„Alte Neustadt“ ist natürlich Quatsch. Aber auf der Suche nach der Neuen Altstadt bin ich erstmal eine Weile herumgeirrt, oder sagen wir: ich musste hier durch, um von der Metro aus zur Neuen Altstadt zu gelangen. Erst kam ich durch ein Viertel, von dem die Hälfte abgerissen ist, aber auch nur halb abgerissen, es sieht fast aus wie eingestürzt. Und dann die Trümmer liegengelassen, und die andere Hälfte der Häuser ist noch bewohnt. Sehr eigenartig, ich habe keine Ahnung, was da los ist und warum das ganze Viertel so aussieht, so zur Hälfte kaputt und zur Hälfte nicht.
Und dann gehe ich durch ganz enge, kleine Gassen, wo Leute leben, die wahrscheinlich nicht sehr reich sind. Am Anfang gibt es Klamottenläden, alle sehr vollgestopft und dunkel. Hier kommt wahrscheinlich ungefähr nie ein Tourist durch, ich werde angestarrt, bin offensichtlich fehl am Platz und mag nicht in einen der Läden reingehen. Jeder meiner Schritte wird beäugt. Weiter drin im Gewirr werden die Gassen noch enger, hier passen keine Autos mehr durch. Teilweise kann man in die Häuser reingucken. In allen ist es sehr dunkel, sie haben kaum Fenster, und ich bin nicht sicher, dass alle Fenster auch Scheiben haben. Ich glotze nicht zu offensichtlich in die Häuser und Wohnungen, aber ich glaube, die meisten bestehen aus einem Zimmer, das gerade mal etwas größer ist als ein Bett. Kochecke, vielleicht noch ein Regal und ein Fernseher, und die restlichen Dinge, die man so hat, stapeln sich in den Ecken. Die Gassen sind gefegt, und überall hängt Wäsche draußen.
Dieses improvisierte obere Stockwerk ist bewohnt. Ab Mittwoch sollen es nachts unter Null Grad werden. Aber vielleicht schläft da oben ja niemand.
„Du könntest“, sagt Sabrina, „nach Lao Men Dong fahren. Da bauen sie gerade eine neue Altstadt.“
Eine neue Altstadt klingt natürlich plausibel, also fahre ich da hin. Ein Teil der neuen Altstadt ist schon fertig, es wird aber weiter daran gebaut. Eine Art Freilichtmuseum, nur in unechter: Nagelneue Häuser, vom Stil her auf alt gemacht, in denen man aber nicht etwa traditionelles Handwerk vorgeführt und Kunsthandwerk verkauft bekäme, sondern es gibt Souvenirs, die vielleicht etwas weniger kitschig und dafür auch teurer sind als anderswo, und ein paar Cafés und Restaurants. Zwischen den Häusern ein kleiner Wasserlauf, über den aus Düsen auch noch Wasserdampf geblasen wird („Atmo zaubern“, nehme ich an) hier und da ein bisschen Kunst und picobello gefegte Straßen. Ins erste Haus am Platze kommt demnächst Starbucks.
Aber hübsch ist es! Doch, ehrlich. Tolle Holzfenster und alles. Und alles so schön rausgeputzt und adrett. Nur halt insgesamt ein klitzekleines Bisschen unecht.
Am 13. Dezember 1937 besetzten japanische Truppen die damalige chinesische Hauptstadt Nanking (heute schreibt man Nanjing) und richteten in den folgenden sechs Wochen ein ungeheuerliches Massaker an. Etwa 300.000 Zivilisten und Kriegsgefangene wurden ermordet, 20.000 Mädchen und Frauen systematisch vergewaltigt (und dann entweder ebenfalls ermordet, oder sie haben sich selbst das Leben genommen, weil sie es nicht aushielten), es wurde geplündert und gebrandschatzt und massakriert. Die Japaner haben hier auf unvorstellbare Weise gewütet.
Heute war ich im Museum, das sich diesem Massaker widmet, und bin immer noch ganz erschlagen. Die schieren Zahlen erschlagen einen. Und die Brutalität erschlägt einen. Was Menschen sich ausdenken, um andere Menschen zu quälen. Vollkommen unbegreiflich.
Und dann hauen einen natürlich die exemplarisch dargestellten Einzelschicksale um, die Berichte von Überlebenden. Unbegreiflich, alles. Was für ein Glück wir haben, in Friedenszeiten zu leben. Mich überkommt bei sowas immer der vielleicht naive Kindergedanke: Warum können die Leute sich nicht einfach in Ruhe lassen? Es kann doch so schwer nicht sein, einander verdammt noch mal einfach in Ruhe zu lassen?
