Schwäne

    Der November steht vor der Tür. Irgendwann im November werden die Hamburger Alsterschwäne ins Winterquartier verfrachtet. Ich habe letztes Jahr zugeguckt, als sie zusammengetrieben und auf Boote verladen wurden – eigentlich für „Sachen machen“, aber dann passte es da irgendwie nicht recht rein. Hier jetzt also ein Jahr später:

Schwäne

Seit sechseinhalb Jahren lebe ich jetzt in Hamburg. Seit sechseinhalb Jahren höre ich von den „berühmten Hamburger Alsterschwänen“, die angeblich sogar Touristen anlocken, und seit sechseinhalb Jahren denke ich: hä? Schwäne sind schön, keine Frage, die Alsterschwäne auch, aber mal ehrlich: etwas so Besonderes sind sie nun nicht, jede Stadt hat Schwäne, jedes mittelgroße Gewässer hat Schwäne. Da brauchen die Hamburger sich auf ihre Alsterschwäne nicht groß was einzubilden. Dachte ich.
Die Hamburger haben aber einen Grund, sich etwas auf ihre Schwäne einzubilden. Es ist nämlich so, dass Schwäne früher durchaus nicht auf jedem besseren Tümpel wohnten, sondern nur von Königen und hohen Fürstenhäusern gehalten werden durften. Als Freie und Hansestadt setzte sich Hamburg demonstrativ darüber hinweg. Bis heute hält sich die Legende, dass dieser Status der Stadt erhalten bleibt, solange es Schwäne auf der Alster gibt.
Das Hamburger „Schwanenwesen“ gibt es schon seit Jahrhunderten, die Stelle des „Schwanenvaters“ ist die älteste Behördenplanstelle der Stadt. Es ist, wenn ich das richtig verstanden habe, bis heute bei Strafe verboten, die Schwäne zu beleidigen. Als würde jemals jemand einen Schwan beleidigen! Das wäre ja, also wirklich. Die Stadt Hamburg verschenkt sogar Schwäne, als offizielle Geschenke der Stadt. Bis nach Japan zum Beispiel, als Dankeschön für das alljährliche japanische Kirschblütenfest mit Feuerwerk.
Zu den Aufgaben des hauptamtlichen Schwanenvaters, im Moment ist das Olaf Nieß, gehören Hege- und Tierschutzmaßnahmen, auch für andere Wasservögel, die Rettung verunglückter Tiere, Aufzucht und Pflege verwaister Jungtiere und die Verfolgung von Straftaten bei Gewässerverunreinigung, Tierquälerei und Wilderei. (Quelle: Wikipedia und Alsterschwäne.de) Wilderei! Ich habe erst vor ein paar Jahren gelernt, dass man Schwäne überhaupt essen kann. Sollen aber nicht so lecker sein, angeblich schmecken sie nach Tran. Im Mittelalter hat man sie aber durchaus gegessen; bei großen Banketten wurde den fertig zubereiteten Tieren das komplette Federkleid wieder übergestülpt und mit Drähten in Form gebracht, sodass quasi ein lebensechter Schwan auf dem Tisch stand.

Immer im November werden die Hamburger Alsterschwäne ins Winterquartier gebracht. Wenn die Alster zufriert, friert sie nämlich von außen nach innen zu, und die Schwäne würden schlimmstenfalls in der Mitte festfrieren. Daher werden etwa 130 Schwäne vor dem ersten Kälteeinbruch zusammengetrieben, in Boote gepackt und in den Eppendorfer Mühlenteich gebracht, der mit einer Pumpe eisfrei gehalten wird. Außerdem werden sie dort gefüttert, wenn sie im Winter nicht genügend Futter finden. Bei der Gelegenheit werden die Tiere auch untersucht. Ich frage mich, ob sie sich einfach so verschleppen lassen, oder ob sie nicht, wenn sie im Mühlenteich ankommen, gleich wieder nach Hause fliegen, also dahin, wo sie den Rest des Jahres auch leben.

