Geständnis
Ich habe mich verliebt. In einen 85jährigen.
Gestern Abend war er in Hamburg und hat seine Autobiografie vorgestellt. Ein Mann, der quasi alle großen Gestalten des 20. Jahrhunderts kennengelernt hat. Der mit Marlon Brando, Tony Curtis und Walter Matthau zusammen die Schauspielschule von Erwin Piscator besucht hat; der mit Bobby Kennedy und mit Martin Luther King befreundet war und Sätze sagt wie: „Jemand wie Dr. King ist mir nicht mehr begegnet, bis ich Nelson Mandela kennenlernte“; der bei seinem ersten Auftritt als Sänger von Max Roach und Charlie Parker begleitet wurde; der Miriam Makeba und Nana Mouskouri und Bob Dylan in ihrer Anfangszeit unterstützt hat; der in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung sehr aktiv mitgearbeitet hat; und der außerdem wunderbare Musik macht und seit Jahrzehnten ein Weltstar ist.
So alte Männer neigen ja oft dazu, ein bisschen selbstgefällig zu werden und hauptsächlich zu erzählen, was für ein toller Hecht sie sind. Was bei diesem Herrn sogar gestimmt hätte. Er ist ein so dermaßen toller Hecht, dass das Publikum aufsteht, als er den Saal betritt. Das finde ich erstmal ein bisschen übertrieben, standing ovations, ohne dass er auch nur ein Wort gesagt hätte. Das liegt aber nur daran, dass ich eigentlich gar nichts über den Mann weiß, ich weiß nur, dass er tolle Musik macht. So tolle Musik, dass wir sogar eine ganze CD von ihm besitzen, eine „Best of“ oder „Greatest Hits“ oder so, und die hören wir auch ganz regelmäßig, nämlich ungefähr einmal im Jahr in einer Sommerlaune.
Der alte Mann bleibt auf dem Weg zu seinem Platz auf der Bühne stehen und sieht ins Publikum. Er geht mit einem Gehstock, aber unglaublich aufrecht, er sieht das Publikum an und lächelt; ich weiß immer noch nichts über ihn, aber ich sehe diesen aufrechten alten Mann da stehen und lächeln und denke: wow. Harry Belafonte. Drei Meter vor mir. Und dann stehe ich auch auf.
Harry Belafonte singt an diesem Abend nicht. Er singt überhaupt nicht mehr, und das ist ebenso schade wie verständlich, der Mann ist 85. Er ist hier, um seine Autobiografie vorzustellen. Und das tut er mit einem Charme und einer Ausstrahlung, dass zwei Stunden lang alle an seinen Lippen hängen, obwohl der Abend auf Englisch abläuft. Er spricht langsam und deutlich, man versteht ihn gut, und er ist außerdem sehr strukturiert und konzentriert – alles nicht selbstverständlich in dem Alter. Und ungeheuer beeindruckend.
Zwischendurch liest Christian Brückner zwei- oder dreimal ein Stück aus der deutschen Übersetzung. Und da passiert es – ich habe überlegt, ob ich das hier rauslasse und es in einen eigenen Eintrag packe, weil es so gar nicht zu meiner sonstigen Begeisterung für diesen Abend und diesen Mann passt. Aber es gehört ja doch irgendwie hierher. Jedenfalls liest Christian Brückner also, Harry Belafonte hört ganz gebannt zu, obwohl er kein Wort versteht, und fragt Brückner, als er fertig ist: Wow, wer hat das denn geschrieben? Klang toll. Und dann witzeln die drei – Brückner, Belafonte und Moderator Christoph Amend –, haha, ja, wer hat das denn wohl geschrieben, Herr Belafonte? Aber nicht einer der drei kommt auf die Idee, dann doch mal zu sagen, von wem es denn nun ist, denn der deutsche Text ist ja in der Tat nicht von Belafonte (sondern von Kristian Lutze, Silvia Morawetz und Werner Schmitz), und dass das jetzt genau der Moment wäre, in dem man die Urheber der deutschen Fassung nennt. Sie werden auch zu keinem anderen Zeitpunkt des Abends genannt, ebensowenig wie Belafontes Co-Autor. Das regt mich uff, Entschuldigung, Berufskrankheit. Aber ist doch wahr!
Aber dann zwinge ich mich dazu, mich wieder abzuregen. Denn ansonsten ist der Mann wirklich umwerfend. Man bekommt den Eindruck, dass Körperhaltung und geistige Haltung miteinander einhergehen, und dass Harry Belafonte einfach ein aufrechter Mensch ist. Ja, ich weiß, wie groß das klingt. Außerdem ist er auch noch klug und charmant und hat einen guten Humor, ach, und übrigens sieht er auch noch sensationell aus. Und dieses Lächeln! Und dann spricht er über Liebe und Moral, über Moral in der Politik und über Gerechtigkeit. Die großen Themen, und Themen, bei denen normalerweise gleich meine Kitschalarmglocken schrillen würden, aber nicht bei Harry Belafonte, denn alles, was er sagt, wirkt: aufrecht. Und aufrichtig. Und durchdacht, und als hätte er danach gelebt, 85 Jahre lang. Und außerdem sagt er kein Wort zuviel.
