Achim Reichel: Mein Leben, meine Musik

Achim Reichel! Ja, meine Güte, natürlich kannte ich den „Spieler“ und „Aloha he“, aber dann hörte es auch schon fast auf. Ein diffuses Gefühl sagte mir, dass Achim Reichel irgendwie cool ist. Und klar: wenn man sowieso auf der Insel ist, und da spielt Achim Reichel, dann geht man natürlich auch hin. Logisch. Auch wenn man sich sonst noch nie besonders für den Mann interessiert hat.
Vorher lese ich kurz bei Wikipedia nach und stelle fest: oh. Der ist wirklich cool. Mit den Stones und den Beatles getourt, no less. Die Helgoländer Nordseehalle hingegen ist nicht so richtig cool, sie ist genau so malerisch und charmant wie Dorf-Mehrzweckhallen es eben sind. Es ist ausverkauft, die meisten Gäste sind sichtbar über 60, und es ist bestuhlt. Yeah, Rock’n’Roll, denke ich.

(Vorm Konzert geknipst. Währenddessen war Fotografieren leider verboten.)

Achim Reichel kommt auf die liebevoll mit Gitarren, einem alten Radio, Krimskrams und reichlich rotem Pannesamt dekorierte Bühne, setzt sich hin und fängt an zu erzählen. Es handelt sich nämlich um eine sogenannte Storytelling-Tour, auf der er über „Mein Leben, meine Musik“ erzählt. Und das ist, stellt sich heraus, eine ganz wunderbare Idee. Er erzählt von den Anfängen seiner musikalischen Karriere, blendet Bilder aus seiner Jugend ein, Bilder von seiner ersten Band, den Rattles, zusammen mit den Beatles, Bilder vom Star-Club, er erzählt, und ich verfalle dem Mann sofort. Man hört ihm gern zu, eigentlich möchte ich die ganze Zeit mitschreiben, ich denke dauernd: das muss man doch alles aufschreiben, man muss doch eine (Auto)biografie schreiben, das ist doch alles toll, ob er wohl schon einen Ghostwriter hat, und soll ich jetzt mein Notizbuch aus der Tasche ziehen? Natürlich nicht, das wäre ja auch albern, ich höre einfach zu und finde alles charmant, und dann singt er das erste Lied und: wow, wow, wow! Ein Akkord, ein gesungener Ton, und der Mann ist dermaßen präsent, da ist beim ersten Anschlag Rock’n’Roll in der Bude, sensationell. Irgendwo unter dem roten Pannesamt steht noch eine bass drum, ansonsten ist keine Band auf der Bühne, nur Achim Reichel, seine Gitarre, die bass drum, und dann rockt er mal kurz für ein paar Minuten die Helgoländer Nordseehalle mit 450 Rentnern drin.
Und dann erzählt er wieder, von Bands und ihren Auflösungen, von der Bundeswehr, James Last und neuen Ideen und spielt noch ein Lied. Und wie er erzählt, dass er eines Tages sein Bücherregal aufgeräumt hat und ihm dabei das Schulbuch mit den klassischen Balladen in die Hände fiel und er sie nochmal gelesen hat und plötzlich total begeistert war von diesen Texten, von der Sprache und von den Geschichten, und wie er sofort dachte: die muss man doch vertonen, die muss man doch musikalisch ins Heute holen, dann machen die doch riesigen Spaß und nerven einen nicht, wie früher in der Schule, da hat er so ein Blitzen in den Augen, und die Begeisterung für diese alten Balladen springt über, wie Begeisterung das ja immer tut, und er zeigt tatsächlich Bilder von Dichtern, Eichendorf, Fontane, Goethe, später dann Jörg Fauser, der unter anderem den „Spieler“ geschrieben hat. Das hatte ich auch nicht gewusst.

Nach etwa einer Stunde holt er zwei Musiker auf die Bühne, Berry Sarluis an Akkordeon und Orgel und Larry Mathews an E-Geige, Mandoline und Bodhran, und Achim Reichel erzählt immer weniger, und sie machen immer mehr Musik, und bei Nis Randers kämpfe ich mal wieder mit den Tränen. Seit ich das vor wenigen Wochen zum ersten Mal gehört habe, (Stephan hatte es mir hier verlinkt, als wir klassische Gedichte verlimerickt haben), rührt mich diese Geschichte fürchterlich, ich bin aber auch schrecklich nah am Wasser gebaut und sowieso gerade emotional, weil ich so beeindruckt bin. Mit der Seefahrt kriegt man mich ja eh, und erst recht auf der Insel, wo ich dann auch wieder an meine Rettungskreuzerfahrt denken muss, die glücklicherweise schön war.
Nach zwei Stunden, um zehn Uhr, kündigt Reichel an, dass sie jetzt – nee, nicht Schluss machen. Sie machen eine Pause. Zwanzig Minuten. Danach geht es weiter, mit einem reinen Konzert mit nur noch kurzen Zwischenansagen, und das ist alles so perfekt und professionell und keine Minute zu viel oder zu lang, sondern alles ganz wunderbar so. Und verblüffend, wie jung der Mann ist, er ist 68 Jahre alt und hat manchmal so den Schalk im Nacken und so ein Blitzen in den Augen, trotz aller Coolness und trotz Rock’n’Roll, und ich muss schon wieder ein bisschen spontanverliebt sein. Außerdem ist er einfach ein guter Musiker, er ist bei jedem Lied beim ersten Akkord gleich sowas von da, großartig. Und es ist, wie immer, so, so, so schön, Leuten bei etwas zuzuschauen, was sie sehr gut können und offenkundig sehr gerne machen.

