Schreibtischtäter und Wanderarbeiter

Seit zwölf Jahren übersetze ich Bücher. Dazu sitze ich am Schreibtisch. Er besteht aus einer einfachen Holzplatte auf IKEA-Beinen, mein Schreibtischstuhl ist ebenfalls von IKEA und wird langsam irgendwie schief, außerdem quietscht er. Egal, an diesem Tisch und auf diesem Stuhl sitze ich also seit Jahr und Tag und übersetze. Links des Monitors steht ein Buchständer mit dem Original. Die Originale der zu übersetzenden Bücher sind die einzigen Bücher, die ich schlecht behandle, ich biege sie um, damit sie offenbleiben, und weil sie das trotzdem nicht tun, nehme ich Wäscheklammern zu Hilfe. Und dann sitze ich vor Buch und Monitor auf meinem Stuhl am Schreibtisch und arbeite. Tagaus und tagein.
Neuerdings schreibe ich auch manchmal. Es fing vor Jahren an mit Blogeinträgen, die gingen so nebenbei. Dann kamen ein paar etwas längere Sachen, die „Sachen machen“-Texte, die entstanden teils ebenfalls am Schreibtisch, teils auch im Bett, und jetzt stelle ich fest: sobald ich etwas Literarisches schreibe, etwas Fiktionales, eine Geschichte, verlasse ich den Schreibtisch und vagabundiere mit dem Laptop durch die Wohnung. Ich arbeite am Küchentisch, am Esstisch, im Bett, auf dem Sofa, auf dem Balkon. Überall, nur nicht am Schreibtisch. Ich liege soherum quer auf dem Sofa, oder andersherum quer, oder habe die Füße auf dem Couchtisch. Am Küchentisch ist es irre unbequem, egal. Auf dem Balkon bin ich nur bei Sonnenschein und kann auf dem Monitor kaum etwas erkennen. Macht nichts. Ich ziehe herum und meide den Schreibtisch.
Das war kein Beschluss, ich bin nicht irgendwann auf die Idee gekommen, anderswo zu schreiben als im Arbeitszimmer, ich hatte nicht die erklärte Absicht, Schreiben und Übersetzen räumlich zu trennen. Ich habe nur irgendwann festgestellt, dass es so ist. Ich mache das einfach. Und weil ich solche umwerfenden Entdeckungen immer gleich raustrompeten muss, habe ich das auf Facebook geschrieben, und siehe da: geht allen so. Alle, die sowohl übersetzen als auch schreiben, sagen, dass sie am Schreibtisch übersetzen und zum Schreiben durch die Gegend ziehen. Andere sagen, sie gehen nur zum Überarbeiten an den Schreibtisch und machen die kreativen Sachen irgendwo anders. Eine davon war Zoe Beck, die hauptsächlich Autorin ist und zwischendurch auch mal übersetzt, und sich gleich für CulturMag ein paar Gedanken über das Thema gemacht hat.
Meine Spontanthese war, dass man zum Übersetzen mehr Konzentration, zum Schreiben mehr Inspiration braucht. Natürlich braucht man auch zum Übersetzen Inspiration und zum Schreiben Konzentration, aber die Gewichtung ist irgendwie anders. Zoe Beck erklärt es mit John Cleese und bezieht sich damit auf diesen Vortrag über Kreativität. Cleese spricht von „offenen“ und „geschlossenen“ Bewusstseinszuständen oder Denkweisen. Vielleicht ist es tatsächlich spielerischer, mal hier und mal dort zu sitzen oder zu liegen oder zu stehen, verschiedene Ausblicke zu haben (die man in der eigenen Wohnung natürlich alle kennt, aber hey), verschiedene Sitz-, Steh- und Liegepositionen, unterschiedlichen Lichteinfall. Vielleicht ist man offener, wenn man herumzieht, und fokussierter, wenn man immer am selben Platz sitzt. Das Gehirn ist ein wundersames Ding.
Zoe Beck schreibt über mich: „ Vor ein paar Tagen teilte sie auf Facebook mit, dass sie, wenn sie schreibt, mit dem Laptop durch die gesamte Wohnung wandert und nicht so recht weiß, wohin mit sich und dem Gerät. Beim Übersetzen hingegen – kein Problem. Da bleibt sie am Schreibtisch.“
Och. Ich habe gar kein „Problem“ damit, zum Schreiben nicht am Schreibtisch zu sitzen. Erstmal war das eine reine Feststellung, ich war selbst überrascht, als ich merkte, dass es einfach so ist. Eigentlich finde ich es eher lustig. Ein Problem sehe ich nicht, und ich fühle mich auch nicht unwohl damit. Ich spüre durchaus eine kleine Unruhe, die weiß ich aber zu schätzen, die finde ich gut. Die ist produktiv. Wie eine Art Reisefieber. Man weiß grob, in welche Richtung es geht (oder auch nicht), aber nicht genau, was einen da erwartet. Oder man weiß, wie die nächsten Schritte aussehen, aber nicht, wo sie hinführen. Oder man hat ein Ziel, weiß aber nicht, wie man dahin kommt. Das alles macht unruhig, und vielleicht wird diese produktive Unruhe körperlich manifest, indem man durch die Gegend zieht.
Vielleicht ist es so: ich bin zutiefst überzeugt, dass Übersetzen eine vollkommen andere Arbeit ist als Schreiben. Es gibt ja Leute, die das Übersetzen für eine Art „Schreiben zweiter Klasse“ halten, auch wenn sie es höflicherweise nicht ganz so deutlich ausdrücken würden; die dauernd fragen, ob man nicht selbst schreiben will, als wäre das der logische nächste Schritt nach dem Übersetzen. Oder als müssten Übersetzer eigentlich lieber schreiben wollen, hätten es aber nicht geschafft. So ist es aber nicht. Es ist einfach eine andere Arbeit. Und vielleicht möchte mein Unterbewusstsein mich in dieser Ansicht bestärken (denn die andere habe ich allzu oft gehört), indem es mir sagt, ich soll die andere Arbeit auch anderswo ausüben.