Dieses Jahr sehe ich mir an, wie sie eingefangen werden. Am Rathausmarkt, an der Schleuse der sogenannten „Kleinen Alster“. Als wir pünktlich um elf Uhr ankommen, liegt dort schon ein größeres Polizeiboot, das fast so lang ist wie die kleine Alster breit. Das lässt die Schwäne, die sowieso immer dort sind, schon mal nicht raus auf die große Alster. Ansonsten passiert erstmal eine ganze Weile gar nichts, außer dass es ganz schön kalt ist. Wir sind mehrere, mit Fotoapparaten bewaffnet, und machen alle dieselben Schwanenbilder. Und Polizeibootbilder. Und frieren.
Eine Gruppe Kindergartenkinder kommt. Ein Fernsehteam kommt. Wir warten und frieren. Ein paar kleinere, flache Boote mit der Aufschrift „Schwanenwesen“ kommen und treiben einige weitere Schwäne vor sich her. Dann passiert wieder eine ganze Weile nichts. Wir frieren. Es ist noch nicht mal zwölf Uhr mittags, ich fange an, über Glühwein nachzudenken. Die Fernsehleute bitten die Kindergartenkinder, sich auf der Treppe aufzustellen und im Chor „Guten Abend, Hamburg“ zu rufen. Machen die Kinder natürlich gerne.

Irgendwann kommt endlich Bewegung auf. Bei mir auch, ich fange an, auf der Stelle zu hüpfen, um ein bisschen warm zu werden. Auf dem Wasser fahren die Boote kreuz und quer, ziemlich schnell, um die Schwäne in die Schleuse zu treiben. Die Schwäne versuchen abzuhauen, sie flattern auf, flattern einige Flügelschläge übers Wasser, dann sinken sie wieder hinein. Die Schwäne können nicht fliegen, man hat ihnen die Flügel gestutzt. Das fällt wahrscheinlich nicht unter „Tierquälerei“, sondern irgendwie unter „Tierschutz“, hm? Ach was, sagt Jan, sie hätten früher zu Hause Enten gehabt, die hätten auch gestutzte Flügel gehabt, das würde denen nichts ausmachen. Das glaube ich, ehrlich gesagt, keine Sekunde lang. Vögel können (mit wenigen Ausnahmen) fliegen. Wenn man ihnen diese Möglichkeit nimmt, wenn man sie praktisch ihrer dritten Dimension beraubt, des dritten Elements, der dritten Fortbewegungsmöglichkeit, die neben Laufen und Schwimmen in ihnen angelegt ist, dann kann ich nicht glauben, dass ein Vogel das einfach so wegsteckt und genauso happy ist. Im Gegenteil, es macht mich richtig wütend. Bei Hagenbeck ist es noch schlimmer, da sieht man bei den Großvögeln, bei den Pelikanen und Störchen, dass der rechte Flügel immer nur halb so breit ist wie der linke. Immer wieder versuchen die Tiere zu fliegen, kommen aber nicht hoch, stattdessen laufen sie flatternd im Kreis, immer rechtsherum, weil sie eben unterschiedlich breite Flügel haben, es bricht einem wirklich das Herz. Aber ich verstehe natürlich nichts von Tierpsychologie, bestimmt ist das wirklich alles zu ihrem Besten. Zumindest wird es eine umfangreiche Erklärung geben, warum das angeblich nicht anders zu machen sein soll. Jedenfalls hat sich damit auch die Frage geklärt, warum sie aus dem Mühlenteich nicht gleich wieder nach Hause fliegen, sondern dort bleiben. Tschuldigung, ich steigere mich da gerade rein. Wo war ich?

