Begriffsstutzigkeit für Fortgeschrittene
Beim Bäcker.
Ich: Ich hätte gern fünf Berliner.
Verkäufer: Drei sind im Angebot.
Ich: Ähh – ich brauche aber fünf.
Er: Sie könnten ja sechs nehmen.
Ich: Ah. Ja. Das könnte ich dann wohl.
Beim Bäcker.
Ich: Ich hätte gern fünf Berliner.
Verkäufer: Drei sind im Angebot.
Ich: Ähh – ich brauche aber fünf.
Er: Sie könnten ja sechs nehmen.
Ich: Ah. Ja. Das könnte ich dann wohl.
Knapp zwei Wochen nach unserem ersten Ausflug klingelt mein Telefon, Sohn II ist dran. Meiiine Patentante! Meine Isa bist! Patentante! Ausflug! Meine! Im Hintergrund die Stimmen der Eltern, ich höre raus: Sonntag. Ja, sage ich, gerne, dann hole ich Dich am Sonntag wieder ab. Wollen wir Schiffe gucken? – Jaaaa!, ruft er, Ssiffe gucken!
Am Sonntag trete ich aus dem Aufzug: Meiiine Isa! Hach. Und wie er strahlt. Einfach so, weil ich da bin. Und weil wir gleich losgehen, Zug fahren und Schiffe gucken.
Erstmal kommen wir allerdings nicht besonders weit, denn direkt vor der Haustür ist der Spielplatz. Gut, denke ich, dann eben erstmal Spielplatz. Wir haben ja ohnehin nicht wirklich ein Ziel – ich dachte, wir könnten zum Hafen fahren, das fand er auch gut, aber wenn er jetzt erstmal auf den Spielplatz will, meinetwegen. Ich glaube, das ist ein echtes Patentantenprivileg: Wir müssen nichts. Eltern haben wahrscheinlich meistens einen Zeitplan, ein Ziel, müssen irgendwohin. Sie haben kaum mal die Möglichkeit, das Kind bestimmen zu lassen. Ich hingegen kann einfach in Ruhe und im Tempo des Kindes mit ihm durch die Gegend stromern und mal gucken, was es so zu entdecken gibt. Zum Beispiel dann, wenn das Kind sich flach auf den Bauch legt und mit dem Fingernagel einzelne Sandkörner aus irgendeiner Ritze pult.
Wir bauen im Spielplatzsand ein paar Straßen, indem wir mit der Schaufel, die dort rumliegt, ein Stück Sand glattstreichen. Dann stecken wir kleine Stöckchen als Ampeln rein und klären nochmal die Sache mit Rot und Grün und Stehenbleiben und Warten und Autos. Ich glaube, so richtig kapiert hat er das noch nicht. Und so langsam denke ich, wir könnten dann auch mal los zum Bahnhof, wenn wir es heute noch zu den Schiffen schaffen wollen. Das Kind indes sagt: nein. Oder tut so, als hätte es mich nicht gehört. Noch fünf Minuten, sage ich, dann gehen wir zu den Zügen. Zug fahren! Schiffe gucken! Das Kind schüttelt den Kopf. Drei Minuten später sage ich: So, dann wollen wir mal los! Das Kind baut Straßen. Drei Minuten später sage ich: Na komm, wir gehen Schiffe gucken! Das Kind backt Schokoladenkuchen.
Irgendwann habe ich ihn endlich losgeeist, wir gehen einige Meter in die richtige Richtung, da kommen Freunde auf den Spielplatz. Geht weg, denke ich, gerade hatte ich ihn so weit! Oben am Fenster steht die Herzdame und lacht sich kaputt. Das Kind spielt.