Die allererste Geschichte, die ich je geschrieben habe, ist einigermaßen unausgegoren. Ich glaube, ich habe sie zum größten Teil am Schreibtisch geschrieben. Meine erste Geschichte, die ich selbst immer noch gut finde, nämlich „Brombeeren“, habe ich in Schottland angefangen und auf der Fähre quasi eruptiv zu Ende geschrieben (kein Internet!). Vielleicht sollte ich da mal drüber nachdenken. Und es als nächstes mit einem Café oder so versuchen. Oder mit verschiedenen Cafés. Oder nee, ich weiß was: Lasst uns einen Autorenzirkel zum Ringtausch von Arbeitszimmern gründen, dann kann jeder jeden Tag wo anders arbeiten. Quatsch, Arbeitszimmern: Wohnungen. Wir werden reihum an den Schreibtischen anderer Autoren sitzen, in ihren Betten liegen, an ihren Küchentischen hocken und auf ihren Sofas lümmeln. Und sind unfassbar kreativ, weil wir jeden Tag eine neue Umgebung haben. Ach, das wird toll!

9 Kommentare

  1. Sandra Montag, 4. Juni 2012 um 14:15 Uhr [Link]

    Mir fällt da sofort die Walt-Disney-Methode ein:
    http://de.wikipedia.org/wiki/Walt-Disney-Methode

    Wobei mir Deine Beschreibung, ich nenne sie mal die Bogdansche-Methode besser gefällt, weil sie mir intuitiver erscheint. Das ist mir lieber, denn vielleicht ist der Träumer heute in der einen Ecke zu finden und morgen in der anderen Ecke?

    Ich finde mich gut darin wieder und will mich gar nicht auf eine Ecke festlegen.
    Wie auch immer: ich bin so dankbar, dass ich jeden Tag frei wählen darf, wann ich was wo erledige. Diesen Freiberuflerluxus gebe ich nicht mehr her.
    Heute Braunschweig, morgen Hamburg, übermorgen Paris? Wien? London?
    Herrlich! :-)

  2. Dentaku Montag, 4. Juni 2012 um 14:51 Uhr [Link]

    Ich könnte da ein paar Softwareentwicklerarbeitsplätze für Gäste anbieten.

    Vorteil: schnelle Rechner, große Monitore
    Nachteil: sehr eigenartige Softwareausstattung

  3. Frank Montag, 4. Juni 2012 um 20:16 Uhr [Link]

    Und wie wär’s mit einem Helgoland-Aufenthalt?

  4. Isabel Bogdan Montag, 4. Juni 2012 um 21:14 Uhr [Link]

    Helgoland ist immer super. Auch zum Arbeiten, am besten mit Adelhaid, da kann man voll viel schaffen! Ich glaube, wir peilen wieder September an.

  5. Indica Mittwoch, 6. Juni 2012 um 09:07 Uhr [Link]

    Und Sie nennen sich dann die „Wander-Poeten“ …

    Kann ich nur bestätigen – wenn ich mich bei der Arbeit herumbewege, kommen die Ideen. Zum beruflichen Schreiben sitze ich am liebsten im Büro, am Schreibtisch. Zum Bloggen und so lümmele ich an den Lieblingsplätzen in den Wohnungen herum. Diese Splittung hatte ich auch in meiner freiberuflichen Phase, Arbeitszimmer war Arbeit, der Rest der Wohnung „Spaß“.

  6. slowtiger Dienstag, 12. Juni 2012 um 17:17 Uhr [Link]

    Ach, Cafés, in denen man arbeiten könnte: wo gibts das denn heute noch? Überall plärrt Musik, und wo nicht, da läuft Fußball. Ich hab schon zu Schulzeiten in Cafés gesessen und gezeichnet oder geschrieben.

    Ansonsten kenn ich das, diese Assoziation von Schreibtisch = (unangenehme) Arbeit. Übrigens schreibe ich besonders gern und viel in der Bahn. Berliner S-Bahn-Ring geht auch – aber nur, wenn er mal fährt.

  7. Isabel Bogdan Dienstag, 12. Juni 2012 um 18:10 Uhr [Link]

    Nee, Schreiben sehe ich durchaus auch als Arbeit, und Übersetzen nicht als unangenehm. Beides ist Arbeit, und beides ist manchmal anstrengend und manchmal super. Das ist es also nicht.
    In der S-Bahn wäre mir zu viel Ablenkung, glaube ich. Vielleicht aber auch gerade nicht. In der Bundesbahn geht es jedenfalls super, weil kein Internet. Da habe ich schon oft erstaunlich viel geschafft. Irgendwann kaufe ich mir eine Bahncard 100 und arbeite nur noch in der Bahn.

    • Dentaku Dienstag, 12. Juni 2012 um 18:15 Uhr [Link]

      Die Idee finde ich ja unglaublich toll.

    • Isabel Bogdan Dienstag, 12. Juni 2012 um 18:45 Uhr [Link]

      Die Bahncard100 kostet 4000,- €, das wären 333,- im Monat, wenn man es als Büromiete ansehen würde. Das kann ich mir nicht leisten. Aber vielleicht könnte man die Bahn überreden, sowas wie „Author in Residence“-Bahncards zu spendieren. Dann könnten Autoren, Übersetzer, Journalisten etc. schön in Ruhe in der Bahn arbeiten.
      Als nächstes müsste dann noch an der Sitzergonomie gearbeitet werden.

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