Wer zu Hause arbeitet, kann jeden Morgen ausschlafen. Und überhaupt den ganzen Tag tun und lassen, was er will. Strenggenommen arbeitet so ein Freiberufler eigentlich gar nicht. ISABEL BOGDAN führt ein Lotterleben.
Natürlich schlafe ich aus. Ich schlafe sogar so fest, dass ich es gar nicht höre, wenn der Wecker des Gatten klingelt, ich höre es nicht, wenn er aufsteht, sich anzieht und so weiter, ich schlafe. Ich wache erst dann auf, wenn er mich weckt, um sich zu verabschieden, weil er nämlich pünktlich um halb acht losmuss, einer geregelten Arbeit nachgehen. Dann sage ich Tschüss, drehe mich um und schlafe weiter.
Bis ich von allein wieder aufwache. Ich schlurfe in die Küche, hole mir einen Becher Kaffee, den der Mann zwei Stunden vorher freundlicherweise in die Thermoskanne gefüllt hat, und setze mich damit an den Rechner. Lese die ersten Mails, lese ein paar Blogs, gucke nach, was bei Facebook so los ist, beantworte ein paar Mails, fange dann aber bestimmt gleich an zu arbeiten, aber erstmal hole ich mir noch einen Kaffee. Es gibt weitere Blogs zu lesen, Perlentaucher, bei Facebook hat auch schon wieder jemand was gepostet, ich schiebe ein paar Zettel auf dem Schreibtisch hin und her, und übrigens ist es irgendwie plötzlich schon zwölf, ich könnte mir mal Frühstück machen. Überhaupt wäre es auch nett, nicht mehr im Schlafanzug zu sein, wenn der Mann nach Hause kommt, und so bin ich am frühen Nachmittag immerhin geduscht und angezogen, und die To-Do-Liste ist auf dem neusten Stand. Naja, und so weiter.
Es ist hauptsächlich eine Frage des Drucks. Wenn ich mit einem neuen Buch anfange, mache ich erstmal gar nichts. Irgendwann lege ich langsam los, werde im Laufe der Zeit immer schneller – nicht, weil ich besser „drin“ wäre, sondern weil der Druck steigt – und kurz vor dem Abgabetermin kette ich mich am Schreibtisch fest und mache nichts anderes mehr. Gesund ist das nicht. Erst hat man dauernd ein schlechtes Gewissen, weil man immer noch nicht angefangen hat oder immer noch nicht weitergekommen ist, und dann legt man los und macht sich den Rücken kaputt.
Natürlich mache ich mir, bevor ich anfange, einen Plan. Daran halte ich mich aber schon am ersten Tag nicht, und am zweiten nicht, und nicht am dritten. Zwei Wochen später mache ich einen neuen Plan, an den ich mich … genau.
Die klugen Ratschläge kenne ich auch. „Zur Arbeit gehen“ soll man – das heißt, man steht auf, zieht sich an und geht eine Runde um den Block, um symbolisch zur Arbeit zu gehen, und dann setzt man sich hin und arbeitet. Und wäscht nicht zwischendurch Wäsche. Klingt vernünftig, habe ich trotzdem noch kein einziges Mal gemacht. Bei mir hat es nicht mal funktioniert, als ich tatsächlich eine Zeitlang einen Büroplatz gemietet hatte. Im Büro hatte ich ja auch Internet. „Internet ausmachen“ ist natürlich ein guter Ratschlag, ich habe sogar ein kleines Programm, das mich für eine von mir selbst festgelegte Zeitspanne nicht ins Netz lässt. Hilft manchmal. Allerdings muss ich natürlich dauernd recherchieren, ohne Internet kann ich praktisch gar nicht arbeiten. Ehrlich! Es nutzt auch nichts, von Twitter loszukommen, weil man dann bei Facebook herumlungert. Es nutzt nichts, die Kartenspiele auf dem Computer zu löschen, weil man dann halt bunte Kügelchen abschießt. Wer ein Aufschieber ist, wird immer etwas finden.
All die schönen Vorteile des Freiberuflertums sind gleichzeitig die Nachteile. Sich immer wieder selbst zu motivieren, sich zusammenzureißen, zu arbeiten, obwohl man noch schnell die Fenster putzen könnte oder noch ein Stündchen schlafen, das Dokument auf- und das Internet zuzumachen, obwohl einem kein Chef über die Schulter guckt, all das ist verdammt harte Arbeit. Und das ist mein Ernst. Angestellte verstehen das oft nicht, aber die meisten Freiberufler können ein Lied davon singen.