Dann ganz plötzlich steht es auf und marschiert los. Sein eigener Entschluss. Allerdings kommen wir schon wieder nicht besonders weit, auf dem Weg zum Bahnhof muss ich an das Lied von Wir sind Helden denken:
Ja, haha, wenn er zwischen den Wundern wenigstens zwei Meter weit käme! Es fühlt sich eher an wie: zwei Meter vor, einen Meter neunzig zurück. Und wieder auf den Bauch legen, Wunder gucken. Bei den meisten Wundern handelt es sich um Sand oder leere Bonbonpapierchen, nichts, was man als Erwachsener spontan nachvollziehen könnte. Bei allem Vorsatz, uns einfach nur treiben zu lassen und nichts vorzuhaben und das Tempo des Kindes mitzumachen – ich merke doch, dass es eine Geduldsprobe ist. Lockermachen, sage ich mir, niemand hat bestimmt, dass wir es in unter einer Stunde zum Bahnhof schaffen müssen. Und am nächsten Wunder zieh ich ihn vorbei.
Dann wieder dasselbe wie schon auf dem Spielplatz: Auf einmal beschließt der Junge, dass es jetzt weitergeht, er marschiert los, rennt ein Stück, und ruckzuck sind wir plötzlich am Bahnhof. Und steigen in einen großen Zug! Das Kind strahlt. Großer Zug! Und wir sitzen drin! Und der Zug wackelt! Wie toll ist das denn! Und laut ist er! Ach, wie wundervoll. Und dann passiert noch was total Tolles: Wir sind in eine U-Bahn gestiegen, unterirdisch, und auf einmal geht es ein bisschen hoch und dann raus, ins Freie, und hoch oben über der Stadt her zum Hafen. Also, mal ehrlich jetzt: Das finde auch ich immer noch toll. Mit der U3 am Hafen entlang zu fahren.
An den Landungsbrücken steigen wir aus und trödeln ein bisschen herum. Wir gucken von oben auf die Schiffe, ganz hinten sind große Kräne, auf der anderen Seite die Elbphilharmonie. Das Kind steht vor einem blickdichten Geländer und möchte hochgehoben werden, um drübergucken zu können, logisch. Hundert Meter weiter ist ein Gitter, da könnte es durchgucken, ohne dass ich es hochheben müsste. Ich sage, komm, lass uns ein Stück weitergehen, da kannst Du besser gucken. Er geht einen Meter weiter und möchte wieder hochgehoben werden. Woher soll er auch verstanden haben, dass ich „hundert Meter weiter“ meinte? Die Welt ist so groß.
Wir treffen einen Straßenmusikanten, der Gitarre spielt und eine ganz tolle Maschine dabeihat, an der verschiedene kleine Figürchen kleine Bewegungen machen. Wirklich super, er bedient sie mit den Knien. Für das Kind aber viel toller: Es gibt eine kleine Sammlung von Geräuschmachern und die Erlaubnis, mitzumusizieren. Das Kind haut eine Weile auf den Klaviertasten herum, es hupt und quietscht und dengelt – ganz großer Spaß. Und dann wirft er dem Musiker ganz stolz eine Münze in den Hut.
Und dann fahren wir auch schon wieder zurück, es ist spät geworden über all der Trödelei, aber das macht ja nichts. Wir steigen wieder in die U-Bahn und kaufen auf dem Heimweg noch ein paar Blumen für die Mama. Er sucht sie selbst aus und trägt sie vom Bahnhof den ganzen Weg allein nach Hause. Allerdings muss ich zwischendurch auch etwas tragen, nämlich Sohn II. Erst geht er eine Weile an meiner Hand, was normalerweise überhaupt nicht in Frage kommt („alleine!“). Dann schmiegt er seine Wange an meine Hand. Dann muss ich ihn ein Stück tragen, aber das ist auch in Ordnung, er war ganz schön lange auf den Beinen. Und immer ganz allein die Treppen rauf und runter, so eine normale Treppenstufe ist verdammt hoch, wenn man zweieinhalb ist. Ich trage ihn ein Stück, dann sage ich, dass er ganz schön schwer ist, so ein großer Junge, und ob er nicht vielleicht doch noch ein Stück alleine laufen kann? Nein, sagt er, kann nicht alleine laufen. Drei Schritte später sagt er: Kann noch ein S-tück alleine laufen. Hach.
