Michael Ondaatje (Melanie Walz): Katzentisch

Im Alter von elf Jahren reist Michael mit einem Schiff, der Oronsay, aus seiner Heimat Ceylon nach England, wo seine Mutter bereits seit ein paar Jahren lebt und ihn erwartet. Außer ihm sind noch zwei weitere alleinreisende Jungen seine Alters auf dem Schiff, Cassius und Ramadhin. Die drei sitzen, zusammen mit ein paar anderen Außenseitern, beim Essen am Katzentisch, weit entfernt vom Kapitänstisch und den Leuten aus der ersten Klasse, und erkunden das Schiff und ihre Mit-Passagiere.

    „Jedenfalls wollte es uns vorkommen, als könnte fast jeder an unserem Tisch – von dem schweigsamen Schneider Mr. Gunesekara, der in Kandy einen Laden besaß, bis zu dem unterhaltsamen Mr. Mazappa und bis zu Miss Lasqueti – einen spannenden Grund für seine Reise haben, selbst wenn er unausgesprochen oder bislang unentdeckt war. Dennoch blieb das Sozialprestige unseres Tischs auf der Oronsay weiterhin äußerst dürftig, während die Gäste am Tisch des Kapitäns ununterbrochen auf ihre Wichtigkeit anstießen. Das war eine kleine Lektion, die ich auf dieser Reise lernte. Was interessant und wichtig ist, ereignet sich in der Regel im Verborgenen, an machtfernen Orten. Nichts von bleibendem Wert ereignet sich je am Tisch der Mächtigen, wo altvertraute Phrasen Kontinuität garantieren. Diejenigen, die Macht besitzen, bleiben in der vertrauten Fahrrinne, die sie sich ausgebaggert haben.“ (S. 83)

Die drei Jungen haben noch keine vertrauten Fahrrinnen. Sie machen in den drei Wochen oder wielange die Reise dauert, das Schiff unsicher, untersuchen jeden Winkel, rauchen einen Rattanstuhl, spionieren Mitreisenden hinterher und entdecken auch Dinge, die sie nicht entdecken sollten. Den Mörder zum Beispiel, der irgendwo unten im Schiffsbauch in Ketten liegt und nur nachts mal für eine Runde an Decke geführt wird. Und so nach und nach entblättert sich dem Leser, wie prägend diese Reise für den kleinen Jungen und seinen weiteren Weg wird. Denn plötzlich erzählt der erwachsene Mann, Jahrzehnte später. Als Leser fragt man sich dann, ob das vielleicht alles autobiografisch ist (es ist, teilweise), und was ich besonders mag: dass am Ende nicht alles geklärt ist, nicht alle Stränge zusammengeführt, es gibt ein paar lose Enden. Wie im Leben.

Sehr schöner Roman, der langsam und unspektatkulär anfängt, wie die Schiffsreise, dann aber doch in immer stürmischere Gewässer kommt, um hier noch eine plumpe Seefahrtsmetapher loszuwerden. Die gibt’s im Buch zum Glück überhaupt nicht.