Der fatalste Fehler allerdings ist, es zuzugeben. Denn offenbar ist es sowieso schon schwer zu begreifen, dass Zuhausearbeiten auch Arbeiten ist. Die protestantische Ethik sitzt tief, scheint’s, und wer nicht um acht irgendwo sein muss, um einem Chef zu dienen, der arbeitet nicht. Da muss man sich dann schon mal Sätze anhören, die mit „solange du Hausfrau bist“ anfangen. Oder solche, in denen die Formulierung „ein bisschen was dazuverdienen“ vorkommt. Und wenn man sagt, man hätte keine Zeit, man müsse arbeiten, kommt bestenfalls ein „Wieso, hast du wieder geschlampt?“
Liebes Umfeld, „zu Hause arbeiten“ ist nicht „nicht arbeiten“. Und „sich die Zeit frei einteilen können“ ist nicht „immer Zeit haben“. Das ist ein Missverständnis, und es nervt. Und man selbst nervt sich auch, also ich mich jedenfalls, wenn ich erst nicht zu Potte komme und dann wieder die Nächte kurz werden und ich Einladungen absagen muss. Solche Sprüche wie oben fehlen einem dann gerade noch.
„Weißt du was, du musst eine Diät machen. Brigittediät!“, sagt eine Kollegin. Ich gucke an mir runter und verstehe nicht, was sie meint, da sagt sie: „Nein, nein, nicht wegen deiner Figur. Aber wenn man eine Diät macht, hat man fünfmal am Tag einen Termin. Das gibt dem Tag Struktur. Ich mache immer Brigittediät, wenn ich wieder anfange zu verlottern. Dann schafft man vormittags schon was weg, weil man weiß, dass man um zwölf anfangen muss zu kochen. Und nachmittags genauso.“
Klingt schlau, einerseits. Andererseits ist das natürlich so ähnlich wie mit den Plänen. Pläne funktionieren aber nur bei Leuten, bei denen Pläne funktionieren. Einmal jaulte ich und fragte, ob ich nicht endlich erwachsen werden und meine Zeitplanung in den Griff kriegen könnte. Da sagte eine Kollegin, Erwachsenwerden habe doch nichts damit zu tun, dass man seine Zeitplanung im Griff hat, sondern damit, dass man endlich akzeptiert, dass man eben so arbeitet. Im ersten Moment fand ich das lustig. Dann fand ich, sie hat recht, und seitdem bemühe ich mich zu akzeptieren, dass ich eben so arbeite.
Das System funktioniert ja auch. Dass mir hier keine Missverständnisse aufkommen: ich habe noch immer pünktlich abgegeben. Wenn ich einen Termin habe, funktioniere ich. Ohne Termin keine Chance. Ich brauche die Last Minute Panic.
Aber manchmal denke ich dann doch, ich sollte es weiterhin versuchen, das mit dem strukturierteren Arbeiten. Für das vorletzte Buch hatte ich natürlich auch einen Termin, und zwar einen so knappen, dass ich mir einen Plan gemacht habe. Als er fertig war, habe ich nach Luft geschnappt, denn der war ganz schön ehrgeizig. Und dann habe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben an den Plan gehalten, von Anfang an, bis fast zum Ende. Weil ich musste, weil der Druck hoch genug war, oder keine Ahnung warum. Mehrfach hatte ich das Tagespensum bereits abends um acht oder neun geschafft, dann hatte ich Feierabend. Feierabend! Großartiges Konzept, es fühlt sich super an, das Tagwerk getan und dann frei zu haben. Vollkommen neues Lebensgefühl. Kurz vor Schluss, wirklich nur zwei oder drei Arbeitstage vor Abgabe, kam ein neuer Auftrag, sehr eilig. Den Roman, sagte die Lektorin, könne ich dafür erstmal beiseiteschieben, der hätte „alle Zeit der Welt“, der Erscheinungstermin sei nämlich auf nächstes Frühjahr verschoben.
