Mischwesen und Magie
Ein Gastbeitrag von meiner Kollegin Gesine Schröder, die einen Leserbrief beantwortet. Und die Antwort ist so toll, dass ich sie hier gern veröffentliche:
Leserbrief zur Übersetzung von Louise Erdrich: Das Haus des Windes. (Berlin: Aufbau 2014)
Liebe Frau Schröder, mir hat das Buch in Ihrer Übersetzung wunderbar gefallen – es hat so eine besondere Stimmung, die berührt und es einem warm ums Herz werden lässt. Eine Freundin von mir bemängelte dann, dass Sie in einem Dialog den Ausdruck „… auf jeden …“ für „auf jeden Fall“ verwenden, was doch ein typisch Berliner Ausdruck der 2000er Jahre sei und nicht nach Amerika passe. Mir fällt kein Argument ein, das ich ihr entgegnen könnte – vielleicht, wenn Sie Zeit haben, geben Sie mir einen Tipp.
Einen herzlichen Gruß,
XY
Liebe Frau Y,
ich freue mich über diese sehr interessante Frage. Die kurze Antwort lautet: „Auf jeden“ ist tatsächlich problematisch. Es sollte nicht passieren, dass sich jemand beim Lesen plötzlich in die Nullerjahre nach Berlin versetzt fühlt. Ich hoffe natürlich, dass es nicht vielen Leserinnen und Lesern so gehen wird (mir persönlich kommt der Ausdruck nicht so eng regional oder zeitlich gebunden vor), aber die Vokabel birgt zumindest das Risiko. Vielleicht hätte ich etwas anderes dafür finden sollen.
Vielleicht! Damit beginnt die lange Antwort. Ihre Frage verweist nämlich auf ein grundlegendes Problem. Ihre Freundin bemängelt, der Ausdruck „passe nicht nach Amerika“. Das ist wahr, aber das gilt auch sonst für die überwältigende Mehrzahl unserer deutschen Ausdrücke und Vokabeln. Sie sind eben der deutschen Geschichte und Kultur entsprungen, verweisen auf deutsche Erinnerungen, Seelenzustände und Assoziationsräume. Wie soll man die jemals zu einem amerikanischen Roman zusammenfügen?
Erste Möglichkeit: Man versucht sich an irgendwie „neutrale“ Ausdrücke zu halten. Meine sehr geschätzte Kollegin Esther Kinsky bezweifelt in ihrem Übersetzer-Essay „Fremdsprechen“ (2013 in Buchform erschienen) allerdings, dass selbst (oder gerade) die einfachsten Wörter des täglichen Lebens sich restlos befriedigend übersetzen lassen: Das deutsche Wort „Brot“ zum Beispiel weckt bei uns Kindheitserinnerungen an herbsüße Düfte, die einmal durchs ganze Haus gezogen sind, und lässt uns an Assoziationen wie Brotkanten, Butterbrot, hartes Brot, Abendbrot usw. denken. Das amerikanische „bread“ dagegen – na ja, vielleicht kennen Sie es ja. In dem Sinne „passt“ nicht einmal das Wort „Brot“ in einen amerikanischen Roman. (Das ist allerdings nicht der Grund, warum „Frybread“ bei mir „Frybread“ geblieben ist; das ist wieder eine andere Geschichte.)
Aber darum soll es hier nicht gehen, so wichtig der Gedanke auch ist. Man könnte sich ja zumindest außerhalb des Grundwortschatzes an Ausdrücke zu halten versuchen, die nicht allzu spezifisch an deutsche kulturelle Hintergründe denken lassen. Das wird aber schon da wieder schwierig, wo viel geflucht wird. Beim kurzen Überfliegen finde ich in meiner Übersetzung schon „Schiss haben“, „Scheiß drauf“, „so ein Scheiß“ und viele andere Schimpfwörter, die ganz und gar nicht nach Amerika passen – mit Ausnahme von „shit“ fluchen die Amerikaner nämlich eher genital (fucking, fuck you, go fuck yourself, you prick, you cunt etc.) und nicht anal, wie wir Deutschen es vorwiegend tun. Kundige Sprachbeobachter könnten also auch dieses Schimpfverhalten beanstanden.