Michael Ondaatje (Melanie Walz): Katzentisch. Hanser, 19,90 €
E-Book 15,90 €

Was ich doof finde

Ich finde es doof, sich über Leute lustig zu machen. Okay, da gibt es Ausnahmen, aber in den allermeisten Fällen finde ich Lustigmachen doof. Vor allem dann, wenn es darum geht, dass jemand etwas nicht gut kann. Haha, guckt mal, der kann das nicht! Lustig. Und selbst? Kannst Du seiltanzen, Schweine schlachten, Teppiche knüpfen? Nein? Dann halt doch einfach die Klappe.
Ganz konkret geht es mir fürchterlich auf den Zwirn, dass sich alle Welt über die schlechte englische Aussprache von Zugbegleitern mokiert. Ein ganzes Buch heißt „Senk ju for träwelling“. Ich habe keine Ahnung, worum es da sonst noch geht, außer um das ach so schlechte Englisch der Zugbegleiter, und ich möchte es auch gar nicht wissen. Schon der Titel macht mich wütend. Und jetzt geht gerade ein Lied von den Wise Guys auf Facebook um, mit demselben Thema. Ich habe keine Lust, diese beiden Dinge zu verlinken, das Buch und den Song. Denn: Mannmannmann, wie unlustig ist das denn? Deutsche Zugbegleiter sprechen Englisch mit deutschen Akzent! Donnerwetter!
Man hat mich sogar schon direkt darauf angesprochen. Als Übersetzerin müsse ich doch in der Bahn jedes Mal das kalte Grausen kriegen, wenn diese Durchsagen kommen. Wie bitte? Ehrlich gesagt: ja, ich bekomme das kalte Grausen. Aber nicht, weil die Zugbegleiter so einen Akzent haben, sondern weil ich reflexartig denke: jetzt macht sich bestimmt wieder so ein Vollidiot darüber lustig.
Aber warum? Was daran ist so witzig oder verachtenswert? Wer in der Schule sehr gut in Sprachen ist, wird wohl meistens nicht Zugbegleiter. Ich kenne die Ausbildungsvoraussetzungen nicht, aber ich nehme an, die meisten haben kein Abitur. Sondern wahrscheinlich Realschulabschluss. Was erwartet Ihr denn? Dass studierte Philologen mit einem Prädikatsexamen in angewandter Phonetik Euch die Fahrkarten abknipsen? Vielleicht ist der Zugbegleiter ein ganz reizender Vater, vielleicht spielt die Zugbegleiterin super Eishockey, vielleicht strickt er Socken, vielleicht ist sie ein Kotzbrocken; es ist relativ wahrscheinlich, dass sie irgendwas können oder gerne machen, was ich nicht kann, und was Ihr Aufreger auch nicht könnt. Dafür ist meine englische Aussprache besser. Na und? Ich sag das gerne noch mal: NA UND?
Die Leute sind Zugbegleiter. Ich finde es wirklich und ohne jede Ironie irgendwie reizend, dass die Bahn sie dazu anhält, ihre Durchsagen auch auf Englisch zu machen. Das ist grundsätzlich erstmal gastfreundlich und nett. Die meisten Zugbegleiter wissen wahrscheinlich, dass sie keine Sprachgenies sind; vielleicht haben sie sich bei den ersten Malen fürchterlich geschämt, diese Durchsagen zu machen. Vielleicht macht es ihnen auch Spaß. Weiß man alles nicht. Was man weiß, ist: die Durchsagen werden von Leuten gemacht, deren Kernkompetenz nun mal nicht in Fremdsprachen liegt, und auch nicht liegen muss. Sich darüber lustig zu machen, bloß weil man selbst zufällig ein bisschen besser Englisch kann, ist total billig. Stefan-Raab-Niveau. Ich kann nichts Lustiges daran finden, dass Leute irgendetwas nicht sehr gut können und man sie deswegen verächtlich macht.

Flattr this

Neuigkeiten vom Buch

Hurrahurra! Der Erscheinungstermin meines Sachenmachenbuchs wurde vorgezogen – es erscheint jetzt schon am 2. Juli. Quasi passend zu meinem Geburtstag. Ich freu mich! Und wäre dann auch für Lesungen und anderen Quatsch zu buchen. Auf Wunsch kullere ich auch mit dem Rhönrad die große Showtreppe runter. Wobei, Moment.

Geständnis

Ich habe mich verliebt. In einen 85jährigen.