Der Eilauftrag ist längst erledigt (pünktlich). Danach hatte ich kurz Pause, dann kamen die Korrekturen, die sind auch erledigt. Zwischendurch Kleinigkeiten, nicht wirklich viel zu tun. Der Roman liegt da immer noch. Seit Wochen. Ich bräuchte noch zwei oder drei Tage. Es ist schönes Wetter, ich gehe ein Eis essen, der Roman hat ja alle Zeit der Welt.
„Der XYZ-Verlag bringt den Roman ABC nun auf Deutsch heraus.“ – „Jetzt in neuer Übersetzung.“ – „Den deutschen Text liest B. Kannter-Schauspieler.“ – „Endlich auf Deutsch erschienen.“
Immer diese Erscheinungen! Ja, ist die Übersetzung denn vom Himmel gefallen? Uns ist eine Übersetzung erschienen, Halleluja? Nein, verdammt noch mal! Ist sie nicht! Da hat jemand monatelang dran gearbeitet, Ihr Pfeifen! Entschuldigung, aber ist doch wahr. Da hat jemand gerungen und gehadert, geackert, gegrübelt, recherchiert, sich am Schreibtisch festgekettet, mit Autor und Lektor konferiert und zum Schluss nur noch von Kaffee und Zigaretten gelebt, damit das deutsche Publikum ein Buch lesen kann, und was ist? Erst bekommt er ein reichlich knappes Honorar, und dann: „Endlich auf Deutsch erschienen.“ „Jetzt in neuer Übersetzung.“ „Vorgelesen von.“ Als wäre er gar nicht da. Schönen Dank auch.
Jawohl, das ist ein Rundumvorwurf. Pauschal an, ach, alle. Mir doch egal, ob das unfair ist. Unfair-popunfair. Fair wäre, wenigstens den Namen des Übersetzers zu nennen. „Wissen Sie“, sagte mir mal ein Kritiker, „das Übersetzen interessiert die Leute eben nicht so.“ Das ist zwar irgendwie wahr, aber gleichzeitig auch überhaupt nicht wahr. Tatsächlich interessiert es die Leute nicht so sehr, weil sie noch nie drauf gekommen sind. Sobald sie auch nur anfangen, über das Thema nachzudenken, sobald sie sich mit Übersetzern unterhalten oder Übersetzerlesungen besuchen, sind sie nämlich ruckzuck interessiert. Weil sie plötzlich merken, dass das eine kreative Arbeit ist, und dass es nicht nur darum geht, Inches in Zentimeter umzurechnen. Dass das nicht demnächst eine Software machen kann. Den meisten Leuten geht sofort etwas auf, wenn man nur das kleine, nicht besonders anspruchsvolle Beispiel bringt, dass man als Übersetzer aus dem Englischen entscheiden muss, welche Figuren sich duzen und welche sich siezen. Und dass man dann möglicherweise einen eleganten und unauffälligen Übergang vom Sie zum Du in den Text kriegen muss, ohne wirklich einzugreifen und „nennen Sie mich doch Karl-Heinz“ reinzuschreiben. Schon da sieht man den Leuten an, dass ihr Gehirn anfängt zu rattern, und dass sie eine Ahnung kriegen, was Übersetzen bedeutet. Und dann haben sie plötzlich lauter Fragen.
Es interessiert die Leser also durchaus. Man muss das Interesse nur wecken. Solange es aber Kritiker regelmäßig schaffen, in epischer Breite die „wunderbare Sprache“ eines Autors zu loben, wenn sie doch in Wahrheit die Sprache eines Übersetzers gelesen haben, solange werden auch Leser nicht wahrnehmen, was sie da eigentlich lesen.
Es geht ja gar nicht darum, dass jede Literaturkritik auch eine Übersetzungskritik sein müsste. Muss sie ja gar nicht. Aber! Man kann doch von einem Kritiker bitte erwarten, dass er, sobald er ein Wort über die Sprache eines Buches verliert, sich bewusst ist (und dem Leser bewusst macht), dass die Sprache nicht die des Autors ist. Sondern die des Übersetzers. Das kann doch so schwer nicht sein!
Ach so, Entschuldigung, ist es ja auch nicht. Wenn der Übersetzer nämlich ungeschickt war, oder gar, Gott behüte, einen Fehler gemacht hat, dann, DANN! wissen Rezensenten meist sehr genau, wer „schuld“ ist. Seht einmal, da steht er! Pfui, der Überseh-tzer! An den Pranger!
