Katerina Poladjan: In einer Nacht, woanders
Der Roman beginnt so:
Der Flug hat drei Stunden Verspätung, ich rechne nicht mehr damit, noch zu fliegen. Ich solle kommen, schnell kommen. Sonst würde das Haus verkauft, stand in dem Brief, und das könne ja nicht sein, es sei doch meine Kindheit. Was wissen die über meine Kindheit, habe ich gedacht und nicht geantwortet. Es ist ein Haus. Es ist Holz, Stein und Glas. Weiter nichts, habe ich gedacht. Es ist der Garten mit den albernen Birken und ein Teich, in dem eins meiner Kaninchen ertrunken ist. Dann, einige Tage nach dem Brief, der Anruf von Pjotr. Pjotr, der mit dem Hängeauge. Kommst du? Ich hörte, wie seine Stimme zitterte, und sagte ja.
Die Grundgeschichte ist also erstmal nichts Neues: eine junge oder mittelalte Frau fährt ins Haus ihrer Kindheit zurück, um es zu verkaufen oder zu entrümpeln oder beides, erinnert sich dabei zurück und entdeckt außerdem womöglich noch ein Familiengeheimnis. Kennt man schon, aber das heißt natürlich gar nichts.
In diesem Fall lebt Mascha, Ende 30, schon seit sie 10 Jahre alt ist in Berlin, und fährt nun nach langer Zeit zum ersten Mal wieder nach Russland, nach Bykovo im Speckgürtel von Moskau, um das Haus ihrer verstorbenen Großmutter zu verkaufen. Und erinnert sich und kommt langsam hinter ein Familiengeheimnis. Wobei ich, ehrlich gesagt, nicht mal ganz sicher bin, ob ich das Ende wirklich richtig verstanden habe – denn zum einen habe ich das Buch so gern gelesen, dass ich es gestern Nacht noch auslesen musste, obwohl ich eigentlich schon zu müde und nicht mehr richtig aufnahmefähig war, und zum anderen ist der Stil etwas verwirrend (und deswegen umso toller): die wörtliche Rede hat keine Anführungszeichen, sodass man oft genug gar nicht weiß, ob gerade jemand etwas sagt oder ob Mascha sich etwas denkt, etwas Plausibles, was wahrscheinlich stimmt, oder ob sie sich etwas ausdenkt, ihre Phantasie mit ihr durchgeht, oder ob sie sich einbildet oder sich vorstellt, dass jemand jetzt etwas sagen würde. Das verwirrt im Einzelfall manchmal ein bisschen; meist klärt es sich, und vor allem ergibt es am Ende ein vollkommen stimmiges Bild. So funktioniert die Erinnerung und funktioniert das Schlüsseziehen ja: dass man manchmal selbst nicht mehr weiß, was einem jemand erzählt hat, was man sich selbst gedacht hat und was vielleicht gar nicht stimmt. Oder anders stimmt.
Das zweite Thema neben dem Aufarbeiten der verdrängten Familiengeschichte ist die Heimatlosigkeit von Einwanderern. Mascha ist als Kind in Berlin überhaupt nicht zu Hause, als erwachsene Frau irgendwie immer noch nicht so ganz. Und dann fährt sie nach Russland und ist dort erst recht nicht zu Hause.
Tolles, tolles Buch! Lesen!
Katerina Poladjan bekommt einen Regalplatz zwischen Edgar Allen Poe und John Preston.
Katerina Poladjan: In einer Nacht, woanders. Rowohlt, 176 Seiten. 16,95 €
E-Book: 14,99 €
Uschi aus Aachen Donnerstag, 16. Februar 2012 um 17:00 Uhr [Link]
Und dieses Cover ist ja auch zum Verlieben.
Isabel Bogdan Donnerstag, 16. Februar 2012 um 17:10 Uhr [Link]
Hihi, und ich habe noch überlegt, ob ich was über das blöde Cover sage. Und dachte dann, dass es ja schon irgendwie passt, kalt und dunkel halt, und de gustibus etc. q.e.d.