Hinzu kommen ein paar kleine Gesten. Als Harry Belafonte darauf hinweist, wie wunderbar er Christian Brückner findet. Oder als seine Frau vorgestellt wird, die in der ersten Reihe sitzt, und das Publikum ihr applaudiert, und er ihr mitapplaudiert. Oder dass er, als drei junge MusikerInnen ihm überraschend zwei Lieder singen, darauf besteht, dass sie zu ihm kommen, dass er aufsteht, um sich bei ihnen zu bedanken, und ein paar Sätze mit ihnen wechselt. Dass er zum Schlussapplaus ebenfalls aufsteht, um sich für den Applaus zu bedanken.
Das wirkt alles nicht wie falsche Bescheidenheit oder gespielte Demut oder sonst ein Theater, sondern wie echte Freundlichkeit und Dankbarkeit ohne Übertreibung. Bisher mochte ich nur die Musik ganz gerne, aber jetzt weiß ich um Harry Belafontes wirklich unermüdliches und eigentlich unfassbares Engagement für Gerechtigkeit und Bürgerrechte. Die Geschichten, die er erzählt, kommen aus einer ganz anderen Welt; Rassentrennung, die ganz reale Gefahr durch den Ku Klux Klan, mein Gott, das ist doch total irre. Es steht im Buch, und er sagt es: dass er zornig ist, und dass der Zorn auf die Ungerechtigkeiten der Welt sein Handeln angetrieben hat. Zu spüren ist von diesem Zorn allerdings nichts. Zu spüren sind Freundlichkeit und Güte und eine Art Grund-Vergnügtheit. Und ein funkelnd humorvoller, klarer Verstand. Ein ebenso berührender wie inspirierender Abend.
Nachhören kann man den Abend am Ostersonntag Abend um 20.00 Uhr im NDR-Radio.
Joachim Mischke vom Abendblatt hat Belafonte nachmittags schon interviewt. Meine Lieblingssätze aus dem Artikel:
„Die Jahrhundert-Persönlichkeit sagt genau so lange nichts, wie es braucht, um am liebsten von ihm adoptiert zu werden und Nachhilfeunterricht zum Thema Coolness zu erflehen“, und „einen jüngeren 85jährigen muss man sehr lange suchen.“
Ja. Und ja. Was für ein Mann.
Harry Belafonte, Michael Shnayerson (Kristian Lutze, Silvia Morawetz und Werner Schmitz): My Song. Die Autobiographie. Kiepenheuer und Witsch, 24,99 €
E-Book 21,99 €
Und im April kommt der Film Sing your Song in die Kinos. Will ich sehen!
Noch eine schöne Geschichte: Herr Paulsen hat ihn mal getroffen.
NACHTRAG: Benjamin Hüllenkremer war auch da und hat Fotos gemacht. Ich finde, auf den Bildern sieht man schon, was ich meine.
Jana Sonntag, 1. April 2012 um 09:55 Uhr [Link]
Das NDR Hamburg Journal hatte gestern einen kurzen Beitrag. Momentan gibt es den in der NDR Mediathek http://www.ndr.de/flash/mediathek/mediathek.html?broadcastid=14 (rechte Seite).
Marko Langer Sonntag, 1. April 2012 um 14:13 Uhr [Link]
Lobhudelei. Aber schön.
Isabel Bogdan Sonntag, 1. April 2012 um 21:47 Uhr [Link]
Och, wieso „aber“? Lobhudeleien sind doch super.
Jana, vielen Dank für den Link! Hach.
Isabel Bogdan Dienstag, 3. April 2012 um 13:45 Uhr [Link]
Hier gibt es noch ein längeres Interview mit Julia Westlake.
Nachlese III -Sammelsurium « FlicKwerk Freitag, 6. April 2012 um 19:21 Uhr [Link]
[...] Isa von ” is a blog” hat Harry Belafonte getroffen , d.h. sie war bei einer Lesung von ihm und war begeistert (und hat einen Link zur Muppetshow, [...]
creezy Mittwoch, 22. August 2012 um 01:05 Uhr [Link]
Und das Oberfantastische ist: den Abend nimmt Dir jetzt niemand mehr! ;-) Harry ist ein Guter. Wirklich.
Harry Belafonte » bigbasspic Freitag, 15. Februar 2013 um 12:07 Uhr [Link]
[...] Isabel war auch da und hat einen sehr lesenswerten Blogpost über den Abend geschrieben. Tweet In People, Portrait, TV/RadioTags: Christian Brückner, Die [...]
Film: Sing your song Montag, 1. April 2013 um 12:34 Uhr [Link]
[...] und andere himmelschreiende Ungerechtigkeiten auf der Welt. Ich war ja vor genau einem Jahr schon schwer beeindruckt von Harry Belafonte, und mit Musik hat das eher am Rande zu tun. Wobei ich seine Musik auch mag. Um Musik geht es auch [...]