Aber wenn der Übersetzer gut gearbeitet hat, wird der Autor gelobt. „Ja, klar“, erklärt man mir tröstend, „das liegt daran, dass ein Übersetzer eben dann gute Arbeit geleistet hat, wenn man sie nicht bemerkt.“
Hallo? Warum das denn! Das ist doch Quark! Und Käse ist es auch! Aber nicht Wurst! Ob man den Übersetzer „bemerkt“, hängt mit der eigenen Aufmerksamkeit und der Sensibilität für das, was man da liest, zusammen. Nicht damit, wie gut der Übersetzer seine Arbeit gemacht hat. Himmel, man würde doch auch nicht behaupten, ein Autor habe seine Arbeit gut gemacht, wenn man ihn nicht bemerkt. Oder ein Schauspieler. Was für ein Unsinn!
Wenn die Sprache eines Buchs gelungen ist, dann hat der Übersetzer seine Arbeit gut gemacht. Nicht, wenn er unsichtbar ist.
Und die Literaturkritik ist ja nur das eine. Es geht weiter in den Presseabteilungen der Verlage. Und bei den Literaturveranstaltern. Man könnte doch beispielsweise den Übersetzernamen als Marketinginstrument einsetzen. (Wird ja auch gemacht. Bei einem einzigen Kollegen.) Es müsste vorne auf den Büchern draufstehen: Übersetzt von Isabel Bogdan. (Drei-vier Verlage tun das.) Und warum werden Übersetzer eigentlich nicht gefragt, ob sie das Hörbuch lesen wollen? Warum werden sie so selten zu Lesungen gebeten? Jaja, schon klar: weil noch der unbekannteste Schauspieler ein paar Leute zieht, die nur seinetwegen kommen. Angeblich. Was natürlich wieder daran liegt, dass niemand die Übersetzer kennt. Teufelskreis. Neulich sagte mir tatsächlich ein Buchhändler, man wisse ja nicht, ob der Übersetzer gut vorlesen kann. Als wüsste man das bei Autoren! Als wären Schauspieler zwangsläufig gute Vorleser! Als würde man es bei Übersetzern nicht rauskriegen können! Tatsächlich stellte sich heraus, dass der Buchhändler keine Ahnung hatte, wer die Übersetzerin war, und schon gar nicht, dass sie direkt um die Ecke wohnte. Der Übersetzer ist derjenige, der den Text am besten kennt, er ist in seiner individuellen Sprache verfasst, es ist sein Text. Er ist geradezu prädestiniert, ihn zu lesen. Stattdessen wird bei den allermeisten Veranstaltungen der Name des Übersetzers nicht mal erwähnt. Man macht sich schon gar nicht die Mühe, ihn einzuladen, nicht mal als Gast. In sämtlichen Veranstaltungsankündigungen und auf allen Hörbuchcovern steht, wer den deutschen Text liest. Und natürlich, wer das Original verfasst hat. Das Bindeglied dazwischen, derjenige, der dafür gesorgt hat, dass es überhaupt einen deutschen Text gibt: Fehlanzeige. Der hat unauffällig zu sein und die Klappe zu halten. Warum eigentlich?
Ach, und übrigens. Als Kundin, die Bücher kauft, möchte ich auch gern wissen, wer sie übersetzt hat. Das macht nämlich etwas aus. Ich kaufe durchaus Bücher wegen des Übersetzers, oder eben gerade nicht. Es nervt kolossal, wenn ich bei jedem Buchhinweis, den ich irgendwo lese, erstmal selbst herauskriegen muss, wer es übersetzt hat. Nun bin ich auch selbst Übersetzerin und deswegen besonders sensibel für das Thema. Jeder andere passionierte Leser wird aber ebenfalls sagen, jawohl, die Übersetzung ist wichtig, sehr sogar – und gleichzeitig wird er fast keinen Übersetzernamen kennen. Warum? Da stimmt doch was nicht, das passt doch nicht zusammen!
Es kann doch nicht wahr sein, dass man die Übersetzer nur dann wahrnimmt, wenn sie etwas falsch gemacht haben. Das ist allein eine Frage des Bewusstseins. Liebe Leser, liebe Kritiker, liebe Literaturveranstalter: Huhu! Hier sind wir! Ohne uns könntet Ihr das alles gar nicht lesen!