Nach ein paar Minuten rasantem Herumflitzen auf der kleinen Alster wird es wieder ruhiger. Kein Schwan hat es geschafft zu entwischen. Etwa vierzig Tiere werden unter der Brücke hindurch in die Schleuse getrieben, die Boote ordnen sich schräg versetzt so an, dass kein Tier dazwischen durchkäme, und treiben sie so ganz langsam und sehr ruhig weiter in die Schleuse hinein. In der Schleuse wird dann auch noch Wasser abgelassen, sodass die Schwäne ziemlich tief unten im Becken sitzen und sicher nicht rauskommen.
Mir frieren langsam Hände und Füße ab. Auf der Brücke über dem Schleusenbecken drängeln sich jetzt die Leute, alle versuchen, die besten Fotoplätze zu ergattern. Die Kindergartenkinder sind total still. Ich nehme an, dass sie eher vor Kälte verstummt sind als vor Ehrfurcht oder Begeisterung. Sie klammern sich an den Stäben des Brückengeländers fest und gucken.

Die Schwäne schwimmen jetzt dicht an dicht am Schleusentor, direkt dahinter treiben ebenso dicht nebeneinander zwei mit Stroh ausgelegte Boote. In jedem Boot sitzen zwei Leute, einer davon ist Schwanenvater Nieß. Und dann holen sie die Schwäne in die Boote, was erstaunlich ruhig vonstatten geht: einer hängt sich über den Bootsrand, packt sich einen Schwan – wie schwer ist so ein Schwan? Etwa zehn Kilo, lese ich im Internet, die Weibchen etwas weniger, die Männchen etwas mehr. Zehn zappelnde, flügelschlagende, beißende Kilo aus dem Wasser zu heben, indem man mit dem Oberkörper halb aus dem Boot hängt: Respekt. Wobei die Schwäne sich gar nicht so vehement wehren, wie ich gedacht hätte. Wahrscheinlich gibt es irgendeinen Kniff, wie man sie anpacken muss. Im Boot bekommen sie Füße und Flügel zusammengebunden, damit sie nicht wieder ausbüchsen, und werden schön nebeneinander auf Stroh gebettet. Fast möchte man sagen: wie im Supermarkt. Erstaunlicherweise scheinen die Vögel sich in ihr Schicksal zu fügen, sie hacken nicht nacheinander, sie wirken eigentlich ganz unaufgeregt. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie auch gar keine Geräusche machen. Können Schwäne keine Geräusche machen? Manchmal fauchen sie, wenn man ihnen zu nahe kommt, aber auf der Brücke ist nichts zu hören. Bei Wikipedia steht:

„Höckerschwäne haben ein umfangreiches und variables Stimmrepertoire. Sie sind allerdings weniger laut und ihre Rufe sind weniger wohltönend als bei anderen Schwänen. Erregte Schwäne geben ein hartes, lautes hueiarr oder kiorr von sich. Zu ihren Lauten zählt auch ein leises krr-krr-krr oder tru-tru-truu. Ein Schwanenweibchen, das Junge führt, lässt bei Annäherung eines fliegenden Fressfeindes mehrsilbige ächzende Laute hören, die lautmalerisch mit krrr-wip-wip, chh oder einem tiefen chorr umschrieben werden können. Auch nach der Begattung geben Höckerschwäne gurgelnde, schnarrende und pfeifende Geräusche von sich.“

Ich höre kein hueiarr und kein kiorr. Und frage mich gerade, welche fliegenden Fressfeinde so ein Schwan wohl hat. Adler? In Hamburg eher weniger. Bussarde? Wenn das Junge klein genug ist? Vielleicht. Dass die Schwäne zu ihrem Besten gefangen und in den Mühlenteich transportiert werden müssen, sehe ich ein, auch wenn es für die Schwäne in dem Moment bestimmt nicht schön ist. Aber vielleicht wissen sie ja, dass sie nur vorübergehend gefesselt werden und es dann den Winter über gut haben.