Das bringt mich zur zweiten Option: Man könnte versuchen, das Vokabular der Übersetzung so amerikanisch wie nur möglich zu wählen. Dazu gibt es inzwischen weit vielfältigere Möglichkeiten als noch vor ein paar Jahrzehnten; unzählige Übersetzungen und Filmsynchronisationen (vor allem die!) haben das deutsche Publikum an viele Ausdrücke und Wendungen gewöhnt, die entweder direkt aus dem Englischen übernommen wurden (Beispiele aus meiner Übersetzung: Mom, Dad, hey, hi, cool, Shit) oder sich ganz eng daran anlehnen und im Deutschen ungewöhnlich, aber akzeptiert sind (Beispiele: „heilige Scheiße“ [holy shit], „Spar dir deine Scheißnieren lieber für mich auf“ [your damn kidney], „… steht da plötzlich im verdammten Supermarkt“ [in the fucking supermarket]).
Auch dabei ist allerdings Vorsicht geboten: Mancher hat auch schon Flüche wie „Fuck!“ oder „dieser verfickte …“ in seinen Sprachschatz aufgenommen (was hervorragend nach Amerika passt), aber das sind eher ganz junge Leute. In einem Roman, der in den achtziger Jahren spielt, sind diese Vokabeln hochriskant: Sie könnten Louise Erdrichs Provinzjungs für die deutschen Leserinnen und Leser meines deutschen Textes wie hippe, kosmopolitische Großstädter klingen lassen. „Kein schlechter Move“ und „Oh, Shit“ habe ich trotzdem verwendet, auch wenn sie in den späten Achtzigern vermutlich nicht gängig waren – ich gehe davon aus, dass der „nach Amerika passende“ Aspekt hier überwiegt, dass man sie also wie „Mom“ und „hey“ der Herkunft der Figuren zurechnet und sich nicht daran stört.
Solche Amerikanismen können aber nicht das allein tragende Element bei dem Wortschatz der Romanfiguren sein, schon deshalb nicht, weil ich das erreichen möchte, was Sie freundlicherweise geschrieben haben, dass eine der Text nämlich „berührt“ und man sich mit den Protagonisten identifizieren kann. Dazu dürfen die Figuren nicht klingen wie Klischee-Amis aus der Actionfilm-Synchronisation. Sie müssen uns vertraute, deftige, satte, assoziationsschwere Vokabeln benutzen dürfen. Deshalb fahren sie zur „Tanke“ und verstecken ihre „Klamotten“, sagen „Wahrscheinlich!“ (für „so ein Blödsinn“), „echt“, „eins A“, oder „zur Sau machen“.
Vielleicht kann man das als dritte Strategie dazunehmen: Trotz der damit verbundenen Risiken ein farbiges Vokabular voller Redewendungen und voller schichten- oder gruppenspezifischer Ausdrücke zu benutzen – und damit Ausdrücke aus spezifisch deutschen kulturellen Zusammenhängen. Die Rezensentin Anja Hirsch schrieb am 7.5. in der FAZ, ich hätte den Roman „aus dem Vollen schöpfend (und souverän) übersetzt“, und das strebe ich zumindest an: So wie Louise Erdrich im Englischen aus dem Vollen schöpft, damit ihren Leserinnen und Lesern authentische und lebendige Romanfiguren entgegentreten, will ich auch möglichst viele Ausdrucksmöglichkeiten und Sprachebenen und -nischen des Deutschen nutzen, um in der Übersetzung zumindest einen Teil der atmosphärischen Dichte, der menschlichen Nähe und der Spannung wieder zu erzeugen, die das Original so besonders machen. Sonst hätte ich doch etwas ganz Wesentliches nicht mit übersetzt!
