist Müll.“ – „Ich werde meins auch nicht los.“
Vier Leute haben Interesse. Der erste schreibt dann, es sei doch zu groß, er hat nicht so viel Platz. Die drei anderen antworten gar nicht mehr. Die interessanteste Reaktion kommt von der ZEIT, die anfragt, ob ich einen Artikel darüber schreiben möchte. Natürlich möchte ich das, denn dann kann ich ihn mit der Frage beenden, ob vielleicht jemand ein Klavier haben möchte. Es ist sehr schön! Aber erstmal muss ich etwas darüber in Erfahrung bringen, ob es überhaupt noch was taugt. Man will doch keinen Schrott verschenken, auch wenn er gut aussieht.

Ich rufe einen Klavierbauer an. Er sagt gleich am Telefon, dass so alte Klaviere meistens nicht mehr gut sind. Und dass man sie kaum loswird. Wir könnten ja am Nachmittag nochmal telefonieren und einen Termin ausmachen.
Zwei Stunden später ruft er wieder an, er sei sowieso gerade in der Nähe und könne gleich mal vorbeikommen. Hurra! Und dann kommt die Überraschung: Als erstes ist Herr Becker ganz begeistert von den Kerzenhaltern. Die gebe es an fast keinem Klavier aus dieser Zeit mehr, denn Hitler habe alles Metall für seinen Krieg gebraucht, also haben die Leute diese Kerzenhalter abgeschraubt. Allein dafür könne ich auf dem Flohmarkt 300,- € bekommen. Als nächstes stellt er fest, dass die Nupsis, um die die Saiten gewickelt sind, nicht wie sonst in einer hölzernen Rückwand stecken – was dazu führt, dass sie nach 100 Jahren durch den Zug krumm und schief sind und sich das Klavier nicht mehr gut stimmen lässt –, sondern in einer Rückwand aus Metall. Dadurch stehen sie alle eins A und lassen sich prima stimmen. Nichts ist verzogen, es sieht von innen quasi aus wie ein heutiges Klavier, damals muss das ein total modernes Instrument gewesen sein. State of the art. Man müsste natürlich ein bisschen was daran machen – Filze abziehen, Pedalgeräusche beheben, die Mechanik überarbeiten, es gründlich stimmen – aber das ist alles kein Hexenwerk. Für unter tausend Euro, sagt er, hätte man ein richtig schönes Instrument. Gestimmt und einrichtet. Als ich etwas von „man muss ja nicht gleich Konzerte drauf spielen“ murmele, sagt er: „Klar kann man da Konzerte drauf spielen.“

Dieser Text erschien, leicht gekürzt, in der ZEIT. Der Artikel endete mit der Frage, ob jemand ein Klavier haben möchte.

(Weiter mit Teil 3.)

Kommentieren:

Pflichtfeld

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Twitter