Abends eine Mail von Maximilian: Sohn II habe sich in der Bettkante verbissen und raune mit tiefer Stimme: Isaaa.
Sagte ich letztes Mal, es sei schön, wenn man jemanden mit so einfachen Mitteln so glücklich machen kann? Stimmt ja auch. Aber die Wahrheit ist: mich selbst macht es auch glücklich.
Boah, puh! Was für ein eigenartiges Buch. Ich-Erzähler Wim Endersson ist Mitte zwanzig und hat das Glück, in CobyCounty zu leben, schon immer: CobyCounty ist eine Art Paradies, es ist immer das Meer zu sehen, es ist scheinbar immer schönes Wetter (nur nicht, wenn es regnet, dann ist immer gleich „Starkregen“, aber der geht schnell vorbei); man hat unverbindliche Affären, und wenn die zu Ende gehen, leidet man halt ein bisschen und geht dann auf eine Tanzparty und betrinkt sich und fängt die nächste unverbindliche Affäre an. Alle arbeiten irgendwie im Kulturbetrieb oder im Tourismus, alle verdienen gutes Geld und sind glücklich und gesund und sehen gut aus und tragen qualitativ hochwertige Frühlingstextilien, denn jetzt wird Frühling. Und Frühling ist in diesem Paradies aus Plastik eine ganze besondere Jahreszeit, es gibt Partys und die schönsten Touristen der Welt kommen, und viele Einwohner von CobyCounty nehmen sich einfach mal zwei Monate frei, und alles ist toll.
Bis es einem immer unbehaglicher wird und immer unangenehmer und geradezu gruselig. Diese ganze Künstlichkeit und Oberflächlichkeit und Fassadenputzerei geht bis in die Sprache hinein, in der dauernd Dinge „relativ“ oder „ziemlich“ oder „fast“ irgendwas sind, und die immer ein bisschen aufgesetzt und künstlich wirkt. Da heißen die SMS dann schon mal Short Message oder Kurznachricht, der Fernseher wird zum TV-Gerät, immer alles ein bisschen unecht.
Es gipfelt schließlich in einem Satz, mit dem Wim seine Mutter beschreibt: „Meine Mutter wird immer ehrlich zu sich selbst sein, denke ich, sie wird sich einfach für immer etwas vormachen.“ Dieser Satz beschreibt ebensogut den Erzähler selbst (hier, ehrliches Sichwasvormachen: „Ich umarme ihn auf meine neue, herzliche Art“) und das ganze CobyCounty – und wenn man es weiterdenkt, trifft es wahrscheinlich sogar in echt auf die meisten Menschen zu, wir sind doch irgendwie alle immer ehrlich zu uns selbst und machen uns immer etwas vor. Was jetzt nach viel schwererem Tobak klingt als das Buch vielleicht ist, aber vielleicht auch nicht. Vielleicht kommt es nur so leicht daher. Huiuiui. Beeindruckendes Buch, und auf jeden Fall eine Leseempfehlung.
Und was Anke sagt: irre gutes Cover. Eine silbern schimmernde Fläche und silbern schimmernde, geprägte Buchstaben. Alles so schön clean hier.
Leif Randt bekommt einen Regalplatz zwischen zwei Lieblingsautoren: Tilman Rammstedt und Elisabeth Rank.
Leif Randt: Schimmernder Dunst über CobyCounty. Berlin Verlag, 191 Seiten. 18,90 €.
E-Book 17,99 €.
UPDATE: Ha! Leif Randt bekommt den Düsseldorfer Literaturpreis. Herzlichen Glückwunsch!
Ein Ministerialbeamter aus Darmstadt soll insgesamt 24.000 Bücher aus 70 Bibliotheken geklaut haben. Bibliokleptomanie oder sowas. Wahnsinn.
Mehr in der Welt.