Freud und Leid
Das Leben meint es gut mit mir, und im Moment gerade besonders. Wir kommen von einem Geburtstag, es war ein schöner Abend voller anregender Gespräche, es gab leckeres Essen und reichlich Wein, wir sitzen in der U-Bahn und unterhalten uns, und dann sehe ich am Fenster einen Aufkleber: Probanden gesucht. Menschen in einer bestimmten Altersgruppe werden da gesucht, um ein Medikament zu testen, Menschen mit Akne (mind. 17 Pickel). So steht es da, in Klammern, mindestens 17 Pickel, und ich muss fürchterlich lachen, ich stelle mir Leute vor, die vor dem Spiegel stehen und ihre Pickel zählen, oh, Mist, sind nur 16, dann kann ich leider nicht an der Medikamentenstudie teilnehmen, hätte ich doch bloß siebzehn Pickel! Mein Mann lacht mit, wildfremde Leute lachen mit, ein kollektiver nächtlicher Lachanfall, dann beruhigen wir uns alle halbwegs wieder. Die Bahn hält, eine Frau steigt ein, sie setzt sich schräg gegenüber. Sie holt tief Luft, hält sich die Hand vor die Augen. Es ist schon ein Uhr, wahrscheinlich ist sie müde. Ich kichere noch ein bisschen über die siebzehn Pickel. Vielleicht ist die Frau auch betrunken und möchte es sich nicht anmerken lassen. Sie hat immer noch die Hand vorm Gesicht. Sie holt Luft. Sie bemüht sich um kontrollierte Atmung, sie schaut aus dem Fenster, da ist nichts, ein U-Bahntunnel eben. Die Frau ist nicht betrunken, sie weint. Sie ist sehr beherrscht, sie macht keinen Laut, man merkt nur, dass sie ihren Atem mit Mühe unter Kontrolle hält, sie hält sich die Hand vor die Augen, sie weint. Und ich sitze da, mir steckt das Kichern noch im Hals, ich würde gern irgendwas tun, eine nette Geste, ich weiß keine. Säße ich neben ihr, vielleicht würde ich ihr die Hand drücken, vielleicht auch nicht, vielleicht würde ich es nicht wagen, obwohl ich mir denken kann, dass es ihr vielleicht gut täte. Vielleicht will sie es nicht, vielleicht, vielleicht, was weiß man schon. Ich weiß nicht, ob die Frau, die neben ihr sitzt, merkt, dass sie weint, ich weiß nicht, ob ich vielleicht irgendwas täte, wenn die Bahn leerer wäre, aber was, was kann man tun, man kann nicht einfach sowas Blödes sagen wie „alles wird gut“, denn manchmal, manchmal wird nicht alles gut, auch wenn ich das immer behaupte, und überhaupt ist sie vielleicht allergisch gegen solche Sprüche, und das kann man ihr auch nicht verdenken, immerhin geht es der Frau wirklich beschissen, sonst würde sie nicht in der Bahn sitzen und weinen.
Wir sind an unserer Haltestelle, wir steigen aus, ich habe nichts gesagt, ihr nicht die Hand gedrückt, nichts. Wir steigen aus und sagen „schrecklich, wenn jemand einfach so weint und man gar nicht weiß, was man tun soll“, und dann gehen wir nach Hause und haben es gut, und beim nächsten Mal, wenn jemand in der Bahn sitzt und weint, dann werde ich wieder nicht wissen, was ich tun soll und wieder darüber nachdenken, ob ich ihm jetzt die Hand drücken oder etwas sagen soll, und wenn ja, was, und am Ende werde ich wahrscheinlich wieder nichts getan haben, oder vielleicht doch.
von Horst Sonntag, 20. Februar 2011 um 22:32 Uhr [Link]
Einmal, als ich im Bus vor Weinen keine Luft bekam, stand eine Frau auf und hat mir die Hand auf die Brust gelegt und so Sachen gesagt wie „ruhig atmen“ und „alles wird gut“ und dass ich ruhig weinen solle und blieb bei mir, bis ich aussteigen musste. Wenn alles auseinanderfällt, ist ein bisschen Festgehaltenwerden vielleicht viel. Ein Plädoyer für’s Mutigsein.
Alexandra Sonntag, 20. Februar 2011 um 23:21 Uhr [Link]
Schwierig.
Denn: jemanden, der zwar offensichtlich Trost bedarf, einfach so anzufassen, ist schon ein ziemlicher Schritt. Vielleicht erst mal mit dem Angebot eines Taschentuchs anfangen?
Ich stand mal heulend in der S-Bahn, weil der Abschiedsschmerz schon im Bahnhof und nicht erst zuhause nicht mehr zu unterdrücken war und da wäre ich von einer Berührung durch Fremde, so nett sie auch gemeint gewesen wäre, garantiert nicht sonderlich begeistert gewesen. Aber ein Taschentuch hätte ich bestimmt gerne angenommen (auch wenn ich eigene dabei hatte, aber die Geste…).
