Alsterbrückenschlösser

Ob es zwei Sternchen gibt? Oder Findus und Junkie dieselbe Person sind? Was hat es mit den beiden Ringen auf sich, die zusammen mit dem Sektkorken an dem rostigen Schloss hängen? Die Verlobungsringe anlässlich der Hochzeit an die Brücke gekettet? Und wie es Christiane wohl geht, die ihre Mantras an die Brücke schließt „ich lebe jetzt“ und „ich verabschiede die Kontrolle“, und noch ein drittes, das ich vergessen habe? Und wem gehört „meins“?

Thomas Pletzinger: Gentlemen, wir leben am Abgrund

Thomas Pletzinger hat eine Saison lang den Basketballverein Alba Berlin begleitet. Er war im Trainingslager dabei, beim Training, im Hotel, bei Heim- und Auswärtsspielen, bei den Ansprachen des Trainers in der Kabine, er hat Trainerwechsel, Spielerwechsel, Siege und Niederlagen miterlebt, Euphorie, Enttäuschungen, Verletzungen, eine ganz Saison lang. Und hat über endlose Strecken mit der Mannschaft im Bus gesessen, wieder und wieder und wieder. Und dann ein Buch drüber geschrieben, eine 360 Seiten lange Reportage.

Thomas Pletzinger finde ich seit Bestattung eines Hundes super. Basketball hingegen interessiert mich nicht die Bohne, es ist mir vollkommen egal. Ich kenne nicht mal die Spielregeln, ich habe noch nie ein Basketballspiel gesehen, wir mussten das in der Mittelstufe dauernd spielen, ich habe es gehasst. In Pletzingers Buch stehen Sätze wie: „Wir gewinnen die Rebounds, spielen 28 Assists und begehen nur zwölf Turnover“, und ich verstehe kein Wort. Es sind allerdings auch nicht viele solche Sätze, dieser hier steht auf Seite 345, da verstehe ich immer noch kein Wort, habe also offenbar, was das eigentliche Spiel betrifft, nicht viel gelernt, aber ich habe bis hierhin gelesen (und dann noch weiter bis zum Ende), denn: wow, tolles Buch! Irgendwo in der Mitte fand ich kurz mal, dass man es auch ein bisschen hätte straffen können. Aber dann muss man natürlich unbedingt bis zum Ende lesen, auch wenn, MANNMANNMANN, was sind das für Leute, die Klappentexte schreiben? Sicher, jeder Depp kann in 30 Sekunden googeln, wie die Saison für Alba Berlin zu Ende gegangen ist. Wer sich für Basketball interessiert, weiß es sowieso. Aber wer das Buch liest, um ein spannendes Buch zu lesen, der möchte vielleicht nicht schon im dritten Wort des Klappentexts erfahren, wie die Saison gelaufen ist! Das ganze Buch ist so aufgebaut, dass es auf das letzte Spiel zuläuft, es hat einen sorgsam konstruierten Spannungsbogen, den macht man dem Autor doch komplett kaputt, wenn man im Klappentext so mit der Tür ins Haus fällt. Ja, auch wenn es eh schon in der Zeitung stand. Ich zum Beispiel hätte keine Ahnung gehabt.
Egal: dank Klappentext wusste ich es, und ich hatte am Ende trotzdem Herzklopfen. Weil es so spannend ist. Und so wahnsinnig emotional, und weil einem diese Kerle so ans Herz gewachsen sind, in all ihrer Ruppigkeit und mit ihren Macken und Besonderheiten und liebenswerten Seiten. Na gut, geweint habe ich auch. Echt. Über ein Basketballbuch, for God’s sake! Aber es geht einem nicht nur das Ende ans Herz; auch mittendrin sind immer wieder so rührende Szenen. Wie Patrick Femerling bei Möbel Höffner den Werbekasper für ein 2,40 Meter langes Bett machen muss. Wie respektvoll sie alle über Dirk Nowitzki sprechen und am Ende siegen wollen, weil: „Dirk würde auch nicht verlieren.“ Wie Sven Schultzes Vater hin- und hergerissen ist zwischen seiner Heimmannschaft Bamberg und seinem Sohn, der für Berlin spielt. Wie sie herumalbern, und dann wieder hochkonzentriert sind. Wie Patrick Femerling sich von seiner Tochter … Und so weiter.

„Sport ist eine große Metapher für das Leben, Basketball ist rührend, bewegend und groß. Immer wieder neu und immer unvorhersehbar.“ Und Thomas Pletzinger, möchte man hinzufügen, ist ein großartiger Beobachter. Er liebt ganz offensichtlich, was er tut, und er liebt die Menschen, die er ein ganzes Jahr lang beobachtet, vorbehaltlos, er lässt sie alle so sein, wie sie sind und denunziert niemanden (außer Herrn Neumann vielleicht, aber ich nehme fast an, dass der gar nicht Herr Neumann heißt). Und nimmt sich selbst bei all dem sehr zurück.

Außerdem fühlt das Buch sich vorne an wie ein Basketball. Wundervoll. Und damit bin ich noch mal kurz beim Thema E-Books: diese Basketballprägung gibt’s da natürlich nicht. Und innen drin sind Bilder, bunte, die kann der Reader gar nicht darstellen, der kann nur schwarz-weiß.
Aber für bunte Bilder braucht man besonderes Papier, sonst sehen sie nicht gut aus. Das Buch wiegt 717 Gramm und ist 21,5 x 17 x 2,5 cm groß. Ganz schön viel Buch für die Handtasche.

Thomas Pletzinger wohnt im Regal zwischen Floridor Perez und Theodor Plivier.

Thomas Pletzinger: Gentlemen, wir leben am Abgrund. Eine Saison im deutschen Profibasketball. Kiepenheuer und Witsch, 360 Seiten, 14,99 €. E-Book 12,99 €.

„Wir checkten ein, wir checkten aus. Wir steckten im Schnee und in der Krise.“

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