Und dann, ganz zum Schluss, singt er natürlich Aloha-he, und 450 Rentner stehen auf und singen mit, „und jetzt kommt Euer Solo!“, und wir singen gefühlte 50 Mal hintereinander „Aloha-heja-he“ und es ist genau so viel, wie es Spaß macht und nicht zu viel ist, und für einen Augenblick strahlt Achim Reichel, und ich habe schon wieder was im Auge, und dann ist es halb zwölf und der Abend geht nach dreieinhalb Stunden leider zu Ende.
Außer dass er sich tatsächlich noch zu einer Zugabe wieder herausklatschen lässt und dann zum Abschluss noch eine Ode an das Leben bringt: Was Bessres wird’s nicht geben, als leben, leben, leben.

Video zur Tour:

„Solo mit Euch“ ist erhältlich als Audio-CD für 16,99 € und als Video-DVD für 17,99 €.

10 Kommentare

  1. Isabel Bogdan Dienstag, 27. November 2012 um 00:17 Uhr [Link]

    Und weil das auch noch irgendwo hinmuss:

    Was kann die Welt dafür, dass ich sie liebe? […]
    Was kann denn ich dafür, dass die Welt so groß ist?

  2. Texas-Jim Dienstag, 27. November 2012 um 08:43 Uhr [Link]

    Durch Zufall hatte ich mir irgendwann das Live-Album seines Jubiläums gekauft. Wie man das so macht in diesem Internet. Geld ausgegeben, auf gut Glück. Seither bin ich Fan und summe an der Kasse oft „Steaks und Bier und Zigaretten“, obwohl ich das nie kaufe.
    Haben Sie vielen Dank. Ich will das jetzt sehen.

  3. Texas-Jim Dienstag, 27. November 2012 um 08:52 Uhr [Link]

    Nachtrag: Helgoland war natürlich der letzte Termin. Dabei war er sogar im Süden.
    ‚Zefix.

    • Isabel Bogdan Dienstag, 27. November 2012 um 09:24 Uhr [Link]

      Ja, der letzte von 23 Terminen. Und von Müdig- oder Lustlosigkeit keine Spur. (Bestimmt gibts nächstes Jahr neue Termine.)

  4. Zahnwart Dienstag, 27. November 2012 um 10:03 Uhr [Link]

    Achim Reichel ist für mich so etwas ähnliches wie Niels Frevert in älter. Eigentlich musikalisch gar nicht meine Tasse Tee, aber trotzdem sprühend vor Credibility, immer ganz kurz vor dem großen Erfolg, der ein Abheben beinhalten würde, dann aber eben nicht abgehoben, dann eben doch ohne Erfolg, sondern soviel, dass es irgendwie reicht zum guten Leben aber nicht mehr. Sehr Hamburg, der Mann.

    • Isabel Bogdan Dienstag, 27. November 2012 um 11:07 Uhr [Link]

      Und über fünfzig Jahre von Musik zu leben und sich selbst treu zu bleiben, das muss man auch erstmal schaffen. (Mit Niels Frevert kann ich ja so gar nichts anfangen. Obwohl das eigentlich meine Richtung ist, ich hör ja viel so deutschen Indie-Pop oder wie man das nennt.)

  5. Frau-Irgendwas-ist-immer Dienstag, 27. November 2012 um 11:21 Uhr [Link]

    ‚Der Spieler‘ – Himmel, was für ein Lied!!!
    ‚Kuddel Daddel Du‘ – kann ich von fast jedem Interpreten hören, aber A. Reichel ist da auch toll!
    Und sein `Herr Ribbeck‘ ist genial … ja, jedesmal wenn eine CD von ihm im Player liegt, bin ich wieder in den Kerl spontanverliebt. Und der rockt immer auch wieder so richtig und dann ist da diese Lust am Musik machen zu spüren …. sehr schön!

  6. Antje Montag, 17. Juni 2013 um 06:00 Uhr [Link]

    Danke für diesen wunderbaren Artikel, diese liebevolle Konzertkritik. Ich wünschte mir, Herr Reichel würde das auch lesen – eine bessere Biographin wird er nicht finden!

    • Isabel Bogdan Montag, 17. Juni 2013 um 11:56 Uhr [Link]

      Danke! (Ich habe ihm damals tatsächlich eine Facebooknachricht mit dem Link geschickt, aber da die Hälfte der Leute den Ordner „Sonstiges“ bei Facebook noch nie gesehen hat, wundert es mich auch nicht, dass er die Nachricht gar nicht gelesen hat. Jedenfalls hat sie kein „gelesen“-Häkchen, gerade nochmal nachgeguckt. Aber macht ja auch nix.)

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