Schneiderei
An einer Hose hat sich eine Naht gelöst, vielleicht sechs oder acht Zentimeter sind plötzlich offen. Ich stehe vor der Änderungsschneiderei und sehe zweierlei: erstens ist gerade Mittagspause, das entnehme ich dem Schild mit den Öffnungszeiten an der Tür, zweitens sitzt aber ein älterer Herr drin und näht. Ich fasse probehalber an die Tür, sie ist offen. Ich weiß, Sie haben gerade Mittagspause, sage ich. Nein, nein, kommen Sie rein, sagt er.
Ich zeige die offene Naht. Ist das alles? Ja. Wann ich die Hose denn abholen möchte, fragt der Herr. Freitag, schlage ich vor, denn da sind meine Schuhe beim Schuster gegenüber fertig. Nein, sagt er, das ist ja fast gar keine Arbeit, geht schnell, wann ich denn wiederkomme. Ich sage, dass ich am Freitag sowieso wieder hier bin. Er sagt: nein, ich soll in zehn Minuten wiederkommen, das lohne sich ja nicht, dafür einen Abholzettel auszufüllen und so weiter. Zehn Minuten.
Okay, sage ich. Ich schlendere ein bisschen auf und ab, kaufe mir ein Croissant und gehe dann wieder hin. Die Hose ist fertig.
Ich hole mein Portemonnaie raus, nein, nein, meine Dame, sagt der alte Herr, das sei ja ganz schnell gegangen, ich bräuchte das nicht zu bezahlen. Doch, sage ich, natürlich will ich das bezahlen – nein, meine Dame, sagt er kategorisch, war ganz schnell, und setzt sich wieder an seine Nähmaschine. Ich lege ihm ein paar Münzen hin, bedanke mich – nein, ich danke Ihnen!, sagt er. Tschüss, meine Dame.
Ich halte überhaupt nichts von Pauschalurteilen über ganze Völker und Nationen. Aber ich neige doch sehr zu der Annahme, dass ein deutschstämmiger Schneider in der Mittagspause die Tür abgeschlossen, bis Freitag gebraucht und fünf Euro gewollt hätte.
IWe Mittwoch, 14. September 2011 um 14:41 Uhr [Link]
Tja, und die Tragik vieler dieser Männer ist, dass sie in ihrer Heimat als Maßschneider gearbeitet haben. Wird aber hier nicht anerkannt. Deshalb dürfen sie hier nur „Änderungsschneiderei“ machen. Nur als Wink mit dem Zaunpfahl, falls Sie oder andere Mitlesende mal was Anspruchsvolleres haben. Auf Anfrage dürfen die das nämlich schon machen, aber selber nicht dafür werben.
Frische Brise Mittwoch, 14. September 2011 um 14:59 Uhr [Link]
Zum Heulen schön!
adelhaid Mittwoch, 14. September 2011 um 15:20 Uhr [Link]
und schön auch überhaupt, diese hose nicht einfach wegzuwerfen, sondern zu einer schneiderei zu bringen. gute wahl! (und ein schuster auch noch!!! ich bin begeistert!!)
Anne Mittwoch, 14. September 2011 um 15:28 Uhr [Link]
Hab auch nur gute Erfahrungen mit Schneidern gemacht. Ich denk immer, die lächeln dann still in sich hinein, weil ich so was Einfaches wie Knopf annähen nicht kann (kann ich sogar, aber ich mach’s nicht gerne und es sieht scheiße aus, wenn’s fertig ist), und dann leg ich denen meine Sachen hin, hier ne Naht gerissen, da ein Knopf ab und geh einkaufen und meistens isses dann fertig und kostet einen Euro oder zwei. Umsonst war noch nix, aber ich find ja auch einen Euro zu wenig. Ich würd auch fünf zahlen, wenn’s danach doch wieder schön heile ist.
Ich hab aber auch keinen deutschen Schneider gehabt, Türken, Spanier, was-weiß-ich, aber keinen deutschen.
Isabel Bogdan Mittwoch, 14. September 2011 um 16:04 Uhr [Link]
Ha, kommt noch besser: ich bin so ein Öko, die Hose ist von Hess-Natur und zu neu zum Wegwerfen, aber wahrscheinlich biologisch abbaubar. Und die Schuhe sind meine Steppschuhe, da muss noch so‘n Gummiding drunter.
Übrigens habe ich auch noch was zur Reinigung gebracht. Blaubeer-Holunder-Eis. Hoffentlich geht das raus.