Was einen leider auch ein bisschen erschlägt, sind die Textmassen und die Besuchermassen. Das Museum besteht hauptsächlich aus Bild- und Texttafeln. Ich persönlich finde ja, so ein Museum muss kein lückenloses Archiv sämtlichen vorhandenen Wissens zum Thema sein, ich glaube, weniger wäre vielleicht mehr. Kein Mensch kann das alles lesen und verarbeiten. Andererseits: Es sind auch unfassbar viele Leute dort. Vielleicht verteilen die sich besser, wenn es viel zu lesen gibt. Ich kann trotzdem nicht empfehlen, an einem Sonntag bei schlechtem Wetter hinzugehen, es ist einfach zu voll.
Mich beeindruckt eine Kunstinstallation, ein dunkler, spitz zulaufender Raum, in dem man eine Uhr ticken hört, jede Sekunde tickt es einmal. Alle zwölf Sekunden hört man das Geräusch eines Wassertropfens. Während der sechs Wochen des Massakers wurde im Schnitt alle zwölf Sekunden ein Mensch ermordet. Zu dem Wassertropfengeräusch leuchtet jeweils für wenige Sekunden an der Wand ein Bild eines Ermordeten auf, immer ein anderes. Alle zwölf Sekunden. Sechs Wochen lang.
Und was mich auch beeindruckt, sind die Helfer. Es gab damals eine Gruppe von Ausländern, Geschäftsleuten und Missionaren, die eine 4 qkm große Schutzzone für Zivilisten eingerichtet haben. Der Chef dieser Gruppe war John Rabe, der Leiter der Siemens-Niederlassung in Nanjing. Er hat nicht nur für die Einrichtung der Schutzzone gesorgt, sondern auch daneben, im Garten seines privaten Wohnhauses, eine riesige Hakenkreuzfahne aufgespannt, damit die Japaner dort keine Bomben abwarfen. Unter der Hakenkreuzfahne waren die chinesischen Flüchtlinge sicher. Was für eine Vorstellung. Man geht davon aus, dass John Rabe auf diese Weise über 200.000 Menschen das Leben gerettet hat. Man nennt ihn den „Oskar Schindler Asiens“ und den „deutschen lebenden Buddha“. Rabe kehrte noch während des Krieges nach Deutschland zurück und hielt dort Vorträge über die Kriegsverbrechen der japanischen Armee in China, bis ihn die Gestapo deswegen aus dem Verkehr zog. Bei der Entnazifizierung gab es zunächst Probleme, weil Rabe NSDAP-Mitglied gewesen war; er konnte dann aber glaubhaft machen, dass sie in China keine Ahnung hatten, was diese ganze NSDAP überhaupt bedeutete und was in Deutschland los war. Dennoch kam er nicht mehr richtig auf die Beine. John Rabe starb 1950 verarmt nach einem Schlaganfall in Berlin.
Das Haus von John Rabe liegt direkt bei mir gegenüber, ich sehe es aus meinem Fenster; dort war ich schon vor einigen Tagen.
Wow, schon wieder so ein voller, toller Tag. Erst Tempel und Pagoden besichtigt, wieder auf einem Berg, wieder super Aussicht auf den Smog. Eigentlich wollten wir eine Brücke über den Jangtse angucken, das haben wir dann doch nicht gemacht, eben deswegen, und außerdem kamen wir an einem Platz vorbei, wo mehrere Gruppen zumeist älterer Leute Diabolovorführungen gaben. Danach haben wir etwas gegessen und waren dann eigentlich schon zu kaputt, um noch in die Oper zu gehen. Aber dann haben wir uns doch noch aufgerafft, und: boah!
Ich hatte noch nie etwas von Kun-Oper gehört. Von Pekingoper schon; keine Ahnung, wo jetzt genau die Unterschiede liegen. Wir haben auch keine ganze Oper gesehen, sondern Ausschnitte aus zwei verschiedenen Stücken. Das erste war ein bisschen dramatisch und ziemlich lustig, was mit Liebe und den besten Freund austricksen und Quatsch. Das zweite war nur dramatisch, natürlich auch mit Liebe und sich wiederfinden und dann Verzweiflung und Streit, bis die Frau sich die Augen aussticht, um den Mann zur Besinnung zu bringen. Dra-ma! Ich sach euch! Die Art zu singen und zu sprechsingen ist ein bisschen gewöhnungsbedürftig, aber man hört sich sozusagen rein. Ansonsten gibt es tolle Kostüme, tolle Schminke und kein Bühnenbild (höchstens Tisch und Stühle). Und erfreulicherweise gab es auf Bildschirmen rechts und links der Bühne englische Untertitel. Hier Bilder vom ersten Stück.
Gestern haben wir mit den Studierenden einen Ausflug auf den Qixia-Berg gemacht. Der Berg ist berühmt für seine bunten Herbstblätter, angeblich wurde dafür sogar der Eintrittspreis verdoppelt. Und einen Tempel gibt es natürlich auch.