„Der Autor“, sagte Nobelpreisträger José Saramago einmal, „schafft mit seiner Sprache nationale Literatur. Die Weltliteratur wird von Übersetzern gemacht.“
Man wirft Übersetzern ja gerne vor, was sie Schlimmes mit einem Buch gemacht hätten. Oder man bejubelt sie für das, was sie mit einem Buch gemacht haben. Natürlich machen Übersetzer etwas mit Büchern. Aber Bücher machen auch etwas mit Übersetzern.
Mit jedem neuen Buch kommt ein neues Thema, und das ist auch einer der Gründe, warum Übersetzen so ein toller Beruf ist: weil man immer wieder neu veranlasst ist, sich mit Dingen zu befassen, mit denen man sich sonst nicht befasst hätte, auf die man selbst womöglich gar nicht gekommen wäre. Natürlich gibt es auch Themen, bei denen man von vornherein weiß, dass sie einen nicht interessieren, dann soll man es bleiben lassen. Wenn man ein Buch nicht mag, wenn man schon das Thema nicht mag, dann wird die Übersetzung nicht gut. Mich beispielsweise lasse man mit Science Fiction und Fantasy in Ruhe, das ist nichts für mich, das weiß ich schon vorher, damit fange ich gar nicht erst an. Das muss man sich mal vorstellen: Hätte man mir damals Harry Potter angeboten, ich hätte abgelehnt. Waah!
Aber dann gibt es Themen, bei denen man spontan denkt, och ja, klingt interessant. Garten, jüdische Kultur, Transvestismus. Davon verstehe ich nicht viel, aber das kann man ja ändern. Man liest sich ein, es wird immer interessanter, man recherchiert all die kleinen Details, die der Autor so lässig en passant erwähnt, man googelt, schlägt nach, wälzt Lexika und Fachbücher und durchlöchert Fremde und Freunde, die sich mit dem Thema auskennen. Lieber Jan, falls Du das hier liest: es tut mir leid, dass ich Dich mit dem Satz „Ich bräuchte mal eine Abtreibungsberatung“ so erschreckt habe. Aber wenn schon ein Gynäkologe im Haus wohnt, kann ich mich ja auch vergewissern, dass meine Übersetzung richtig formuliert ist.
Sehr schön war auch die schon etwas ältere Kollegin, eine veritable Dame, stets tadellos gekleidet und frisiert, die einst den unvergessenen Satz „Ich habe ein gutes Verhältnis zu meinem Waffenhändler“ sprach. Wer Krimis übersetzt, muss den Unterschied zwischen Pistole und Revolver und den zwischen Hand- und Faustfeuerwaffen kennen, und muss wissen, was wie aussieht, funktioniert, heißt. Da liegt es nahe, im Waffengeschäft nachzufragen und sich die Dinger mal anzusehen.
So sammelt man im Laufe der Zeit eine erstaunliche Menge von erratischem Halbwissen in den abstrusesten Fachgebieten. Aber man macht sich nicht nur fachlich kundig; auch emotional beschäftigt man sich mit dem jeweiligen Thema. Und so dringt nicht nur der Übersetzer in das Buch ein, das Buch dringt auch in den Übersetzer ein. Vor vielen Jahren war ich im Europäischen Übersetzerkollegium in Straelen und übersetzte einen Bildband über Bar- und Clubdesign. Ich schwelgte in Luxus, überlegte, was ich zu Hause auf welche Weise umgestalten könnte, dachte über Vorhangstoffe und bunte Möbel nach, über Tische, Stühle und Wandfarbe und fand ganz allgemein, man müsse viel öfter schicke Designerlokale besuchen.
Mir gegenüber saß eine Kollegin, die die Biografie einer im zweiten Weltkrieg untergetauchten Jüdin übersetzte. Den Bericht über den Abtransport ihrer Familie, Briefe ihres Verlobten aus dem Konzentrationslager. So etwas übersetzt man nicht, indem man ein paar Vokabeln nachschlägt. Manchmal hörte ich sie stöhnen, manchmal liefen ihr Tränen über die Wangen. Dann gingen wir einen Kaffee trinken, und ich hatte ein schlechtes Gewissen wegen meiner Designerbars.