Allerdings macht die Kombination der Strategien zwei und drei aus den Figuren seltsame Mischwesen: Provinzjungs aus den achtziger Jahren, die ihre Eltern (durch die deutsche Brille betrachtet) ganz weltläufig mit „Mom und „Dad“ anreden, oder indianische Amerikaner, die dauernd auf gut Deutsch „Scheiße“ sagen. Noch verrückter ist es mit den älteren Reservatsbewohnern: Neben ihren Original-Anishinabe-Ausrufen (Eyyy, Awee, Howah, Yai etc.) benutzen sie Worte, die wie „rumturnen“, „Wampe“ und „patschen“ vage norddeutsch klingen, damit man sie auch als vertraute gemütliche Alte wahrnehmen kann. Und dazu kommen ein paar altertümelnde Vokabeln (wie Stecken, Zapfen und Flöte als Bezeichnungen für den Penis), die sicher nichts Amerikanisches an sich haben, die Figuren aber besonders deutlich in eine etwas exotische Ferne rücken.
Dass dieses Durcheinander überhaupt jemals als rundes Ganzes wahrgenommen werden kann, ist ein geradezu magischer Aspekt des Übersetzens, finde ich. Nicht zuletzt ist es eine Leistung der Leserinnen und Leser, die all diese Widersprüche beim Lesen in der Schwebe halten, bis sie sich in ihrem Kopf zu einem neuen, interkulturellen Roman zusammenfügen. Dabei sollte man ihnen natürlich keine Hindernisse in den Weg legen, und der Ausdruck „auf jeden“ kann durchaus so ein Hindernis sein. Er sollte Farbe und Lebendigkeit in die Szene bringen, und das finde ich sehr wichtig. Aber wenn ich auf die Idee gekommen wäre, dass er für manche spezifisch mit der Berliner Nullerjugend verknüpft ist, hätte ich bestimmt eine Vokabel gewählt, die überregional und weniger zeitgebunden dasselbe leistet.
Ich hoffe, das beantwortet Ihre Frage in etwa, auch wenn kein spezifisches Argument für „auf jeden“ dabei herausgekommen ist, sondern ein allgemeines Plädoyer für (mittel-)riskante Vokabeln und verrückte Mischwesen. Und es freut mich zu hören, dass Übersetzungen so genau gelesen werden. Das ist ein schöner Ansporn, bei der Gratwanderung zwischen farbloser Neutralität und störenden Widersprüchen die Augen offen zu halten.
Mit herzlichen Grüßen
Gesine Schröder
Trippmadam Dienstag, 2. September 2014 um 20:38 Uhr [Link]
Entschuldigung, aber da zwingt sich mir die Erinnerung an etwas auf, das ich eigentlich vergessen wollte. Ein mir nicht persönlich bekannter, aber durch seine Arbeit vertrauter Übersetzer, den ich sonst als sehr kompetent empfinde, übersetzte „bullshit“ als „Bullenscheiße“. Zuerst wusste ich mit „Bullenscheiße“ gar nichts anzufangen, dann fiel der Groschen und ich kam endlich auf „bullshit“. „Bullenscheiße“ klingt ja irgendwie sehr kreativ, aber ich wage zu behaupten, dass „bullshit“ in der Ausgangssprache eher ein Normalo-Fluch und gar nicht kreativ ist (korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre). Warum der Übersetzer sich für „Bullenscheiße“ entschieden hat, erschloss sich mir leider aus dem Text nicht. Vielleicht wollte er die Übersetzung amerikanischer klingen lassen, wer weiß das schon.
Isabel Bogdan Donnerstag, 4. September 2014 um 08:25 Uhr [Link]
Bullenscheiße ist in der Tat … ähm, gewagt.
Aber manchmal passieren ja so Dinge. Da sagen plötzlich alle „verfickt“ oder „nicht wirklich“ – das ist am Anfang ein Scherz, aber dann setzt er sich fest, und irgendwann weiß niemand mehr, dass das mal ein Scherz war, und auf einmal ist es etabliert. Könnte ja immerhin sein, dass das in der Filterblase des Übersetzers mit „Bullenscheiße“ passiert ist. Fantasiere ich jetzt so herbei.
