Loslassen
Einer hat sich von seiner Liebsten getrennt. Nicht, weil da keine Liebe mehr wäre oder zu wenig, oder weil es zwischen ihnen nicht mehr funktionieren würde, sondern weil er katholischer Priester ist und es nicht mehr aushält. Liebe deinen Nächsten, sagt die Kirche, aber wenn du bei mir arbeiten möchtest, gefälligst nur platonisch. Und was, Kirche, ist eigentlich mit dem Thema Verzeihen? Ihr könnt einem Menschen nicht verzeihen, dass er liebt? Es zerreißt ihn, und seine Liebste mit.
Ein Sohn zieht zu Hause aus, und anderswo eine Tochter. Loslassen mit Freude und Sorge und Wehmut und dem Wissen, dass es richtig ist und nur ein bisschen Loslassen und nicht komplett.
Einer musste seinen Hund einschläfern lassen. So ein Baum von einem Mann, er ist innen drin ganz weich, glaube ich, deswegen hat er außen rum so eine Schutzschicht aus Ironie und Bart und Gebrumm, aber manchmal, da macht er die Tür auf und man kann ein bisschen reingucken, und dann ist es da drin warm und schön. Er schreibt: „Das ist der letzte Weg, den ich mit meinem Kumpel gehe“, und es bricht mir das Herz. Er war sein Kumpel, dieser Hund, ich kannte den Hund nicht, aber wenn er über ihn sprach, dann hat man das gemerkt. Am nächsten Morgen frage ich, wie es ihm geht. „Beschossen wär noch geprahlt“, schreibt er, und dann, dass das „beschissen“ heißen sollte, und ich sage: „Ich versteh dich auch beschossen.“
Paare trennen sich, meistens ist das gut so, aber nie geht es ohne Schmerz. Manche hatten schon lange losgelassen, es sich aber nie eingestanden. Manchmal gibt es ein Gezerr um die Kinder, dabei können die am wenigsten dafür, alle sind überfordert. Manchmal können Menschen, die sich einmal geliebt haben, nicht mehr miteinander reden. Vielleicht würde es besser gehen, wenn sie losließen. Verzeihen hat mit Loslassen zu tun.
Bei einer wurde eingebrochen. Ihr Schmuck wurde geklaut – Familienerbstücke, Erinnerungsstücke an besondere Momente im Leben, Urlaubsmitbringsel. Alles nicht viel Geld wert, aber es hingen Erinnerungen dran. Man soll sein Herz nicht an Dinge hängen, aber das tut man, man gewinnt Gegenstände lieb, sogar dann, wenn man sie gar nicht mehr trägt, wenn man sie nur einmal im Jahr beim Aufräumen findet und jedes Mal denkt, „ach, das hast du damals in Kroatien auf dem Markt gekauft“. Es ist nicht der materielle Wert.
Eine muss sich von ihrem Kinderwunsch verabschieden. Ihr Mann auch, aber für Männer ist es anders, als Frau ist die Zeit irgendwann vorbei. Der Abschied kommt schleichend, über Jahre, und das sind Jahre der monatlichen Hoffnung und monatlichen Enttäuschung, der zermürbenden Behandlungen und der noch schlimmeren Bemerkungen von Freunden, Kolleginnen, Familie. Mit der Zeit werden die Kommentare weniger, und den Schmerz wickelt man vorsichtig in weiche Tücher, damit er nicht mehr so scharfkantig ist, aber weggehen wird er nicht, und sein Gewicht behält er. Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke.
Zwei haben Krebs. Eine ist alt und der Krebs vielleicht in den Griff zu kriegen, das ist noch nicht ganz klar. Eine ist jung und der Krebs der Brutalste, den man haben kann. Vernichtend. Ich kann mir dieses Loslassen nicht mal im Ansatz vorstellen. Das Leben loslassen. Die geliebte Person loslassen, endgültig und für immer, einfach nur so, weil Krebs ein Arschloch ist. Wie soll das gehen.
Wir wissen, dass alles, was kommt, auch wieder geht.
