Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil

Arno Geigers Vater ist an Demenz erkrankt. Ziemlich lange bleibt er dennoch in seinem Haus in einem kleinen Dorf in Vorarlberg wohnen, das er vor Jahrzehnten selbst gebaut hat, die Familie kümmert sich reihum um ihn. Das klingt erstmal anstrengend und nervenaufreibend für alle Beteiligten. Klingt auch nach: starker Tobak, verstörendes, unangenehmes Buch, sowas halt. Aber das Gegenteil ist der Fall: Arno Geiger schreibt zwar möglicherweise irgendwo, dass es anstrengend und nervenaufreibend ist, aber man spürt es nicht. Es kommt im Ton des Buches nicht die geringste Gereiztheit oder sowas auf. Im Gegenteil, es spricht eine unglaubliche Liebe aus jeder Zeile; Liebe zu seinem Vater, die er durchaus nicht sein ganzes Leben lang so empfunden hat, und eine erstaunliche Akzeptanz für die Besonderheiten des Lebens. Ich bin wirklich beeindruckt, wie Geiger es schafft, diese Krankheit als Teil des Lebens zu akzeptieren, sich entsprechend zu verhalten und seinen Vater ganz neu kennenzulernen.

    Für uns alle ist die Welt verwirrend, und wenn man es nüchtern betrachtet, besteht der Unterschied zwischen einem Gesunden und einem Kranken vor allem im Ausmaß der Fähigkeit, das Verwirrende an der Oberfläche zu kaschieren. Darunter tobt das Chaos.
    Auch für einen einigermaßen Gesunden ist die Ordnung im Kopf nur eine Fiktion des Verstandes. (S. 57/58)

Und weil Geiger im Laufe der Zeit ein so tiefes Verständnis für die Krankheit entwickelt, ist dieses Buch erstaunlicherweise gar nicht traurig oder verstörend, sondern unglaublich schön. Beglückend. Man möchte jedem Alzheimerpatienten wünschen, dass er jemanden wie Arno Geiger an seiner Seite hat, der ihn begleitet und ihn glücklich machen möchte. Er schreibt selbst, dass sein Vater nicht mehr über die Brücke in seine Welt kommen kann, also muss er selbst über die Brücke zu seinem Vater gehen. Dort, in der Welt des Vaters, gelten völlig andere Regeln. „Es ist eine seltsame Konstellation. Was ich ihm gebe, kann er nicht festhalten. Was er mir gibt, halte ich mit aller Kraft fest.“ (S. 178)

    Dann schaute er mich an, musterte mich freundlich und sagte:
    „Du bist einer, der viele Dinge gemocht und viele Dinge ums Verrecken nicht gemocht hat.“
    „Manche Dinge habe ich gerne gemocht“, sagte ich.
    „Abenteuer hast du immer gerne gemocht. Ich nicht.“
    „Was hast du gerne gemocht?“
    „Heimgehen.“ (S. 184)

Wundervolles Buch. Bitte lesen.

Was andere sagen, die es besser ausdrücken können als ich:
„Ein taktvolles, filigranes und fabelhaft einfaches Buch, ein Monument für einen Lebenden. … ‚Der alte König in seinem Exil‘ ist nicht nur ein berührendes Buch, es ist auch eine glänzende Zwischenbilanz des Autors und manches mehr – Familiengeschichte, Kindheitserinnerung und Autobiografie, Dorfchronik und Weltbetrachtung.“ Franz Haas, Neue Zürcher Zeitung, 09.02.11
„‚Der alte König in seinem Exil‘ ist nicht nur ein berührendes ‚document humain‘, sondern auch ein Kunstwerk. Denn es ist eine Kunst, das Persönliche nicht als Privatsache zu behandeln, sondern exemplarisch zu gestalten. … Vor allem ist dieses Buch eine Liebesgeschichte. Sie beschreibt eine Nähe, die aus der Bereitschaft hervorrührt, sich ganz auf die Welt des Vaters einzulassen.“ Martin Ebel, Tages-Anzeiger, 08.02.11
„Am meisten bewundert man an dem Buch die Kraft, mit der hier eine individuelle Geschichte erzählt wird. Es ist ein Buch über einen Vater geworden. Kein Buch über Alzheimer. Und man freut sich beim Lesen darüber, weil das vielleicht das Schönste ist, was bei so einer Konstellation geschehen konnte.“ Dirk Knipphals, die tageszeitung, 19.02.11
„Bei Geiger wird diese Krankheit zu einer Chiffre für eine ganze Welt des Vergessens und Verdrängens. … Geigers Buch ist keine Krankengeschichte, sondern eine auch komische Erzählung über eine Welt, in der Alltagsvernunft und Demenz gar nicht so weit auseinanderliegen, wie man glaubt. Dabei wird nichts verklärt, aber manches wird klarer.“ Dieter Moor, ARD titel thesen temperamente, 20.03.11

Arno Geiger steht im Regal zwischen Théophile Gautier und Wilhelm Genazino.

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. 189 Seiten. Hanser, 17,90 €
E-Book 13,99 €
Hörbuch 13,99 € / 19,95 €.

Alsterbrückenschlösser

Ob es zwei Sternchen gibt? Oder Findus und Junkie dieselbe Person sind? Was hat es mit den beiden Ringen auf sich, die zusammen mit dem Sektkorken an dem rostigen Schloss hängen? Die Verlobungsringe anlässlich der Hochzeit an die Brücke gekettet? Und wie es Christiane wohl geht, die ihre Mantras an die Brücke schließt „ich lebe jetzt“ und „ich verabschiede die Kontrolle“, und noch ein drittes, das ich vergessen habe? Und wem gehört „meins“?

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