Ich habe mir eine Fahrkarte gekauft, der Automat hat mir Wechselgeld zurückgegeben. Hinter mir am Mülleimer war gerade ein Pfandflaschensammler, dem wollte ich zwei Euro in die Hand drücken. Er trug einen abgeschabten Anzug und hat wortlos, mit entsetztem Blick und einer deutlichen Geste abgelehnt. Dann hat er in den nächsten Mülleimer geguckt, ob Pfandflaschen drin sind. Mein Almosen wollte er nicht.
Zehn Minuten später stieg ich aus der Bahn, am Straßenrand stand eine Frau mit einem Schild „Ich habe Hunger“. Ich habe ihr nichts gegeben, weil ich es inzwischen etwas eilig hatte und erst mein Portemonnaie wieder aus der Tasche hätte kramen müssen.
Viel falscher wäre es wohl nicht gegangen.
Sina Valentina heißt eigentlich David Stöcker und ist Dragqueen. Wir waren erst bei ihm zu Hause und haben sie dann am Samstag auf dem CSD getroffen. Bitte hier entlang:
Lange nicht gebloggt! Ich war in Urlaub in Glen Offline, vielleicht schreibe ich noch was drüber. Mal sehen. Gestern sind wir zurückgekommen, heute war gleich Remmidemmi in der Stadt, und ich war gucken. Ich mag die Parade zum Christopher Street Day. Homophobie gruselt mich zutiefst, ich finde es immer noch wichtig, dafür auf die Straße zu gehen, dass Menschen sein dürfen, was sie sind. Und das mit einer großen Party zu feiern, zu der sich jeder verkleiden darf, wie er will, die aber trotzdem nicht nur eine Party ist. In letzter Zeit hieß es, die Parade sei zu unpolitisch geworden, das fand ich nun gar nicht. Es gab reichlich Schilder mit politischen Forderungen und Aussagen, eine Gruppe trug eine Riesenflagge aus den Flaggen aller Länder, in denen Homosexualität strafbar ist. Ganz vorne gingen sieben Leuten, deren Köpfe in Schlingen steckten, die an einem Riesengalgen befestigt waren. Sie trugen T-Shirts mit den Flaggen der sieben Länder, in denen Homosexualität mit dem Tod bestraft wird und hielten einander an den Händen. Sehr eindrucksvoll, ich habe es leider verpasst, nur irgendwo ein Bild davon gesehen, aber das reicht schon.
Übrigens sind auch alle politischen Parteien mitgegangen, außer der CDU, soweit ich das gesehen habe. Die beste Stimmung herrschte ausgerechnet bei der FDP, man staunt.
Ansonsten gab es erstaunlich schlechte Musik in einer erstaunlichen Lautstärke. Nur der schwule Männerchor mit den choreografierten ABBA-Songs war wie immer zu schnell vorbei.
Und, pssst: über jemanden, der sich unauffällig irgendwo auf diesen Bildern versteckt, gibt es am Dienstag bei „was machen die da“ noch mehr.
Wow. Was für ein durch und durch großartiges Buch. Es erzählt die Geschichte von Laurits, der in einem Stockholmer Nobelviertel aufwächst, bei seinem despotischen Vater und der kuschenden Mutter. Er entdeckt früh seine Liebe zur Musik, lernt Klavierspielen, wird gut, sehr gut sogar. Aber dann wird er Arzt und macht am Ende Unterhaltungsmusik auf einem Kreuzfahrtschiff (das weiß der Leser auch von Anfang an, ich plaudere hier nichts aus). Welche Katastrophen, Glücksmomente, Lebenslügen, Umwege und Neuanfänge ihn dahin gebracht haben, wird so wundervoll und poetisch erzählt und berührt einen so, dass man gar nicht möchte, dass es aufhört. Ich habe lange nicht mehr so viele Stunden am Stück gelesen. „Der Grund“ hält über die gesamten 270 Seiten die Spannung, ohne dabei je die Ruhe zu verlieren. Das liegt auch an der unglaublich kunstfertigen Verschachtelung der Erzählzeiten, mit Tagebucheinträgen und Rückblicken und Rahmenhandlungen, mit Beschreibungen und Stimmungen und ganz viel Musik. Mit „kunstfertig“ meine ich nicht „verkünstelt“, sondern im Gegenteil: so unaufdringlich gemacht, dass man es kaum merkt und nie den Faden verliert. Der Roman protzt nie mit dieser Perfektion, er sagt mit keiner Zeile „seht her, wie toll ich bin“, dabei finde ich ihn obendrein auch noch makellos formuliert. Die Sprache ist unaufdringlich, sie fließt, sie trägt die Geschichte und ordnet sich ihr gleichzeitig unter.
Und dann die Geschichte! „Wie oft kann ein Mensch von vorn beginnen?“, fragt der Klappentext. Ja, das fragt man sich. Laurits muss ein paarmal von vorn beginnen. Ob er es beim letzten Mal schafft … Aber auch hier protzt die Geschichte nicht, sie übertreibt nicht, sie wird nie unplausibel. Ich bin hin und weg, das ist für mich der Roman des Jahres, ich werde gleich mal ein ganzes Paket bestellen, um es weiterzuverschenken.
Bitte geht sofort alle in die nächstbeste Buchhandlung und kauft es, und dann geht ihr hinterher wieder hin und erzählt den Buchhändlerinnen, wie toll es ist, damit das bitte ein Erfolg wird. Was für ein wundervolles, wundervolles, möchte fast sagen: perfektes Buch. Mit Musik und Schiffen.
Anne von Canal: Der Grund. mare, 269 Seiten, 20,00 €
Vor lauter Sommer sind wir mit dem Rhythmus ein bisschen durcheinandergekommen, dafür ist das aktuelle Interview aber umso großartiger: Gesa und ihre Familie haben für drei Monate ein herzkrankes Kind aus Afghanistan aufgenommen, das hier operiert wurde. Ich kann mir kaum vorstellen, was für alle Beteiligten – Kind, Eltern, Gastfamilie – bedeutet. Aber wie es aussieht, machen sie das alle ganz großartig. Bitte hier entlang.