Susann Pásztor: Ein fabelhafter Lügner
Jaaaa! Endlich mal wieder ein Buch, das mich so richtig begeistert. (Die Mumins sind natürlich auch super, laufen aber irgendwie außer Konkurrenz.) Jedenfalls:
Zum hundertsten Geburtstag ihres verstorbenen Vaters Joschi treffen sich die drei Halbgeschwister Marika, Hannah und Gabor. Marika und Hannah sind auch sonst in engem Kontakt, Gabor lebt weiter weg, und das nicht nur im wörtlichen Sinne. Bei den dreien ist außerdem Marikas Tochter, die sechzehnjährige Ich-Erzählerin. Zu viert fahren sie nach Buchenwald, wo Joschi inhaftiert war. Joschis erste Frau und die beiden ersten Kinder wurden in Auschwitz ermordet.
Den drei Frauen, von denen diese drei noch lebenden Kinder stammen, hat Joschi, wie sich herausstellt, ganz unterschiedliche Geschichten über seine Herkunft aufgetischt. Zu stimmen scheint nur, dass er Jude und in Buchenwald war. Ansonsten hat er frei drauflos erzählt, hat zwei Frauen quasi gleichzeitig geschwängert, hatte nach einem missglückten Selbstmordversuch drei Frauen an seinem Krankenbett stehen, hat gelogen und betrogen oder geschwiegen, hat irgendwie doch alle um den Finger gewickelt und schafft es am Ende, dass man ihn sogar als Leser irgendwie mag, trotz allem. Seine drei Kinder und seine Enkelin jedenfalls sind mit einem dermaßen umwerfenden trockenen Humor gesegnet, dass man ihnen sofort erlegen ist. Was dabei rauskommt: ein ganz wundervoll tragikomisches und warmherziges Buch; tatsächlich ein Buch mit Holocaust und Humor. Bemerkenswert. Ganz dicke Leseempfehlung, ich möchte eigentlich, dass Ihr das sofort alle kauft und lest und super findet und das weitersagt.
Susann Pásztor: Ein fabelhafter Lügner. 204 Seiten. Kiepenheuer und Witsch,
Gebundene Ausgabe, 17,95 €
Taschenbuch, 7,99 €
E-Book 7,99 €
Audio-CD, 12,99 €
(Die Links führen zum Webshop der Buchhandlung Osiander. Wenn Ihr das Buch dort bestellt, werde ich unermesslich reich.)
Stephan Sonntag, 21. Oktober 2012 um 17:33 Uhr [Link]
Wenn es um deutsche Autoren geht, halt ich es eher mit Herrn Buddenbohm als mit der geschätzten Gastgeberin: tot oder sehr gut abgehangen. Um mitreden zu können habe ich alle Jahre pflichtschuldig gelesen, was das Feuilleton empfiehlt, aber wirklich gerne gelesen habe ich nur bestimmte Genres: Alles, wo nicht die Form, sondern der Erzählgegenstand die Hauptrolle spielt. Historisch aufgehängte Romane (Ortheil, Timm, Seyfried), Krimis (Jan Seghers, Haas), Witzisches (Borowiak, Schulz), nur keine Literatur-Literatur mehr. Nun bin ich blutiger Laie, Schulungsgrad und Begrifflichkeiten sind bei mir auf Niveau Deutsch-Grundkurs stehengeblieben. Trotzdem war das letzte deutsche Buch, bei dem mich Perspektive, Erzähltstruktur oder Sprache ernsthaft überrascht haben, wahrscheinlich irgendetwas von Johnson. (Stimmt nicht: Es war Ingo Schulze).
Das ist vermutlich ganz normal, wenn man Glück hatte – in Gestalt einer bildungsbeflissenen Großmutter mit Zugriff auf eine tolle Buchhändlerin und einer Tante, die immer den neuesten heißen Scheiß kannte, verlieh und verschenkte. Dazu zwei lesende Eltern. Da kommen die ganz großen Augenöffner eben früher vorbei. Und machen einen unerträglich altklugen Teenager aus dir.
Gibt es Schlimmeres als altkluge Teenager? Auftritt Lily, 16 Jahre, Ich-Erzählerin des Buches. In ihrem Kopf ist es niemals still. Es wird nicht geschaut oder zugehört. Es wird geplappert, gemeint, kommentiert. Gerne genommen: die ganz große Geste, Satzanfänge mit denen Dostojewski einen Roman begonnen hätte: „Mein Großvater war ein Mann, dem seine Frauen und Kinder abhandenkamen …“ Das kann niemand durchhalten, einen Absatz später heißt es dann altersgemäß unbeholfen: „Ich muss sagen, allmählich wurde ich sehr neugierig auf meinen Onkel.“
Zehn (iPad-) Seiten lang nervt mich dieses Mischmasch aus vermeintlich tiefschürfenden Einsichten, Drolligkeiten und arg juveniler Sicht der Dinge furchtbar. Es wirkt wiedererzählt, Vorbereitetes, ein best of, um mich als Gegenüber zu beeindrucken. Irgendwann kommt dann ein Halbsatz, der mir gefällt, bezeichnenderweise wird darin gekichert. Und so geht es weiter, wir lernen die Familie kennen, jede Seite ärgere ich mich ein wenig, bis dann wieder eine überraschende Formulierung, ein überzeugender Gedanke kommt, dann ärgere ich mich wieder, bis … usw usf.
