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Mail von meinem Kollegen Ulrich Blumenbach. Ihr erinnert Euch? Übersetzer von David Foster Wallace. Er schreibt zum Betreff „Lass uns gehen“:

Nabend allerseits,
ich habe keinen Blog, wo ich den Schaum vor dem Mund zum Dokument eintrocknen könnte, also muss ich es in einer Rund-Mail machen, die Ihr alle gern sofort löschen könnt. Seit achtzehn Jahren versuche ich, mit meinen sprachbewussteren Kollegen und Kolleginnen gegen die Anglizismen anzugehen, die durch schlecht synchronisierte Fernsehserien aus Großbritannien und den USA für eine akzelerierende Neandertalisierung der deutschen Sprache sorgen. Eine durchaus verehrte Kollegin
[das bin ich, das bin ihich! IB] verteidigt diese grassierende Aufforderung als „Weihnachtsimperativ“ wegen jahrhundertealter Zeilen wie „Lasst uns froh und munter sein“ oder „Lasset uns nun gehen …“, aber ich alter Sturkopf beharre darauf, dass „Lass uns gehen“ für „Let’s go“ ein Anglizismus ist, den wir nicht brauchen, weil er keine Lücke in der deutschen Sprache füllt. Und was sehe ich heute im korrigierten Englischtest, den mir meine Tochter zur Unterschrift vorlegt? Die Lehrerin hat ihr einen Punkt abgezogen, weil sie „Let’s go“ mit „Gehen wir“ übersetzt hat. Meine Tochter wird dafür bestraft, gutes Deutsch zu schreiben! Vielleicht bin ich ja ein Reaktionär der Sorte, die Pfützen stehenlässt, weil sie noch von der Sintflut herrühren könnten, aber DAS ist für mich der Untergang des Abendlandes, ähm, des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Zunge, ach Scheiße, was weiß denn ich.

Ich seh das mit dem Weihnachtsimperativ und vielleicht überhaupt mit den Anglizismen ja ein bisschen entspannter, aber das ändert natürlich nichts dran, dass Ulrich zumindest in sofern recht hat, dass „Gehen wir“ eine völlig in-Ordnunge Übersetzung ist, vielleicht sogar schöner als „Lass uns gehen“. Dass nun aber Ulrich Blumenbachs Tochter mehr vom Übersetzen verstanden hat als ihre Lehrerin, das wundert mich nicht wirklich.

13 Kommentare

  1. lady grey Donnerstag, 20. Oktober 2011 um 07:01 Uhr [Link]

    Man möchte allerdings auch nicht die Englischlehrerin von Übersetzerkindern sein.
    (Ich finde „Gehen wir“ natürlich auch viel schöner. „Seien wir froh und munter“ perlt einem nicht ganz so flüssig von der Zunge, aber das ist sicher Gewöhnungssache.)

  2. percanta Donnerstag, 20. Oktober 2011 um 09:20 Uhr [Link]

    Pointen markieren ist ja fast wie Witze erklären, aber in diesem Fall sehr schön.

  3. Isabel Bogdan Donnerstag, 20. Oktober 2011 um 10:44 Uhr [Link]

    (Ich hab immer Angst, dass man sonst meint, ich hätte das selbst nicht gemerkt.)

  4. Anne Donnerstag, 20. Oktober 2011 um 11:33 Uhr [Link]

    Ich bin ja irgendwo da zwischendrin. Manche Anglizismen finde ich nett und benutze sie selber gerne, andere finde ich albern und/oder doof und eigentlich find ich’s auch ganz witzig, wie sich hier Übersetzungen klassischer Anglizismen durchsetzen – ist ja nichts Schlimmes dabei und Sprache wandelt sich nun mal.

    Trotzdem ist die Übersetzung der Tochter so dermaßen kein Fehler, sondern einfach sinngemäß richtig und gut übersetzt. Wer das anmeckert, der muss wirklich ganz enge Scheuklappen aufhaben. Ts.

    Ich würde ja an der Stelle von Ulrich Blumenbach die gesammelten Antworten und Kommentare schön zusammenschreiben und der Lehrerin in die Hand drücken. Zu befürchten bleibt, dass das leider nichts ändert.