Gestern Abend war er in Hamburg und hat seine Autobiografie vorgestellt. Ein Mann, der quasi alle großen Gestalten des 20. Jahrhunderts kennengelernt hat. Der mit Marlon Brando, Tony Curtis und Walter Matthau zusammen die Schauspielschule von Erwin Piscator besucht hat; der mit Bobby Kennedy und mit Martin Luther King befreundet war und Sätze sagt wie: „Jemand wie Dr. King ist mir nicht mehr begegnet, bis ich Nelson Mandela kennenlernte“; der bei seinem ersten Auftritt als Sänger von Max Roach und Charlie Parker begleitet wurde; der Miriam Makeba und Nana Mouskouri und Bob Dylan in ihrer Anfangszeit unterstützt hat; der in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung sehr aktiv mitgearbeitet hat; und der außerdem wunderbare Musik macht und seit Jahrzehnten ein Weltstar ist.

So alte Männer neigen ja oft dazu, ein bisschen selbstgefällig zu werden und hauptsächlich zu erzählen, was für ein toller Hecht sie sind. Was bei diesem Herrn sogar gestimmt hätte. Er ist ein so dermaßen toller Hecht, dass das Publikum aufsteht, als er den Saal betritt. Das finde ich erstmal ein bisschen übertrieben, standing ovations, ohne dass er auch nur ein Wort gesagt hätte. Das liegt aber nur daran, dass ich eigentlich gar nichts über den Mann weiß, ich weiß nur, dass er tolle Musik macht. So tolle Musik, dass wir sogar eine ganze CD von ihm besitzen, eine „Best of“ oder „Greatest Hits“ oder so, und die hören wir auch ganz regelmäßig, nämlich ungefähr einmal im Jahr in einer Sommerlaune.
Der alte Mann bleibt auf dem Weg zu seinem Platz auf der Bühne stehen und sieht ins Publikum. Er geht mit einem Gehstock, aber unglaublich aufrecht, er sieht das Publikum an und lächelt; ich weiß immer noch nichts über ihn, aber ich sehe diesen aufrechten alten Mann da stehen und lächeln und denke: wow. Harry Belafonte. Drei Meter vor mir. Und dann stehe ich auch auf.

Harry Belafonte singt an diesem Abend nicht. Er singt überhaupt nicht mehr, und das ist ebenso schade wie verständlich, der Mann ist 85. Er ist hier, um seine Autobiografie vorzustellen. Und das tut er mit einem Charme und einer Ausstrahlung, dass zwei Stunden lang alle an seinen Lippen hängen, obwohl der Abend auf Englisch abläuft. Er spricht langsam und deutlich, man versteht ihn gut, und er ist außerdem sehr strukturiert und konzentriert – alles nicht selbstverständlich in dem Alter. Und ungeheuer beeindruckend.
Zwischendurch liest Christian Brückner zwei- oder dreimal ein Stück aus der deutschen Übersetzung. Und da passiert es – ich habe überlegt, ob ich das hier rauslasse und es in einen eigenen Eintrag packe, weil es so gar nicht zu meiner sonstigen Begeisterung für diesen Abend und diesen Mann passt. Aber es gehört ja doch irgendwie hierher. Jedenfalls liest Christian Brückner also, Harry Belafonte hört ganz gebannt zu, obwohl er kein Wort versteht, und fragt Brückner, als er fertig ist: Wow, wer hat das denn geschrieben? Klang toll. Und dann witzeln die drei – Brückner, Belafonte und Moderator Christoph Amend –, haha, ja, wer hat das denn wohl geschrieben, Herr Belafonte? Aber nicht einer der drei kommt auf die Idee, dann doch mal zu sagen, von wem es denn nun ist, denn der deutsche Text ist ja in der Tat nicht von Belafonte (sondern von Kristian Lutze, Silvia Morawetz und Werner Schmitz), und dass das jetzt genau der Moment wäre, in dem man die Urheber der deutschen Fassung nennt. Sie werden auch zu keinem anderen Zeitpunkt des Abends genannt, ebensowenig wie Belafontes Co-Autor. Das regt mich uff, Entschuldigung, Berufskrankheit. Aber ist doch wahr!