Allmählich merke auch ich, daß das Methode hat. So sind Teenager, sie überspielen Unsicherheiten, denken rasend schnell und kreativ. Sie sind, wenn sie sich drauf einlassen, beneidenswert unvoreingenommen. Sie wissen Vieles nur aus Erzählungen Erwachsener oder aus Büchern und sind dementsprechend begeistert von Sachen, die sie selbst zum ersten Mal machen. Ein Rauf und Runter, Hin und Her. Immer wenn die Erzählerin für mich durchsichtig wird und ich ihre Perspektive akzeptiert habe, hüpft sie wieder mit einem Stilbruch oder einem Gedankenschwenk vor die Optik und fotobombt den Leser. Wie ein Erdmännchen. Doch, gut gemacht.
Inzwischen habe ich mich natürlich in alle Familienmitglieder verliebt. Vorne weg die dralle Hannah, „rund und rot und ausladend“, Vaterjüdin und als solche mit dem Eifer einer Konvertitin ausgestattet. Inklusive Gelobtes-Land-Komplex und Dicken-Paranoia. Austherapiert und angriffslustig.
Die Mutter hat als Einziges der drei Geschwister halbwegs altersgerecht und behütet aufwachsen dürfen, ihre Trotz-(PUNK!)phase hinter sich gebracht und ist für Lily eine lebenskluge Autorität, deren Anstrengungen sie zwar zunehmend zu sehen und zu verstehen beginnt, die sie aber total bewundert und liebt. Und wir mit ihr.
Das Buch ist so schlau, daß seine Figuren alles selbst am besten erklären:
„Ich gebe zu, ich stehe gern im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.“
„Wir sind eine Familie von Geschichtenerzählern, ich sagte es bereits.“
„Ich bin im Märchenkinderland groß geworden, Gabor“, antwortete meine Mutter. „Und Hannah im Judenkinderland. Und du im Niemandsland.“
„Du kennst diese Geschichte nicht? Es ist eine der besten und dazu noch zu achtzig Prozent wahr.“
Vollends gewonnen bin ich als die Familie ins Lager Buchenwald fährt. Das mag auch damit zusammen hängen, daß ich neuerdings gerne den Soundtrack zum Buch höre, Spotify sei dank. Es ist zwar schon vorher vom iPod die Rede, aber erst auf dem Appellplatz des Lagers erfahren wir, was Lily hört: Musik von Arvo Pärt. Parallel von mir gestartet, ab da war alles gut und ich habe sogar zu Sätzen genickt, die so abgegriffen sind, das man sie eigentlich gar nicht mehr schreiben darf: „Ich setzte meine Kopfhörer auf. Die ersten Töne trafen mich mitten ins Herz.“ Da macht dann auch Portishead zwei Kapitel später nichts mehr kaputt.
Ein tolles Buch mit tollen Frauen, Onkel Gabor hält sich tapfer. Das Buch mag seine Charaktere und läßt sie einander nicht zerfleischen. Fremdschämen: Fehlanzeige. Es wird geredet wie gedruckt. Die 68er kriegen ordentlich einen mit. Dunkeldeutschland kommt unangenehm (Robbie, Peggy, Polizei), aber nicht bedrohlich rüber. What’s not to like?
Einige Fragen ans Lektorat hätte ich aber noch: Was soll der Prolog? Ist das ein Überbleibsel aus einer Fassung mit einer zweiten Zeitebene? Anekdoten sind nicht die Stärke der Autorin; auf Kaffemaschinenersatzteilpatent, Boxkampf und Nudelsuppentopf hätte ich gerne verzichtet. Und der -zugegeben selten gebrauchten- Holzhammermetaphorik („Das komische Kreuz war verschwunden. »Jetzt ist es ein Stern mit fünf Armen« — Alfred brennt, driftet nach rechts und alarmiert die Wachposten) ist kein comic relief gewachsen. Über den Schluß („In diesem Moment wurde mir klar, dass ich den Einstieg für mein Referat gefunden hatte.“) schweigt des Sängers Höflichkeit. Schlüsse sind schwer.
Ich habe mich beim Lesen von „Ein fabelhafter Lügner“ etwas geärgert und viel gefreut. Mir hat das Behutsame, Witzige und Warme an der Weise, wie jüdische Identität verhandelt wird, sehr gefallen. Das war überzeugend und neu für mich. Etwas Besseres kann ich über ein Buch kaum sagen.
Susann Pásztor: Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts Freitag, 15. März 2013 um 22:57 Uhr [Link]
[...] mir das Buch ausdrücklich gewünscht für die Werbung, weil ich Susann Pásztors ersten Roman Ein fabelhafter Lügner so gern mochte. Aber dann hatte ich ein bisschen Angst, dass es so ein typischer Frauenroman sein [...]