Violine Mittwoch, 14. September 2011 um 17:33 Uhr [Link]
Ach, da kann ich Dir was Schönes von einem Deutschen erzählen, einem Fahrradhändler, einem Schrauber aus Passion.
Er ist mein bevorzugter Fahrradhändler, weil sie einen sehr guten Service und sehr gute Beratung haben.
Nun, ich habe ein neues Rad und bei Rädern gilt, wie ich festgestellt habe, der gleich jährliche Check wie bei neuen Autos. Ich hatte also mein Fahrrad zum Check bei ihm. Er sagte mir einen Termin samt Uhrzeit, wann ich es wieder abholen könne. Ich kam an, es war noch nicht fertig. Da meinte er, er mache es gerade fertig, ich könne noch einen Kaffee trinken gehen (da hat es in der Nähe Gelegenheiten), wenn ich die Quittung mitbrächte, ginge das auf seine Kosten.
So habe ich das dann gemacht.
Isabel Bogdan Mittwoch, 14. September 2011 um 17:39 Uhr [Link]
Hervorragend! Ich sach ja, Pauschalurteile taugen nix.
Gaga Nielsen Mittwoch, 14. September 2011 um 23:23 Uhr [Link]
Kommt halt auch immer drauf an.
So kleine Gesten kann man überall erleben, wurscht welche Nationalität. Das ist ja das Schöne. Ich hab neulich meinen Kleiderschrank anders eingeräumt und gemerkt, dass ich zu wenig Kleiderbügel habe. War bei Ikea und schwere Holzbügel gekauft, es gab keine leichteren. Dann haben immer noch Bügel gefehlt, weil ich auf einmal auf den alles-aufhängen-Trip gekommen bin. Überlegt, ob ich bei ebay schauen soll, wo es im Dutzend so leichte, einfach Modelle gibt. (Früher hat man ja mit jedem Einkauf den Bügel bekommen aber heute nur noch auf Wunsch und ich hab ein paar mal vergessen zu wünschen.) Jedenfalls stehe ich so in Gedanken auf dem Kudamm und überlege noch, in was für einem Laden man die vielleicht im Zehnerpack kriegt. Da war ein C&A, wo ich seit Jahren nicht mehr drin war und bin einfach mal rein zu einer nett und praktisch ausschauenden, etwas älteren freien Verkäuferin und erzähle ihr mein Kleiderbügelproblem und dass die von Ikea so schwer sind und ich aber sehe, dass die Anziehsachen bei C&A auf genaus der Sorte Bügeln hängen, die ich brauchen kann. Da sagt sie „kommse mal mit“. Geht mit mir zu Kasse, wo ganz viel Kundschaft und Kolleginnen von ihr sind und nimmt die wahrscheinlich größte von allen Tüten, die man kriegt, wenn man einen riesigen Daunenmantel kauft oder so und packt mit beiden Händen so viele Bügel rein, wie sie nur fassen kann. Ob das reicht? Ja! Super! Waren ungefähr dreißig Stück und erwähnt noch, dass sie die ja immer wiederverwerten, Recyling eben! Deswegen nur Bügel auf Wunsch. Ich bedanke mich artig und komme mir ein bißchen komisch vor, weil ich ja überhaupt gar nichts gekauft habe und sage noch „das ist aber wirklich nett von Ihnen, wo ich doch gar nichts gekauft habe!“ Sagt sie: wir wollen ja, dass Sie gerne wiederkommen! Ja, da komme ich gerne wieder!
Ja, ja ich weiß doofe Bügel sind nix Besonderes, aber eine andere hätte vielleicht gesagt, die Bügel sind nur für Kunden, die was gekauft haben.
Isabel Bogdan Donnerstag, 15. September 2011 um 00:29 Uhr [Link]
Ach, das ist so süß, dass ihr mich eigentlich bestätigt. War wahrscheinlich dumm zu glauben, ein deutscher Schneider täte sowas nicht. Und eigentlich glaube ich das ja auch nicht.
Schwedenhausfan Donnerstag, 15. September 2011 um 09:34 Uhr [Link]
Bei Esprit (zumindest in MS) bekommt man auf Anfragen auch ein paar Bügel. Die werden ja auch nur weggeworfen. Und wenn man ganz lieb ist bekommt man auf Wunsch auch die etwas dickeren, auf denen die Sachen doch etwas besser hängen und nicht so geknickt werden, wenn man den Kram beiseite schiebt.
Bei C&A gibts übrigens auch Biobaumwollsachen :)