Übersetzerfreuden

In meiner aktuellen Übersetzung geht es mehrfach darum, dass ein älteres Ehepaar nach London fährt, to the family solicitor to make their wills, und ich übersetze den solicitor immer schön als Anwalt – vielleicht macht man sein Testament in Deutschland eher beim Notar, ich weiß es nicht, aber ein solicitor in England ist ein Anwalt. Genauer gesagt, einer, der nur vor niederen Gerichten zugelassen ist, aber das führt zu weit und ist für mich gerade nicht relevant, in der Übersetzung bleibt er „Anwalt“, ohne dieses Detail. Und bei der ich-weiß-nicht-wievielten Erwähnung dieses Anwalts, als das Ehepaar nicht mehr nur plant, dort einen Termin zu machen und dort hinzufahren und sich dort zu treffen und so weiter, steht da plötzlich folgendes:

The solicitor had muddled her diary oder had had to stay at home with sick children or her mobile phone was out of order or a mixture of the three, which had meant their trip to Bantry Street had been for nothing.

Anders gesagt: Reingefallen. Der Anwalt ist eine Anwältin. Ich muss mal kurz mein Unterbewusstsein zur Ordnung rufen, denn daran habe ich tatsächlich nicht gedacht. Bei allen cousins und servants und so überlege ich, ob es nun Männer oder Frauen sind, warte auf Hinweise, markiere mir die Stellen, aber der Anwalt war in meinem Kopf ein Anwalt. Das hängt möglicherweise damit zusammen, dass der Protagonist ebenfalls Anwalt ist, allerdings ein deutlich höherer, und seine Lebensgeschichte zurückgeht bis vor dem zweiten Weltkrieg. Da waren die Kronanwälte, die für das British Empire in Fernost arbeiteten, durch die Bank Männer. Diese Szene hier spielt aber um die Jahrtausendwende, als er schon sehr alt ist.
Dann korrigier ich diesen Anwalt jetzt mal rückwärts durch zu einer Anwältin.

(Gebt’s zu: Wer von euch hat beim ersten Lesen sofort „oder Anwältin“ gedacht?)

19 Kommentare

  1. syvi25 Montag, 10. November 2014 um 12:04 Uhr [Link]

    Ich hab mal einen Krimi von Arnaldur Indriðason der in der Ich-Perspektive geschrieben war fast bis zum Schluss gelesen in der festen Überzeugung das das „Ich“ ein Mann ist. War aber nicht so. Plötzlich war der Mörder eine Mörderin. Dann musste ich das Buch nochmal lesen, weil ich gar nicht geschnallt habe wie mir das passieren konnte. Ich habe auch beim zweiten Lesen keinen Hinweis gefunden, der mich auf die richtige Spur hätte bringen können.

  2. Claudia Montag, 10. November 2014 um 14:01 Uhr [Link]

    Mir ist neulich das umgekehrte Problem bewusst geworden – angetroffen habe ich es sicher schon oft –, dass nämlich der Leser eines französischen Originals oft im ersten Satz mitbekommt, ob das Ich-Erzähler männlich oder weiblich ist, während ich diese Info – selbst jetzt, wo ich Problembewusstsein habe – nur mit Mühe und oft erst viel später geben kann.
    Wenn das Geschlecht der Anwältin keine tragende Rolle spielt, würde ich auch von Anfang an Anwältin schreiben. Der Autor hat ja nichts bewusst verheimlicht, sondern die Sprache funktioniert halt so.

  3. Isabel Bogdan Montag, 10. November 2014 um 14:13 Uhr [Link]

    Öh? Natürlich schreibe ich von Anfang an „Anwältin“; vollkommen egal, ob das Geschlecht eine tragende Rolle spielt oder nicht. Sie in eine Frau und fertig.
    Ich habe nur während der Arbeit erstmal unreflektiert „Anwalt“ geschrieben, weil ich eben nicht wusste, das sie eine Frau ist, und irgendwie von einem Mann ausgegangen war. Klassisches „Problem“ der englischen Sprache, verheimlicht wird da nix, es funktioniert nur anders als auf Deutsch.

  4. Christoph Montag, 10. November 2014 um 14:26 Uhr [Link]

    Was denkt denn der englische Leser, wenn er es im Original liest? Denkt er an Rechtsanwalt? Dann wäre es für ihn doch genau so überraschend, daß es sich um eine Rechtsanwältin handelt wie für Dich. Und dann wäre es doch passender, zunächst mit Rechtsanwalt zu übersetzen bis zu der Stelle, wo deutlich wird, daß es sich um eine Rechtsanwältin handelt…

    Da kommt bei mir die Frage auf:

    Müssen politisch korrekte britische Politiker auch Wählerinnen und Wähler sagen?

    Und müßte der Gehweg nicht politisch korrekt Bürgerinnen- und Bürgersteig heißen?

  5. Ebba Montag, 10. November 2014 um 14:31 Uhr [Link]

    Ach Isa – ich bin bekennende Alt-Feministin, und obwohl ich keine gleichbehandlungs-fordernden Wutanfälle mehr bekomme, bin ich doch immer und immer feministisch wachsam.
    Dann lese ich so etwas wie: Dr. Müller veranschaulichte die Komplexität der Institutsaufgaben etc etc etc . Sie fügte hinzu …
    SIE??? Ich stoppe und fange von vorn an.
    Die allermeisten von uns sind Sexisten. Wir dürfen es uns nur nicht durchgehen lassen.