  5. Isabel Bogdan Donnerstag, 20. Oktober 2011 um 12:01 Uhr [Link]

    Es ist ja so: die alleroberste Übersetzungsmaxime ist immer „Wir übersetzen keine Wörter (und auch keine Sätze), wir übersetzen Texte.“
    Was Ulis Tochter hier gemacht hat, ist übersetzen in diesem Sinne. In der Schule wird aber nicht übersetzt, sondern abgefragt, ob die Kinder Vokabeln gelernt haben – die sollen Wörter übersetzen, keine Texte. Das hat auch in Prinzip erstmal seine Berechtigung. Nur tut es in diesem Fall dem Kind natürlich Unrecht, denn es ist einfach schon einen Schritt weiter.

  6. molasaria Donnerstag, 20. Oktober 2011 um 12:38 Uhr [Link]

    Ehrlich und mit Verlaub gesagt: mich wundert das überhaupt nicht. Denn woher soll sie’s denn besser wissen, die Lehrerin?
    Ach so? Die hat doch Englisch studiert, da muss man ja Übersetzungskurse machen? Aber wer unterrichtet denn diese Kurse an der Uni… Kurse wohlgemerkt, wo kaum jemand aus Interesse am Übersetzen hingeht, sondern bloß deshalb, weil man eben den Schein braucht und eine Übersetzungsaufgabe Teil des Staatsexamens ist?
    Hmm… als ich das letzte Mal schaute, war die weitestverbreitete Mindestqualifikation für Dozenten von ÜS-Kursen noch ein abgeschlossenes Studium der fraglichen Sprache. Will heißen, im Zweifelsfall unterrichten da Leute, die noch nie mit der Praxis des Übersetzens in Berührung gekommen sind, andere Leute, denen die Tätigkeit des Übersetzens an sich herzlich wurscht ist – die dann ihrerseits in die Schulen gehen und zB die Übersetzung von Blumenbachs Tochter korrigieren.
    Die fragliche „Neandertalisierung“ nimmt mich tatsächlich wenig wunders… (wobei die ja mbMn tatsächlich nicht bei den Anglizismen stattfindet, über denen der alberne VDS allerweil ‚rumplärrt, sondern eher dort, wo der Kollege Blumenbach meint)

  7. Stephan Donnerstag, 20. Oktober 2011 um 13:10 Uhr [Link]

    Schön finde ich, dass die Folgen der sich stärker ausbreitenden Anglizismen als „Neandertalisierung“ beschrieben werden, die es ihrerseits ohne die Gräzisierungsmode im 16./17.(?) Jahrhundert nicht gäbe. Herr Neander war „eigentlich“ ein Herr Neumann.

  8. Isabel Bogdan Donnerstag, 20. Oktober 2011 um 13:15 Uhr [Link]

    Ja, aber. Du kannst ja auch nicht wollen, dass der Englischunterricht in Schulen von Übersetzern gegeben wird. Wer soll denn dann übersetzen? Die gute Nachricht ist doch: es kann halt nicht jeder übersetzen, das erfordert schon ein spezielles Talent, Erfahrung, wasweißich.
    Dass an der Uni Düsseldorf im Studiengang Literaturübersetzen hauptsächlich Philologen lehren, die dem Vernehmen nach oft genug keine Ahnung vom Übersetzen haben, das ist wirklich nicht gut. Aber wir sprechen hier von einer ganz normalen Schule, nicht vom Studiengang Literaturübersetzen. Nicht mal von einem Anglistikstudium. Ich weiß nicht genau, wie alt Ulis Tochter ist, aber es geht doch darum, Vokabeln abzufragen, nicht um Übersetzungskompetenz. Die Lehrerin wollte sehen, dass das Kind weiß, was „let’s“ heißt. Nicht, ob es später mal eine gute Übersetzerin werden könnte.

    Und genau, das Neandertal liegt gar nicht in England!

    Hihi:

  9. adelhaid Donnerstag, 20. Oktober 2011 um 13:21 Uhr [Link]