Warum tut es dann immer wieder und immer mehr weh?
(Gundermann)
Lena Dienstag, 11. Dezember 2018 um 18:18 Uhr [Link]
Ach, ach.
Aber so schön, mal wieder was im Blog zu lesen.
(Und wie toll war Gundermann bitte?)
Tillmann Dienstag, 11. Dezember 2018 um 19:32 Uhr [Link]
Hach. Merci. Das laß ich gerade zum rechten Moment.
Melanie Dienstag, 11. Dezember 2018 um 21:07 Uhr [Link]
*seufz* … schweres Thema … gut geschrieben.
Petra P Dienstag, 11. Dezember 2018 um 23:07 Uhr [Link]
Heule jetzt ein bisschen. Klar geht das Loslassen. Auch diesmal. Man gewöhnt sich sogar an den Schmerz. Du schon wieder. Und trotzdem … dass da nicht ein bisschen mehr Hornhaut auf der Seele ist, nach all den Jahren und Abschieden …
creezy Mittwoch, 12. Dezember 2018 um 11:08 Uhr [Link]
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giardino Mittwoch, 12. Dezember 2018 um 11:24 Uhr [Link]
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Steffi Mittwoch, 12. Dezember 2018 um 13:40 Uhr [Link]
Schmerzlich schön geschrieben. Danke.
Sarah Mittwoch, 12. Dezember 2018 um 14:30 Uhr [Link]
Wow….danke für diesen Text. Musste ich dieses Jahr auch lernen.
Sandi Mittwoch, 12. Dezember 2018 um 17:47 Uhr [Link]
Ich male ein Herz.
Die Größe des Bösen | Buddenbohm & Söhne Donnerstag, 13. Dezember 2018 um 06:59 Uhr [Link]
Öfter mal eine Schüssel für alle auf den Tisch stellen. ***Man wird unser Zeitalter anhand von Hühnerknochen nachweisen können. ***Loslassen.***Ich habe beschlossen, beim Wiederleseprojekt etwas zu schummeln und mir einige Werke als Hörbuch vorlesen zu lassen, so gewinne ich durch den Arbeitsweg immerhin etwa 40 Minuten Lesezeit am Tag, da passt vieles hinein. Klaus Nägelen hat mir daher in nur zwei Tagen “Der seltsame Fall des Dr. Jekyll & Mr. Hyde” von R. L. Stevenson vorlesen können, das ist eines der Bücher, die ich tatsächlich alle paar Jahre mal lese. Das ist außerdem zum heutigen Stand meine Lieblingserzähung, die wurde in meinem Lieblingstonfall von meinem Lieblingsautor geschrieben, es ist für mich ein geradezu heimatliches Gefühl, die einleitende Beschreibung von Mr. Utterson zu lesen, hier zitiert nach der Ausgabe im Gutenbergprojekt: “Der Rechtsanwalt Utterson hatte ein strenges, von tiefen Falten durchfurchtes Gesicht, das nie durch ein Lächeln erheitert wurde, kalt, kurz und verlegen in seiner Unterhaltung, zurückhaltend im Ausdruck seiner Gefühle; lang, dürr und schwermütig war er – und doch konnte man nicht umhin, den Mann lieb zu haben.Unter alten Freunden, nach einem guten Diner, wenn der Wein ihm besonders schmeckte, strahlte etwas unbeschreiblich Liebevolles aus seinen Augen, etwas, dem er in seiner Rede nie Ausdruck zu geben vermochte, aber das sich oft und laut in seinen Handlungen aussprach. Er war streng mit sich selbst; wenn er allein war, trank er gewöhnlichen Gin, um seine Vorliebe für gute Weine abzutöten. Er war ein großer Verehrer des Dramas, doch hatte er seit zwanzig Jahren kein Theater besucht. Er hatte aber grundsätzlich eine große Duldsamkeit für die Schwächen anderer; er schien fast mit Neid das Ueberfließen von Temperament zu bewundern, das die Ursache ihrer Untaten war, und in allen Fällen war er geneigt, lieber zu helfen, als zu tadeln. »Ich folge Kains gottloser Ketzerei,« pflegte er in seiner eigentümlichen Weise zu sagen, »und lasse meinen Bruder seinen eigenen Weg zum Teufel gehen.