Die Kinder sind vollends verstummt, die Erzieherinnen haben ein Einsehen. Die Kindergartengruppe zieht ab, und ich kann auch nicht mehr. Die ganze Aktion war ein bisschen weniger spektakulär, als ich dachte, dafür war es deutlich kälter, meine Finger und Zehen sind schon ganz gefroren. Jan und ich gehen Kaffee trinken und uns aufwärmen, und ich denke: ich kriege ja schon schlechte Laune, wenn ich kalte Füße habe. Und so einem Schwan soll es nichts ausmachen, wenn er nicht fliegen kann? Ich kann das nicht glauben.
Abends wird im Fernsehen über die Aktion berichtet. Schwanenvater Nieß erzählt, als sie am Mühlenteich ankamen, seien schon fast 20 Schwäne dort gewesen und hätten Einlass begehrt. Das finde ich beeindruckend: dass sie wissen, dass sie im Winter im Mühlenteich gut aufgehoben sind, ist ja nur das eine – aber dass sie merken, dass es genau an diesem Tag dorthin geht, das ist doch wirklich erstaunlich. Insgesamt dürften damit schon knapp 60 Schwäne im Mühlenteich angekommen sein, das ist beinahe die Hälfte. Bis alle (oder fast alle) Schwäne ins Winterlager im Winterlager sind, dauert es etwa zwei Tage. Die meisten Tiere haben sich schon in die Alsterseitenkanäle zurückgezogen, weil es da nicht ganz so kalt und zugig ist wie auf der Alster. Ich muss an die tragische Geschichte von dem schwarzen Schwan Petra in Münster denken, der sich in ein schwanenförmiges Tretboot verliebt hatte. Schwäne sind ihrem Partner normalerweise ein Leben lang treu, das Tretboot wurde zwei Jahre lang mit ins Winterlager im Münsteraner Zoo verlegt. Nach zwei Jahren hatte Petra eine kurze Affäre mit einem Höckerschwan und verschwand dann.

7 Kommentare

  1. Stephan Mittwoch, 24. Oktober 2012 um 20:48 Uhr [Link]

    Die Hamburger haben’s ja gerne ein bisschen britisch. Dort friert natürlich nichts zu, es wird nur gezählt. In UK&Ireland darf nur Her Maj die Schwäne essen, wer darf das bei Euch, Helmut Schmidt?

  2. Isabel Bogdan Mittwoch, 24. Oktober 2012 um 20:51 Uhr [Link]

    Ja, wahrscheinlich Helmut Schmidt. Ich glaube, in Großbritannien ist Schwanenbeleidigung auch Majestätsbeleidigung, und alle Schwäne im Land gehören automatisch der Queen. Oder so. Das ist aber irgendwie aufgeschnapptes Halbwissen.

  3. Irene Mittwoch, 24. Oktober 2012 um 21:33 Uhr [Link]

    In München gibt es auch viele Schwäne – sie sammeln sich zum Beispiel auf der Isar, weil die nicht zufriert. Wahrscheinlich sind wir deshalb so eigensinnig und freiheitsliebend in München.

    http://floriss.antville.org/tags/Isar/
    http://floriss.antville.org/tags/Isar/?page=6
    http://floriss.antville.org/tags/Isar/?page=7

    Da der Schwan zu den Gänsen zählt, schmeckt er wahrscheinlich auch so ähnlich. Ein Schwan ist sozusagen eine vornehme Gans mit langem Hals.

  4. Frische Brise Mittwoch, 24. Oktober 2012 um 21:45 Uhr [Link]

    Und die Berliner Schwäne sind hartgesotten, die brauchen auch nicht eingesammelt werden ;-)

  5. Irene Donnerstag, 25. Oktober 2012 um 01:48 Uhr [Link]

    Nachdem das ja zur Hälfte Jugendliche sind: Wo brüten die eigentlich?

  6. Isabel Bogdan Donnerstag, 25. Oktober 2012 um 09:17 Uhr [Link]

    So rundum am Alsterufer. Nehme ich an.

  7. Petra Donnerstag, 25. Oktober 2012 um 11:38 Uhr [Link]

    Aber hallo, wenn man/Du schon anfängt über Glühwein nachzudenken. Also, dann wird es echt heftig.

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