Etwas später habe ich in London eine dieser Bars besucht. Dort bezahlten wir für zwei Getränke 15,- Pfund, das waren damals ungefähr 45,- DM. Ich habe dann von dem Wunsch, mehr Designerlokale zu besuchen, wieder Abstand genommen.
Stattdessen habe ich das Kochen angefangen. Nach zwei jüdischen Büchern, die nichts mit dem zweiten Weltkrieg zu tun hatten, in denen aber permanent Hühnersuppe gekocht wurde, hielt ich es nicht mehr aus und musste selbst welche kochen. Ich! Hühnersuppe! Hühnersuppe macht Arbeit, ich habe noch nie etwas gekocht, was Arbeit macht. Aber die Entdeckung war: das ist sie wert. Hühnersuppe ist meine große Liebe geworden, ich mache mir die Arbeit gerne. Außerdem ist Hühnersuppe nicht nur lecker, sondern auch noch gesund; „Jüdisches Penicillin“, heißt es, hilft gegen alles von Grippe bis Liebeskummer. Ich war schon seit Jahren nicht mehr krank, und ich behaupte, das liegt an der Hühnersuppe. Danke an meine beiden jüdischen Autorinnen! Ihr habt nicht nur meinen intellektuellen Horizont erweitert.
Als ich einen Transvestitenkrimi übersetzen sollte, bin ich als erstes in die schwule Buchhandlung gegangen und habe nach etwas zum Einlesen gefragt. Es gab leider wenig bis gar nichts, ich habe einfach zum hundertsten Mal Ralf König gelesen. Geblieben ist mir ansonsten die Musik von Georgette Dee und Tim Fischer. Zunächst habe ich nur bei Youtube reingehört, mir schließlich aber auch ein paar CDs gekauft. Georgette Dees Element-of-Crime-Cover beispielsweise sind wundervoll.
Gerade habe ich mit zwei Kollegen zusammen Jonathan Safran Foers Eating Animals übersetzt, Tiere essen, ein Sachbuch darüber, woher unser Fleisch kommt. Wie die Tiere leben, zu zigtausenden in ihrer eigenen Scheiße stehend, mit Antibiotika und Wachstumshormonen gefüttert. Und wie sie sterben – durch Elektroschock betäubt, oder auch nicht, ausgeblutet und ausgenommen von Maschinen, die den Darm verletzen, so dass Kot ins Fleisch gerät, und so weiter. Appetitlich ist das alles nicht.
Tschüss, Hühnersuppe. War eine schöne Zeit mit dir.
„Du bist doch Übersetzerin, was heißt denn refrigerator?“
Keine Ahnung. Ich bin Übersetzerin, ich kann keine Wörter übersetzen. Fast nie. Nicht mal so vermeintlich eindeutige Wörter wie refrigerator.
Das ist natürlich eine etwas wichtigtuerische Pose. In Wahrheit habe ich durchaus eine Ahnung: refrigerator wird in den allermeisten Fällen wahrscheinlich Kühlschrank heißen. Seltener vielleicht auch Kühler oder Kühlwagen oder Kondensator (eines Kühlsystems). Im Einzelfall kann es aber auch mal sein, dass refrigerator mit Schlagbohrmaschine übersetzt werden muss. Oder Staubsaugerbeutel. Das glauben Sie nicht?
Haikus are easy
but sometimes they don’t make sense.
Refrigerator.
Zur Erinnerung: Haikus sind durch eine genau abgezählte Silbenzahl definiert. Ein Haiku besteht aus drei Zeilen mit 5, 7, 5 Silben. Wie in diesem englischen Haiku. Beim Übersetzen muss diese Struktur beibehalten werden, denn sonst wäre es kein Haiku mehr. Der Anfang geht schnell von der Hand:
Haikus sind einfach,
aber nicht immer sinnreich.
…
Und dann? Refrigerator. Fünf Silben. Kühlschrank hat nur zwei. Tiefkühltruhe vier, Gefrierkombination leider sechs. Glücklicherweise kommt es in diesem Fall ja gar nicht darauf an, dass da ein Kühlgerät steht, das Kühlgerät ist egal, da muss irgendetwas vollkommen Zusammenhangloses mit fünf Silben stehen. Bleiben wir doch bei Haushaltsgeräten: Schlagbohrmaschine, Staubsaugerbeutel, Dunstabzugshaube. Suchen Sie sich was aus, Hauptsache, Sie übersetzen refrigerator nicht mit Kühlschrank.