Die gelben Bäume sind Ginkgos, die immer paarweise stehen sollen, ein männlicher und ein weiblicher, dann gedeihen sie besser. Diese hier sind über hundert Jahre alt. Als wir auf den Platz treten, rauscht gerade ein Windchen durch den rechten Baum, es rieselt goldene Blätter, und alle freuen sich.
Keine Angst vor Kitsch! Ich habe keine Ahnung, wie echt das Gold der Statuen ist. Davor jedenfalls stehen leuchtende Plastiklotosblumen mit sich verändernden Farben. Rot, pink, lila, blau, grün, gelb, orange, rot. Wie echt die Orchideen sind, konnte ich nicht erkennen, ich tippe aber auch da auf Plastik. Jedenfalls gibt es hier in den Tempeln keinerlei Berührungsängste zwischen ganz alter handgearbeiteter religiöser Kunst und billigem, modernem Industrie-Plastikkitsch.
Hier wohnt wohl der oberste Mönch, da können wir aber nicht rein.
Wenn ich das richtig verstanden habe, ist der Gründer des Buddhismus, Shakyamuni, nach seinem Tod nicht zu Asche geworden, wie andere Leute, sondern zu kleinen Kügelchen. Eines dieser Kügelchen befindet sich in dieser Pagode aus dem 6. Jahrhundert. In dem verlinkten Wikipedia-Artikel finde ich diese Geschichte allerdings nicht bestätigt.
Diese Bilder (ab der Pagode) sind über den Bauzaun fotografiert. Schade; ich kann noch einigermaßen was sehen, aber die meisten Chinesen sind zu klein. Hier und da können wir auf Mäuerchen steigen, um über den Zaun zu schauen.
Den ganzen Hang hinauf sind diese Nischen mit Figuren drin in den Fels geschlagen. So etwas habe ich noch nie gesehen. Insgesamt sollen es tausend Figuren gewesen sein. Buddhas, Wächter, alles mögliche. Wir steigen hoch und hoch und immer weiter hoch.
Die Figuren, die noch da sind, haben keinen Kopf mehr. Alle während der Kulturrevolution abgeschlagen. Ein paar vereinzelte Buddhas haben später einen neuen Kopf bekommen. Diese ganzen kopflosen Statuen machen mich sprachlos, ich stehe davor und kann nur noch den meinen schütteln.
Wir verlassen die breiten Wege und werden zur Chinesisch-Deutschen Bergziegenbande. Großer Spaß, hier über die Felsen zu kraxeln. Und es geht verblüffenderweise immer noch weiter hinauf.
Was da in den Bäumen hängt, sind Fähnchen mit tibetischen Gebeten. Allerdings hängen sie da schon sehr lange und sehen nicht mehr unbedingt schön aus.
Von oben dann eine … ähm, wunderbare Aussicht auf den Smog Jangtse, auf die Stadt, auf ein Industriegebiet. Dieser Smog fasziniert mich wirklich, da meint man, es wäre sonnig, aber sobald man versucht, etwas weiter zu gucken, geht das einfach nicht.
Vom Berg aus fahren wir quasi direktemang ins Konzert. Die chinesischen Studierenden lernen hier ja deutsche Kultur, und es ist ein Streichquartett aus Salzburg zu Gast. Ehrlich gesagt, einige von uns haben nur so mittelviel Lust, dann finden wir es aber doch alle toll (Mozart, Mendelssohn-Bartholdy, Dvorak. Wird quasi immer besser). In der Pause gibt es noch ein bisschen Spektakel: in der zweiten Reihe sitzen zwei Frauen, die keine Eintrittskarte haben und sich auch weigern, nachträglich den Eintrittspreis zu zahlen. Anscheinend sagen sie so etwas wie: sie seien Lehrerinnen und hätten deswegen irgendeine Art von Vorrecht. Große Show mit öffentlichem Anschreien. Eine junger Mann versucht, die beiden Frauen zu fotografieren, sie halten sich ihre Handtaschen vors Gesicht. Eine junge Frau ruft in den Saal, ob man es nicht richtig fände, die Frauen zu fotografieren, „ja!“ rufen alle, und die Bilder dann ins Internet zu stellen, „ja“, rufen sie. Ich persönlich halte die Abschaffung des Prangers ja für eine begrüßenswerte Errungenschaft. Wie dem auch sei, nach langem Streit in unterschiedlichen Lautstärken zahlen die beiden Frauen schließlich doch noch.
Nach dem Konzert gehen wir noch mit ein paar Leuten Cocktails trinken, um halb zwölf bin ich zu Hause.
Es sind nur noch sechs Tage, nächsten Freitag fliege ich schon nach Hause. Wohin ist denn die Zeit so schnell gerast? Ich bin doch gerade erst angekommen, ich habe mich doch gerade erst eingewöhnt, ich fange doch gerade erst an, mich hier frei zu bewegen. Und ich will noch so viel sehen und machen!