    es handelt sich an schulen in der tat nicht um übersetzungen, sonderen um sprachvergleichsübungen (und bis auf länder im süden der republik hat ohnehin in den letzten jahrzehnten niemand mehr im unterricht der modernen fremdsprachen übersetzt, denn wir hatten ja die kommunikative wende, aber ich schweife ab..).
    dabei soll abgeprüft werden, ob die derzeit behandelten vokabeln und ausdrücke gelernt wurden (und das eben meist wie im lehrbuch angegeben, und wenn man jemanden schubsen möchte, dann bitte die lektoren in den schulbuchverlagen) und erkannt werden und dann reproduziert werden können. es handelt sich also um eine reine lernkontrolle und nicht um eine übersetzung, wie sie von professionellen übersetzern (mit auftrag, mit ziel, mit vordefinierter leserschaft und mit dem anspruch, einen dem originaltext entsprechenden kohärenten äquivalenttext zu produzieren) angefertigt wird. das ist auch nicht der anspruch in der schule und das ist mit sicherheit auch nicht der anspruch eines übersetzungskurses an der universität in einem philologischen studium, in welchem lehrkräfte ausgebildet werden. lehrkräfte sollen sprache vermitteln und zur sprachvermittlung gehört das überprüfen von vokabelwissen. und wenn immerzu nur vokabeltests geschrieben werden, dann ist das auch doof.
    ich würde an dieser stelle nie auf die idee kommen, die sprachliche kompetenz der lehrkraft zu hinterfragen, denn das ist meist reine zeitverschwendung (ich würde auch nicht hinterfragen, wer die übersetzungskurse an den universitäten unterrichtet, denn das macht eine ganz andere dose würmer auf). ich würde eher, auch als elternteil, mal freundlich fragen, nach welchen grundsätzen der text der schüler bewertet wurde. und wenn es an dieser stelle eine ‚musterübersetzung‘ gibt, und in diesem muster Lass uns gehen steht, und nicht Gehen wir, bzw Gehen wir vielleicht sogar ausgeschlossen wird, DANN kann man sagen, hier ist was richtig schief gelaufen.
    wenn dem nicht so ist, dann sehen wir hier vielleicht eher mal wieder sprachwandel in progress, und das ist doch eigentlich was total tolles und sollte doch eigentlich allen sprachliebenden menschen die tränchen in die augen treiben, denn: wie geil ist das denn? sprache ändert sich mit jedem sprecher und trotzdem verstehen wir einander. das ist doch der helle wahnsinn!

  10. percanta Freitag, 21. Oktober 2011 um 12:16 Uhr [Link]

    Ich möchte gerne einen Stern hinter Adelhaids Beitrag kleben und anmerken, dass ich diese Frau kenne – toll, oder?!

  11. Ulrich Blumenbach Freitag, 21. Oktober 2011 um 16:20 Uhr [Link]

    Wollte nur kurz sagen, dass ich, nachdem der erste Schock abgeklungen ist, durchaus Isabels und adelhaids Meinung bin: Englischlehrerinnen und Literaturübersetzer dürfen oder müssen sogar verschiedene Auffassungen der ‚richtigen‘ Übersetzung einer gegebenen Wendung haben. (Meine Tochter ist übrigens dreizehn und hat leider erst in diesem Schuljahr Englisch bekommen.)

  12. slowtiger Donnerstag, 27. Oktober 2011 um 12:14 Uhr [Link]

    Ich versuche immer erst rauszukriegen, ob eine bestimmte Wendung tatsächlich draußen im Leben gesprochen wird – und da ist „Laß uns/Laßt uns /mal/ losgehen/was machen“ völlig normal, schon seit wasweißichwann. Und da auch immer der Kontext zählt, kann ein „Laß uns endlich gehen“ durchaus passender sein als ein „Gehen wir.“ Soziolekt, kulturelle Einbettung – auch wer deutsch spricht, bemüht sich darum, zu zeigen, daß er Anspielungen aus dem Englischen versteht. Am Schönsten finde ich da ja die Komplett-über-das-Oben-Germanisierungen aus der Krautchan-Umgebung: „ich lachte“, „Fazialpalmierung“, „Säge“, usw. Nichts für jeden Tag, aber mit den richtigen Leuten auf der richtigen Party einfach prima. Und eine Vielschichtigkeit, die mir bei vielem „korrekt“ Geschriebenem inzwischen richtig fehlt.

  13. Isabel Bogdan Donnerstag, 27. Oktober 2011 um 12:40 Uhr [Link]

    Ich finde „lass uns“ ja auch vollkommen normal, sage ich dauernd, sagt jeder dauernd, und eben: Weihnachtsimperativ. Aber man schießt sich ja manchmal auf so Sachen ein – ich zum Beispiel halte „einmal mehr“ für einen grauenvollen Anglizismus und ganz fürchterlich, obwohl ich weiß, dass das gar nicht so ist (oder zumindest von ungefähr niemandem außer mir so gesehen wird).
    Keine Ahnung, was Krautchan ist, aber diese Über-das-Oben-Übersetzungen sind natürlich nur in einer bestimmten Umgebung lustig. Und auch nur eine Zeitlang, der Witz ist dann relativ schnell tot. Aber das ist auch wieder nur meine Meinung.
    Ein weites Feld!

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