Aber dann zwinge ich mich dazu, mich wieder abzuregen. Denn ansonsten ist der Mann wirklich umwerfend. Man bekommt den Eindruck, dass Körperhaltung und geistige Haltung miteinander einhergehen, und dass Harry Belafonte einfach ein aufrechter Mensch ist. Ja, ich weiß, wie groß das klingt. Außerdem ist er auch noch klug und charmant und hat einen guten Humor, ach, und übrigens sieht er auch noch sensationell aus. Und dieses Lächeln! Und dann spricht er über Liebe und Moral, über Moral in der Politik und über Gerechtigkeit. Die großen Themen, und Themen, bei denen normalerweise gleich meine Kitschalarmglocken schrillen würden, aber nicht bei Harry Belafonte, denn alles, was er sagt, wirkt: aufrecht. Und aufrichtig. Und durchdacht, und als hätte er danach gelebt, 85 Jahre lang. Und außerdem sagt er kein Wort zuviel.
Hinzu kommen ein paar kleine Gesten. Als Harry Belafonte darauf hinweist, wie wunderbar er Christian Brückner findet. Oder als seine Frau vorgestellt wird, die in der ersten Reihe sitzt, und das Publikum ihr applaudiert, und er ihr mitapplaudiert. Oder dass er, als drei junge MusikerInnen ihm überraschend zwei Lieder singen, darauf besteht, dass sie zu ihm kommen, dass er aufsteht, um sich bei ihnen zu bedanken, und ein paar Sätze mit ihnen wechselt. Dass er zum Schlussapplaus ebenfalls aufsteht, um sich für den Applaus zu bedanken.
Das wirkt alles nicht wie falsche Bescheidenheit oder gespielte Demut oder sonst ein Theater, sondern wie echte Freundlichkeit und Dankbarkeit ohne Übertreibung. Bisher mochte ich nur die Musik ganz gerne, aber jetzt weiß ich um Harry Belafontes wirklich unermüdliches und eigentlich unfassbares Engagement für Gerechtigkeit und Bürgerrechte. Die Geschichten, die er erzählt, kommen aus einer ganz anderen Welt; Rassentrennung, die ganz reale Gefahr durch den Ku Klux Klan, mein Gott, das ist doch total irre. Es steht im Buch, und er sagt es: dass er zornig ist, und dass der Zorn auf die Ungerechtigkeiten der Welt sein Handeln angetrieben hat. Zu spüren ist von diesem Zorn allerdings nichts. Zu spüren sind Freundlichkeit und Güte und eine Art Grund-Vergnügtheit. Und ein funkelnd humorvoller, klarer Verstand. Ein ebenso berührender wie inspirierender Abend.

Nachhören kann man den Abend am Ostersonntag Abend um 20.00 Uhr im NDR-Radio.
Joachim Mischke vom Abendblatt hat Belafonte nachmittags schon interviewt. Meine Lieblingssätze aus dem Artikel:
„Die Jahrhundert-Persönlichkeit sagt genau so lange nichts, wie es braucht, um am liebsten von ihm adoptiert zu werden und Nachhilfeunterricht zum Thema Coolness zu erflehen“, und „einen jüngeren 85jährigen muss man sehr lange suchen.“
Ja. Und ja. Was für ein Mann.

Harry Belafonte, Michael Shnayerson (Kristian Lutze, Silvia Morawetz und Werner Schmitz): My Song. Die Autobiographie. Kiepenheuer und Witsch, 24,99 €
E-Book 21,99 €

Und im April kommt der Film Sing your Song in die Kinos. Will ich sehen!

Noch eine schöne Geschichte: Herr Paulsen hat ihn mal getroffen.

NACHTRAG: Benjamin Hüllenkremer war auch da und hat Fotos gemacht. Ich finde, auf den Bildern sieht man schon, was ich meine.

Twitter