Andreas Moster: Wir leben hier, seit wir geboren sind

„Wie großartig ist denn bitte Andreas Moster?“, fragt mein Freund Martin irgendwann im Frühjahr. „Keine Ahnung“, sage ich, „sagt mir nix.“ – „Wieso das denn nicht“, sagt Martin, „in der Klappe steht, er ist Übersetzer aus Hamburg, die kennst du doch alle. Außerdem habe ich ihn gegoogelt, und er wohnt gar nicht weit von dir. Und sein Roman ist sensationell.“
Wann immer wir uns in den folgenden Wochen sehen, fragt Martin, ob ich endlich Andreas Moster gelesen habe. Ich setze den Roman auf meine Wunschliste, da steht er erstmal gut, finde ich, die ganze Fensterbank ist voll mit „jetzt aber wirklich endlich lesen“-Büchern, ich muss nicht noch weitere kaufen. Und dann habe ich Geburtstag, und Martin schenkt mir den Roman, und zwei Tage später fahren wir in Urlaub und ich packe Andreas Moster ein.

Irgendwo las ich mal, es gebe eigentlich nur drei archetypische Kerngeschichten, die immer wieder in Variationen und Abwandlungen erzählt werden:
1. Boy meets girl
2. A stranger comes to town
3. Von einem, der auszieht

„Wir leben hier, seit wir geboren sind“ erzählt die zweite dieser prototypischen Geschichten. Ein Fremder kommt ins Dorf, und alles gerät aus den Fugen. Der Fremde kann gar nicht viel dafür, aber alles in diesem Dorf ist seit Ewigkeiten festgeschrieben, alles war schon immer so, wie es schon immer war, sodass ein Fremder allein durch seine Existenz alles auf den Kopf stellt. Noch dazu soll er die Rentabilität des Steinbruchs prüfen, der das Dorf ernährt. Und dann fängt er bei seiner Ankunft gleich mal damit an, dass er die Steine auf der Mauer am Dorfplatz umdreht. Langsam, einen nach dem anderen. Und die fünf Mädchen, die gerade im passenden Alter für den dörflichen Initiationsritus sind, beobachten ihn dabei. Den Mädchen ist irgendwie klar, dass sie aus dem Dorf wegmüssen; das ist aber nicht so einfach, wenn mehr oder weniger gewalttätige Väter über die Familien herrschen und immer alles so ist, wie es schon immer war. Und so nehmen die Dinge ihren Lauf: die Väter herrschen über die Familien, die wunderbar starken, trotzigen, mutigen Mädchen proben (im Kleinen, aber doch immerhin) den Aufstand, der Fremde versucht, seine Dinge zu erledigen, und das ganze Dorf versucht, sich gegen das Fremde und das Neue zu wehren. Und dagegen, dass das Alte verlorengeht. Denn der Steinbruch ist in Wahrheit am Ende.
Es wird nicht ganz klar, zu welcher Zeit und an welchem Ort der Roman spielt (oder ich habe die Hinweise verpasst, vor lauter Begeisterung). Wir sind jedenfalls in den Bergen, und Dinge wie Telefon oder Fernsehen werden nicht erwähnt. Könnte also vor 150 Jahren oder heute spielen, man weiß es nicht, es ist auch egal. Es gibt Rituale im Dorf, von denen man meint, es könnte sie heute nicht mehr geben, aber ich weiß nichts von Bergdörfern, vielleicht gibt es solche Rituale noch. Oder es gab sie vor 30, 40, 50 Jahren noch. Es ist egal, gleichzeitig würde ich den Autor wahnsinnig gern darüber ausfragen.
Denn Martin hatte natürlich recht: Wahnsinnig gutes Buch. Ich kann es gar nicht richtig in Worte fassen, die Sprache ist gleichzeitig ebenso reduziert wie das Dorfleben, kommt vordergründig unspektakulär und schlicht daher, erwischt einen aber in ihren Bildern immer wieder mit voller Wucht. Wie der Vater Nacht für Nacht die Mutter in zwei Hälften spaltet und sie sich morgens wieder zusammensetzen muss. Oder wie der uralte Berg einmal tief Luft holt und sich auf die Taten der Menschen vorbereitet. Oder als der Vater einmal nicht da ist und Mutter und Tochter gar nicht recht etwas mit der Situation anzufangen wissen:

Wir aßen schweigend, das Essen schmeckte wie immer, ohne dass wir es merkten. Auf dem leeren Stuhl des Vaters saß die Ordnung der Welt und sah uns beim Essen zu. Wir konnten nicht hinsehen.