Isabel Bogdan Sonntag, 20. Februar 2011 um 23:29 Uhr [Link]
Mir haben mal ein paar Russen Alkohol eingeflößt. War in dem Moment auch okay. Aber man weiß es halt immer nicht.
felis Montag, 21. Februar 2011 um 01:16 Uhr [Link]
Der Blick von der anderen Seite: http://www.felismajor.net/2011/ecce-homo-2/
Danke für die Geschichte und den Blick
Gaga Nielsen Montag, 21. Februar 2011 um 08:19 Uhr [Link]
Mach dir keine Gedanken. Du hast genau richtig reagiert.
Wenn man in der S-Bahn oder U-Bahn weinen muss (kommt schon mal vor) hat man nur den Wunsch komplett in Ruhe gelassen zu werden. Auf keinen Fall ansprechen. Deswegen auch die Hand vor dem Gesicht. Schon schlimm genug, dass man in der Situation von A nach B muss.
Isabel Bogdan Montag, 21. Februar 2011 um 11:13 Uhr [Link]
Super, Eure Antworten bestätigen ja zweierlei: erstens, Menschen sind verschieden und man kann nicht wissen, welche Bedürfnisse jemand gerade hat. Zweitens, man schließt gern von sich auf andere, logisch.
q.e.d.
felis Montag, 21. Februar 2011 um 13:06 Uhr [Link]
In der S-Bahn ist es eben auch sehr schwierig, sich sozusagen aus der Distanz vorsichtig anzunähern, das Terrain zu sondieren. Das ist etwas ganz anderes als damals bei mir.
giardino Montag, 21. Februar 2011 um 14:27 Uhr [Link]
Ein ruhiger, mitfühlender Blick und vielleicht noch, falls sie den Kontaktversuch wahrnähme, kurz eine Hand auf die Schulter, z. B. beim Rausgehen. Kann natürlich sein, dass es immer noch als Übergriff empfunden würde, aber ich glaube, vielen könnte es schon gut tun.
Ich schließe natürlich ganz von mir auf andere; erinnere mich gerade an ein vergleichbares Erlebnis, als ich 14 oder so war (mit vermutlich ebensovielen Pickeln); die kurze Geste ist mir bis heute in Erinnerung geblieben, so gut tat sie mir.
meta morfoss Montag, 21. Februar 2011 um 15:43 Uhr [Link]
mir persönlich würde die taschentuch-geste auch am ehesten zusagen. glaub ich.
wobei … stimmt nicht. wenn ich schon so am ende bin, dass ich nicht mal die berrschung mehr aufbringe, in einem öff. verkehrsmittel „normalität“ zu spielen, dann würde ich es, vermutlich doch noch besser finden, in ruhe gelassen zu werden. optimalerweise tut die umgebung so, als wäre alles ganz normal. (ich hatte wenigstens das glück, in meinem auto zu heulen, da gucken zwar die ampel-nebensteher sehr merkwürdig, aber man hat einen letzten rest privatsphäre.)
in felis‘ situation hätte ich mir auch den zuhörer gewünscht.
so verschieden kanns sein … aber (auch wenn es mich nicht direkt betrifft) ich freue mich über die anteilnahme gegenüber einer weinenden fremden. es tut gut zu wissen, dass die umgebung eben doch nicht so schlimm kalt und abweisend ist wie sie sich manchmal darstellt.
danke!
Gaga Nielsen Montag, 21. Februar 2011 um 17:59 Uhr [Link]
Letztlich signalisiert ein Mensch auch ohne Sprache, inwieweit Konaktinteresse besteht. Wenn jemand mit traurigem Blick in einer Bar sitzt, befindet er sich ja freiwillig in einem öffentlichen Raum und mag für Ansprache offen sein. Mir ist das was du beschrieben hast Isa, mehr als einmal widerfahren. Zum Glück konnte ich mir in den letzten Jahren ein Taxi leisten, immer mit der bangen Hoffnung einsteigend, der Taxifahrer möge sich ausschließlich auf den Verkehr konzentrieren, keine Fragen stellen und mich so schnell wie möglich in mein geschütztes Zuhause bringen, wo ich dann gepflegt zusammenbrechen konnte. Natürlich ist das subjektiv. Aber ich bin nicht vom Mars und öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen macht man in so einem Zustand nur aus Not, nicht um die Einsamkeit aufzubrechen. Ich habe mir angewöhnt, wenn es doch in öffentlichen Verkehrsmitteln geschehen sollte, micht nicht mehr hinzusetzen, sondern bleibe an der Tür stehen,. mit dem Gesicht zur Scheibe, wo niemand sieht, was sich abspielt.
Laurie M. Moss Mittwoch, 23. Februar 2011 um 10:23 Uhr [Link]
Warum war ich so naiv zu glauben es ware .endlos?.Dabei muss nicht einmal Schmerz eine Rolle spielen. Dieses.Gefuhl jeden Moment in Tranen ausbrechen zu mussen das Gefuhl den Boden.unter den FuBen zu verlieren zu fallen immer nur zu fallen und das Gefuhl .dass rein gar nichts mehr von Bedeutung ist Das alles hatte ich schon mal.