Das ist natürlich ein Ausnahmefall, aber er zeigt sehr schön, dass man tatsächlich keine Wörter übersetzen kann. Nicht mal die, die auf den ersten Blick eindeutig aussehen. Denn je nach Kontext kann fast jedes Wort ganz unterschiedliche Übersetzungen erfordern.
Bei Sätzen geht es schon besser. Sätze kann man meistens übersetzen. Was allerdings nicht bedeutet, dass ein und derselbe Satz in allen Kontexten auf dieselbe Weise übersetzt werden könnte. Noch so ein einfaches Beispiel: Why don’t you sit down?
Die meisten Leute würden das spontan mit „Warum setzt Du Dich nicht?“ übersetzen. Das ist auch erstmal nicht falsch. Allerdings ist es so, dass diese „Why don’t you“-Floskeln (oder auch „Why don’t I“) im Englischen ein ganz übliches rhetorisches Mittel sind, und die obenstehende Frage eine gängige Formulierung, mit der man jemandem einen Platz anbietet. Die angemessenere Übersetzung wäre also – nun ja, da muss man schon wieder nach dem Kontext gucken. Wer sagt das zu wem? Duzen oder siezen die beiden sich, treffen sie sich zum ersten Mal, in welchem Verhältnis stehen sie zueinander, sind sie befreundet, wie alt sind sie, und so weiter. Die passende Übersetzung wird also (meistens) irgendwo zwischen „Nehmen Sie doch bitte Platz“ und „Pflanz dich“ liegen. Es sei denn, der Sprecher möchte wirklich wissen, warum sein Gegenüber sich nicht setzt. Das kann ja auch mal sein.
Was wir übersetzen, sind Texte. Ein Text entsteht nicht dadurch, dass man lauter Wörter hintereinanderschreibt. Oder lauter Sätze. Ein Haufen Wörter wird erst dann zu einem Text, wenn die Wörter zueinander in Beziehung gesetzt werden. Diese Beziehung kann in ihrem Sinngehalt begründet sein, in der Grammatik, in Klang oder Rhythmus, meist ist es eine Mischung aus all dem. Diese Beziehung muss mitübersetzt werden. Das heißt, der Übersetzer wägt, um beim obigen Beispiel zu bleiben, ab, ob die Kühlfunktion des refrigerators ausschlaggebend ist oder irgendetwas anderes an diesem Wort. Hier ist die Silbenzahl das wichtigste. Und dass es etwas ist, was die zweite Zeile des Haikus bestätigt, nämlich dass Haikus manchmal sinnlos sind.
Texte kann man fast immer übersetzen. Wenn man davon ausgeht, dass man einen Text übersetzt, verlieren zum Beispiel auch Wortspiele ihren Schrecken. Denn natürlich kann man nicht jedes Wortspiel wörtlich übersetzen („wörtlich übersetzen“ ist sowieso so ein Irrglaube), es kann also in der Übersetzung nicht immer an genau denselben Stellen ein Wortspiel stehen wie im Original, dafür kann man aber in der Übersetzung eines reinbringen, wo im Original keines steht. Mit Fingerspitzengefühl natürlich. Am Ende muss die Bilanz stimmen. Aus einem wortspielreichen Text in der einen Sprache wird ein wortspielreicher Text in der anderen Sprache gemacht.
Das ist die allerwichtigste und oberste Literaturübersetzungsregel. Man darf – bei aller Detailverliebtheit und Akkuratesse, die auch sein muss – nie den Gesamttext aus den Augen verlieren. Man muss immer wissen, wo dieses eine Wort und dieser eine Satz stehen. Wie sie sich stilistisch und rhythmisch in ein großes Ganzes eingliedern.
Kennen Sie den schon? Wieviele Übersetzer braucht man, um eine Glühbirne reinzudrehen? Kommt auf den Kontext an.