« Daher kam es denn auch häufig, daß er die letzte und einzige anständige Bekanntschaft von verkommenen Menschen war; und diesen gegenüber bezeigte er, wenn sie ihn besuchten, auch nie die geringste Veränderung in seinem Wesen.”Deutsch von Gisela Etzel.Es ist eine außerordentlich fein konstruierte Erzählung, bei jeder neuen Lektüre bewundere ich wieder das Geschick von Stevenson. Während die meisten Menschen grob wissen, was es mit Jekyll & Hyde auf sich hat, haben vermutlich gar nicht mal so viele das Buch gelesen, dabei ist das ein wirklich erheblicher Spaß und der Herr Stevenson für mich einer der Erzähler schlechthin. Ich war erneut so verzückt, ich habe sofort danach wieder mit seiner Schatzinsel angefangen, es ist ganz und gar herrlich.Eine Anmerkung zu Jekyll & Hyde noch. In der Wikipedia fand ich den Hinweis, dass in den zahllosen Verfilmungen des Buches der böse Hyde stets größer als Jekyll dargestellt wird, im Buch ist das umgekehrt. Aus Stevensons Sicht war das auch richtig so, Hyde musste schwächer entwickelt, jünger und kleiner als Jekyll sein, er hatte ja als verdrängte Persönlichkeit viel weniger Zeit gehabt, sich zu entwickeln und zur Blüte zu gelangen. Aber Stevenson ist in diesem Punkt ein korrigierter Erzähler, die Filmemacher haben durch die Bank erkannt, dass das Böse groß sein muss, um Angst zu machen, dass die Größe vollkommen untrennbar zu seiner Macht gehört und ein kleiner Hyde nicht zu vermitteln ist. Und ob bedacht oder unbedacht, sie haben so auch noch den Umstand verstärkt hervorgehoben, dass Verdrängung Monster gebiert – und Monster stellt man sich nun einmal nicht mager und schwach vor, fragen Sie ruhig mal das nächstbeste Kind nach präzisen Größenangaben, die Kinder wissen verlässlich Bescheid.***Ich hatte mehrere Termine in einer radiologischen Praxis, weitere liegen noch vor mir. Die waren in meinem Fall völlig harmlos, im Falle etlicher anderer Patienten aber unübersehbar überhaupt nicht. Alle Formen des seelischen und körperlichen Elends, weinende Patienten und Angehörige, da spielen sich Szenen ab, die so nah an den jeweils heiligsten Gefühlen und wichtigsten Gedanken der Betroffenen sind, solche furchtbaren seelischen Dramen, es gehört sich nicht, sie zu beschreiben, man möchte sich eher entschuldigen, überhaupt etwas gesehen zu haben. Nur so viel, man möchte beim Rausgehen sofort ein besserer Mensch werden, weil das unvermeidbare Leid doch ganz gewiss schon für alle ausreicht, es kann gar keinen Grund geben, es noch durch vermeidbaren Varianten zu vermehren. So gehe ich nach diesen Besuchen jeweils zwanzig Minuten frisch geläutert durch die Straßen, bis ich schließlich doch wieder in die moralische Durchschnittlichkeit zurückfalle, die uns nun einmal alle unweigerlich auszeichnet. Aber so ist der Mensch, ist er nicht?***Musik. Heute mit etwas mehr Schwung. ***Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte. ************************Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhanden Hut werfen, herzlichen Dank!************************
Vera S. Donnerstag, 13. Dezember 2018 um 08:15 Uhr [Link]
Ach, schade – das war ja gar keine Buchbesprechung…
Denn ‚das Buch‘ würde ich sehr gern lesen und an andere verschenken.
W. Löcher-Lawrence Donnerstag, 13. Dezember 2018 um 08:25 Uhr [Link]
Ein sehr schöner, produktiver 11.Dez.