  6. Isabel Bogdan Montag, 10. November 2014 um 14:32 Uhr [Link]

    Ich habe keine Ahnung, was der englische Leser denkt, aber ich glaube nicht, dass hier irgendeine „Überraschung“ angelegt ist. Es gibt im Englischen schlicht keine Möglichkeit, vorher das Geschlecht klarzustellen, wenn kein Personalpronomen vorkommt, sondern immer nur die Berufsbezeichnung in einem Nebensatz.
    Das wollte ich eigentlich nur darstellen. Dass man sich dessen beim Übersetzen immer bewusst sein muss. Und im Zweifel sogar auch mal selbst eine Entscheidung treffen muss.

  7. Isabel Bogdan Montag, 10. November 2014 um 14:35 Uhr [Link]

    Ich glaube, außer mit Sexismus hat es auch damit zu tun, dass im Deutschen die weibliche Form halt immer gekennzeichnet ist. Im Englischen ist sie das manchmal, bei waitress oder actress z.B., und deswegen gehen wir bei unmarkierten Berufsbezeichnungen erstmal von Männern aus. (Und weil wir sowieso erstmal von Männern ausgehen, klar.)

  8. Kirsten Montag, 10. November 2014 um 14:43 Uhr [Link]

    Oh, was Syvi sagt, nur war es in meinem Fall eine Erzählerin, bei der sich erst nach langer, langer Zeit für mich herausstellte, dass sie schwarz ist. Auch sehr erhellend.

  9. adelhaid Montag, 10. November 2014 um 16:04 Uhr [Link]

    ja, aber man hat ja immer irgendein bild im kopf, sei es nun auf das geschlecht bezogen oder sonstworauf. ich habe mal ein buch einer britischen autorin die ganze zeit mit britischem akzent im kopf gelesen, bis sich im letzten kapitel rausstellte, dass es in kanada spielt. da war ich kurz ein bisschen durcheinander.

  10. Trippmadam Dienstag, 11. November 2014 um 07:22 Uhr [Link]

    Ich gebe hiermit zu: das ist mir schon mehr als einmal passiert, sowohl beim Geschlecht als auch bei der Hautfarbe. Außerdem oute ich mich als eine der Leserinnen, die bei Toni Morrisons „Paradies“ verzweifelt versucht hat, zu kapieren, welche der vier oder fünf Protagonistinnen nun welche Hautfarbe hat. (Tipp: Toni Morrison lässt es absichtlich offen, wie sie einmal in einem Interview gesagt hat, und zwar aus gutem Grund.)

  11. lihabiboun Dienstag, 11. November 2014 um 15:17 Uhr [Link]

    @adelhaid: „… mit britischem akzent gelesen …“ made my day. Wenn man in „normalen Zusammenhängen“ jemandem so was sagt, wird man angeguckt wie ein Spinner.

  12. percanta Dienstag, 11. November 2014 um 16:52 Uhr [Link]

    Nebenerkenntnis: Du übersetzt beim ersten Lesedurchgang!
    (Nein, natürlich hätte ich auch Anwalt gesagt. Und mich gerade erst sogar für einen Augenblick empört, dass Du aus kranken Kindern etc. schließt, dass es eine Anwältin ist. Ok, dann steht da auch noch HER. Das hab ich aber nach dem künstlichen Aufregen gesehen.)

  13. Isabel Bogdan Dienstag, 11. November 2014 um 16:55 Uhr [Link]

    Ha, nee, ich hatte das schon gelesen. Natürlich! Aber das war vor den Sommerferien, und die Anwältin spielt überhaupt keine wirkliche Rolle, sie ist nur der Anlass, nach London zu fahren, kommt sonst aber nicht weiter vor. Da hatte ich sie schon wieder vergessen.

  14. percanta Dienstag, 11. November 2014 um 17:09 Uhr [Link]

    Nach meiner Theorie der intendierten Symmetrien assoziiert man glaube ich das Geschlecht der Erzählinstanz zunächst und bis zu ersten Markierung (wenn es denn überhaupt eine Erzählinstanz ist, die ein Geschlecht hat und als eine Art Figur fassbar wird) mit dem Geschlecht des Autors resp. der Autorin. Umso irritierender, wenn auch das erstmal nicht deutlich sein sollte.
    (Erst in der letzten Korrektur meiner Magisterarbeit wurde aus der Literaturwissenschaftlerin Volodia Teitelboim ein Literaturwissenschaftler. Uff.)

  15. Frau R. Donnerstag, 13. November 2014 um 10:27 Uhr [Link]

    Ha, soeben andersrum passiert – mit concierge (engl. Ausgangstext). Zum Glück kam schon nach einer halben Seite das aufklärende „he“.
    Schöne Grüße aus Leipzig.

  16. Frau Eff Freitag, 14. November 2014 um 07:40 Uhr [Link]

    Was mich jetzt überrascht: Man kann das Buch noch nicht auf Englisch kaufen (nur digital), aber schon in der deutschen Übersetzung? (Ihre Übersetzung ist sicher großartig)

  17. Isabel Bogdan Freitag, 14. November 2014 um 09:03 Uhr [Link]

    Öh, falscher Strang? Nick Hornby? Ich habe es gestern auf Englisch in einer Buchhandlung gesehen.
    Aber: Genau, es ist ungefähr gleichzeitig in GB und hier erschienen. Bei so „großen“ Autoren haben die Verlage zunehmend Angst, dass die deutschen Leser nicht die Übersetzung kaufen, sondern das Original.

  18. Frau Eff Freitag, 14. November 2014 um 13:52 Uhr [Link]

    Ja, öh, falscher Strang… Anyway: Der böse Amazon sagt „Dieser Artikel ist noch nicht erschienen“. Waterstones verkauft es aber schon.

  19. Isabel Bogdan Freitag, 14. November 2014 um 13:58 Uhr [Link]

    Huch? Bei mir ist er überall bestellbar, bei amazon.de, amazon.co.uk und amazon.com.
    Egal, Ihr sollt ja weder bei Amazon bestellen, noch das Buch im Original kaufen. :-)

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