Der Text, den ein Schauspieler spricht, steht fest, er ist vorgegeben, der Schauspieler kann ihn nicht verändern. Er muss in eine Rolle schlüpfen, sich mit Haut und Haar in jemand anderen hineinversetzen, denken wie er, fühlen wie er, sprechen wie er – dabei aber dennoch aufrichtig bleiben, er selbst bleiben. Er kann kein anderer werden, weil er kein anderer ist. Er muss vielmehr seine Persönlichkeit in die Rolle einbringen, und dabei ebenso sehr sich selbst wie der Rolle treu bleiben. Dazu muss er das Stück natürlich verstanden haben, es richtig und vollständig durchdrungen haben, er muss den Gesamttext begreifen, die Geschichte, den Hintergrund, die Figur und jedes Detail. Wenn er etwas nicht verstanden hat, funktioniert es nicht, dann wird er seine Rolle unbeholfen spielen.
Es genügt nicht, wenn der Schauspieler die vorgegebenen Worte aufsagt. Er braucht auch schauspielerisches Handwerkszeug (kann man lernen) und eine Menge Talent (kann man nicht lernen). Und außerdem braucht er Herzblut, und zwar viel davon, und auch das kann man nicht lernen. Wenn der Schauspieler das Stück liebt, wenn er seine Figur liebt und versteht, wird er besser spielen, als wenn er das Stück verachtet.
Ein schlechter oder lustloser Schauspieler kann das schönste Stück kaputtmachen. Ein guter Schauspieler hingegen kann aus einem mittelmäßigen Stück Ungeahntes herausholen. Mit Herzblut und Handwerk und Talent und Verstand. Es ist eine Kunst, ein Theaterstück zu schreiben, und eine andere, ganz eigene Kunst, es zu spielen.
Genauso ist es auch beim Übersetzen. Übersetzen ist ebenfalls eine darstellende Kunst: jemand schreibt einen Roman (ein Sachbuch, eine Gebrauchsanweisung), und ein anderer schreibt den Text in seiner Sprache neu, mit seinen Mitteln und, ja: mit seiner ganzen Persönlichkeit. Der Übersetzer gibt, ebenso wie der Schauspieler, einen feststehenden Text wieder, von dem er nicht abweichen darf, dem er treu bleiben muss. In Wortlaut, Stil und Rhythmus. Er muss hinter den Autor zurücktreten, die Stimme des Autors nachempfinden, aber eben mit seiner eigenen Stimme. Eine andere hat er ja auch gar nicht.
Der Übersetzer muss das Buch ebenso gründlich verstanden haben wie der Schauspieler das Stück. Nicht nur den Handlungsablauf, sondern auch Hintergründe und Figuren, sämtliche Details und das, was sie zusammenhält, sonst funktioniert es nicht. Und auch der Übersetzer braucht dafür neben seinem Handwerkszeug, nämlich der deutschen Sprache, reichlich Talent und Herzblut. Denn auch der Übersetzer kann, wenn er sein Handwerk nicht beherrscht oder keine Lust hat oder das Buch nicht leiden kann, das schönste Buch kaputtmachen. Und umgekehrt kann ein guter Übersetzer aus einem mittelmäßigen Buch das Beste herausholen. Wenn er mit Leidenschaft und Sachverstand arbeitet, wird die Übersetzung gut. Ebenso wie bei den Schauspielern gibt es Übersetzer, die fast alle Rollen beherrschen, und andere, die immer nur sich selbst spielen oder zumindest auf ein Genre festgelegt sind.
Einmal wurden eine Freundin und ich gefragt, was wir beruflich machen.
„Ich übersetze Bücher“, sagte ich.
„Boah, voll schwer!“, sagte die Dame, die gefragt hatte. „Und Sie?“
„Ich schreibe Bücher“, sagte meine Freundin.
„Boah, noch schwerer!“, rief die Dame.
„Ja“, sagte ich, „das ist wirklich viel schwerer. Da muss man sich ja alles selbst ausdenken!“
„Nein“, sagte meine Freundin, „stimmt doch gar nicht. Übersetzen ist viel schwerer! Da ist man so eingeschränkt, man kann nicht machen, was man will, man muss immer treu sein, und so wahnsinnig genau! Als Autorin kann ich, wenn ich etwas nicht weiß, einfach was anderes schreiben. Und wenn ich etwas Doofes geschrieben habe, lösche ich es halt und denke mir was Neues aus. Das kannst Du als Übersetzerin nicht!“
Wir sind zu keinem Ergebnis gekommen, was nun schwieriger ist. Die Frage ist auch müßig. Ein Buch zu schreiben, ist eine Kunst. Es zu übersetzen, ist eine andere, ganz eigene Kunst.