Na gut. Man sollte auch ein bisschen gucken, was außerhalb der eigenen Blase passiert. Aber ich bin vorsichtig damit geworden, über einzelne Wörter zu urteilen. Womöglich gibt es irgendeinen gut durchdachten Grund – oder es ist ihm so rausgerutscht, auch das kann passieren.
Curima Donnerstag, 4. September 2014 um 11:36 Uhr [Link]
Könnte man „Bullshit“ nicht inzwischen einfach mit… „Bullshit“ übersetzen? Zumindest in meiner kleinen Welt ist das Teil meines ganz normalen Sprachgebrauchs.
Ansonsten ein sehr interessanter Artikel, ich find es total spannend, solche Einblicke in die Übersetzertätigkeit zu bekommen. :)
Isabel Bogdan Donnerstag, 4. September 2014 um 11:42 Uhr [Link]
Ja, ich denke auch, das könnte man – wenn es ein sehr moderner Roman mit heutiger Sprache ist. Wenn es in den fünfziger Jahren spielt, würde ich es nicht tun, denn damals hat man es hier noch nicht gesagt.
Ansonsten möchte ich hier noch ganz zwanglos „Bockmist“ in die Runde werfen.
Curima Donnerstag, 4. September 2014 um 14:38 Uhr [Link]
Oh, „Bockmist“ ist auch sehr fein. Und stimmt, in den fünfziger Jahren wäre der Bullshit wohl doch zu modern. Hach, woran man da alles denken muss, das ist irgendwie gleichzeitig sehr toll und ein bisschen beängstigend.
Mathilde Samstag, 6. September 2014 um 15:12 Uhr [Link]
Hach, ist das kompliziert. Aber das ist es ja eigentlich immer, wenn es am Ende ganz leicht und selbstverständlich wirken soll.
Feathers McGraw Montag, 8. September 2014 um 12:49 Uhr [Link]
Ach manchmal urteile ich doch noch ganz gerne bei Übersetzungen. Meine Lieblings-Schlimmen sind „A lady can always hold her liqour“ – „Eine Dame kann immer Ihren Likoer halten“ (Simpsons) sowie auf anderer Ebene die Harry Potter Uebersetzung die aus „orange“ im deutschen aus irgendwelchen Gruenden immer „orangerot“ macht. Aber sonst stimmts es ja, man hat oft nicht genug Hintergrund um so Dinge zu beurteilen und man liegt auch oft gefuehlt falsch – ich finde das mit „Berlin in den 2000ern“ von oben finde ich stimmt z.B. gar nicht.
Isabel Bogdan Montag, 8. September 2014 um 12:59 Uhr [Link]
Orange ist im adjektivischen Gebrauch manchmal schwierig. Ich schreibe ja relativ unerschrocken „Ein oranges Kleid“, aber es gibt genügend Allergiker dagegen. Bei „Ein rosa / rosanes / rosafarbenes Kleid“ wird es schon schwieriger. Mit „orangerot“ ist man fein raus.
Isabel Bogdan Montag, 8. September 2014 um 12:57 Uhr [Link]
Ja – woran man alles denken muss und diese ganzen Kompliziertheiten sind aber auch das, was am Übersetzen so einen Spaß macht. Sonst könnte es womöglich wirklich irgendwann eine Software machen.
Ich finde ja, man muss das Buch vorher lesen, damit man für all diese Dinge ein Gefühl bekommt. Wenn ich hier kleine Fragen stelle oder über Details erzähle, dann kommen ganz oft Antworten, die haarscharf daneben liegen, weil ich nie den kompletten Kontext mitliefern kann, und weil man vieles eben erspüren muss. Das geht nicht mit einem Satz, sondern nur mit dem großen Ganzen. Anders gesagt: Wir übersetzen keine Wörter oder Sätze, sondern Texte. Das muss man immer im Blick behalten.