Auf dem leeren Stuhl des Vaters saß die Ordnung der Welt. Puh. Die Ordnung der Welt gerät mit der Ankunft des Fremden aus den Fugen, und wenn man gerade meint, das absehbare Unglück wäre dann jetzt passiert, kommt es noch schlimmer. Und dennoch ist das nicht nur ein hartes Buch, sondern eben auch eins über eine Gruppe starker Mädchen, von deren Mut und deren Stolz man sich eine Scheibe abschneiden möchte. Wer Robert Seethaler mag, wird Andreas Moster lieben. Und ich werde nie verstehen, warum so ein unfassbar großartiger Roman so untergeht, oder vielleicht habe ich es auch nur verpasst, aber ich habe nicht bemerkt, dass er besonders besprochen worden wäre. Dabei ist das wirklich große Literatur, hätte gut ein Anwärter auf den deutschen Buchpreis oder andere große Preise sein können. Bitte, kauft den Roman, lest ihn, verschenkt ihn, macht den Autor reich und berühmt, besprecht ihn in euren Blogs, und wenn ihr Buchhändler seid, legt es auf den Tisch mit den besonderen Empfehlungen. So ein wahnsinnig guter Roman!

Andreas Moster: Wir leben hier, seit wir geboren sind. Eichborn, 175 Seiten, 18,00 €.
(Link zur Buchhandlung Cohen und Dobernigg. Keine Werbekooperation, nur ein Vorschlag. Gibts auch in jeder anderen Buchhandlung.)

11 Kommentare

  1. martin Freitag, 13. Juli 2018 um 16:09 Uhr [Link]

    sag ich doch…

  2. Bogdan Isabel Freitag, 13. Juli 2018 um 16:29 Uhr [Link]

    Du kluger Mensch!

  3. martin Freitag, 13. Juli 2018 um 16:32 Uhr [Link]

    papperlapapp

  4. LiFe Samstag, 14. Juli 2018 um 15:40 Uhr [Link]

    Mache ich!

  5. twschneider Montag, 24. September 2018 um 09:27 Uhr [Link]

    Dann werde ich das mal tun.

  6. KleinesF Mittwoch, 17. Oktober 2018 um 19:59 Uhr [Link]

    Eichborn, das ist eine Idee. Gibts die noch!

  7. Was das Ding ist | Buddenbohm & Söhne Mittwoch, 6. Februar 2019 um 01:00 Uhr [Link]

    Sven kuschelt mit Franzbrötchen. Nanu!***Simone über Straßenmusik und die Folgen. Und ein Ja zur Frage im letzten Satz. Was sonst.***Als die Hölle aufging***In der U-Bahn sitzt mir ein türkischsprachiges Mädchen gegenüber, Teenager-Alter. Die benutzt eine fürchterliche Phrase, die heute allgemein üblich ist, sie beginnt ihre Sätze dauernd mit “Das Ding ist …”. Allerdings kommen danach bei ihr türkische Satzfortsetzungen, wodurch man als ohnehin unfreiwilliger Zuhörer ohne Türkischkenntnisse nie erfährt, was denn nun das Ding ist und man fragt dann ja nicht nach, nein, das tut man nicht. Sie spricht überhaupt nur Türkisch, wenn man von dem häufigen unvermittelt eingeschobenen “Das Ding ist …” mal absieht. Das Ding ist nämlich, dass sich “Das Ding ist” in ihr Türkisch geschlichen hat, wie das Okay oder das Ciao z.B. ins Deutsche. Und das ist doch tatsächlich ein Ding. Es sei denn, aber das kommt mir eher unwahrscheinlich vor, Dasdingis wäre ein türkisches Wort. Kann das sein? Nein, es klingt nicht so. Dasdingis klingt, wenn es denn überhaupt ein einziges Wort sein soll, am ehesten wie ein mongolischer Vorname, Dschingis und Dasdingis, das könnte hinkommen. “Dasdingis, bringst du mir bitte noch Milch und Katzenfutter mit?” Na, ich weiß ja nicht. ***Ich war auf einer Lesung von Andreas Moster, er las aus “Wir leben hier, seit wir geboren sind”. Isa hat einmal darüber geschrieben und ja, das ist richtig gut, das wollen Sie also auch lesen. ***Zum phänologischen Kalender: Freundliche drei Grad am Morgen, der Himmel zeigt ein Streifenmuster in attraktivem Graublaurosamix, vor dem Hotel nebenan steht ein rauchender Tourist in kurzen Hosen und offenem Übergangsjäckchen. Es wird. ***Musik! Sophie Hunger.***Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.************************Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhanden Hut werfen, vielen Dank!************************

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