Gestern haben wir mit den Studierenden einen Ausflug auf den Qixia-Berg gemacht. Der Berg ist berühmt für seine bunten Herbstblätter, angeblich wurde dafür sogar der Eintrittspreis verdoppelt. Und einen Tempel gibt es natürlich auch.
Die gelben Bäume sind Ginkgos, die immer paarweise stehen sollen, ein männlicher und ein weiblicher, dann gedeihen sie besser. Diese hier sind über hundert Jahre alt. Als wir auf den Platz treten, rauscht gerade ein Windchen durch den rechten Baum, es rieselt goldene Blätter, und alle freuen sich.
Keine Angst vor Kitsch! Ich habe keine Ahnung, wie echt das Gold der Statuen ist. Davor jedenfalls stehen leuchtende Plastiklotosblumen mit sich verändernden Farben. Rot, pink, lila, blau, grün, gelb, orange, rot. Wie echt die Orchideen sind, konnte ich nicht erkennen, ich tippe aber auch da auf Plastik. Jedenfalls gibt es hier in den Tempeln keinerlei Berührungsängste zwischen ganz alter handgearbeiteter religiöser Kunst und billigem, modernem Industrie-Plastikkitsch.
Hier wohnt wohl der oberste Mönch, da können wir aber nicht rein.
Wenn ich das richtig verstanden habe, ist der Gründer des Buddhismus, Shakyamuni, nach seinem Tod nicht zu Asche geworden, wie andere Leute, sondern zu kleinen Kügelchen. Eines dieser Kügelchen befindet sich in dieser Pagode aus dem 6. Jahrhundert. In dem verlinkten Wikipedia-Artikel finde ich diese Geschichte allerdings nicht bestätigt.
Diese Bilder (ab der Pagode) sind über den Bauzaun fotografiert. Schade; ich kann noch einigermaßen was sehen, aber die meisten Chinesen sind zu klein. Hier und da können wir auf Mäuerchen steigen, um über den Zaun zu schauen.
Den ganzen Hang hinauf sind diese Nischen mit Figuren drin in den Fels geschlagen. So etwas habe ich noch nie gesehen. Insgesamt sollen es tausend Figuren gewesen sein. Buddhas, Wächter, alles mögliche. Wir steigen hoch und hoch und immer weiter hoch.
Die Figuren, die noch da sind, haben keinen Kopf mehr. Alle während der Kulturrevolution abgeschlagen. Ein paar vereinzelte Buddhas haben später einen neuen Kopf bekommen. Diese ganzen kopflosen Statuen machen mich sprachlos, ich stehe davor und kann nur noch den meinen schütteln.
Wir verlassen die breiten Wege und werden zur Chinesisch-Deutschen Bergziegenbande. Großer Spaß, hier über die Felsen zu kraxeln. Und es geht verblüffenderweise immer noch weiter hinauf.
Was da in den Bäumen hängt, sind Fähnchen mit tibetischen Gebeten. Allerdings hängen sie da schon sehr lange und sehen nicht mehr unbedingt schön aus.
Von oben dann eine … ähm, wunderbare Aussicht auf den Smog Jangtse, auf die Stadt, auf ein Industriegebiet. Dieser Smog fasziniert mich wirklich, da meint man, es wäre sonnig, aber sobald man versucht, etwas weiter zu gucken, geht das einfach nicht.
Vom Berg aus fahren wir quasi direktemang ins Konzert. Die chinesischen Studierenden lernen hier ja deutsche Kultur, und es ist ein Streichquartett aus Salzburg zu Gast. Ehrlich gesagt, einige von uns haben nur so mittelviel Lust, dann finden wir es aber doch alle toll (Mozart, Mendelssohn-Bartholdy, Dvorak. Wird quasi immer besser). In der Pause gibt es noch ein bisschen Spektakel: in der zweiten Reihe sitzen zwei Frauen, die keine Eintrittskarte haben und sich auch weigern, nachträglich den Eintrittspreis zu zahlen. Anscheinend sagen sie so etwas wie: sie seien Lehrerinnen und hätten deswegen irgendeine Art von Vorrecht. Große Show mit öffentlichem Anschreien. Eine junger Mann versucht, die beiden Frauen zu fotografieren, sie halten sich ihre Handtaschen vors Gesicht. Eine junge Frau ruft in den Saal, ob man es nicht richtig fände, die Frauen zu fotografieren, „ja!“ rufen alle, und die Bilder dann ins Internet zu stellen, „ja“, rufen sie. Ich persönlich halte die Abschaffung des Prangers ja für eine begrüßenswerte Errungenschaft. Wie dem auch sei, nach langem Streit in unterschiedlichen Lautstärken zahlen die beiden Frauen schließlich doch noch.
Nach dem Konzert gehen wir noch mit ein paar Leuten Cocktails trinken, um halb zwölf bin ich zu Hause.
Es sind nur noch sechs Tage, nächsten Freitag fliege ich schon nach Hause. Wohin ist denn die Zeit so schnell gerast? Ich bin doch gerade erst angekommen, ich habe mich doch gerade erst eingewöhnt, ich fange doch gerade erst an, mich hier frei zu bewegen. Und ich will noch so viel sehen und machen!
Ja, das ist genau das, wonach es aussieht: eine Tiefgarage. Eine ehemalige. Jetzt befindet sich darin die schönste Buchhandlung Chinas, die Librairie Avant-Garde, und wie es der Zufall so will, liegt sie keine zehn Minuten zu Fuß von mir entfernt.
Drinnen wird man gleich von Rodins „Denker“ begrüßt, und dazu passend von Postkarten, Bildern und Büchern europäischer Denker und Autoren in chinesischer Übersetzung. Baudrillard, Derrida, Proust, Droste-Hülshoff, Trakl, Novalis.
Da unten biegt man dann links ab und: woah!
„Reading is our religion“ habe der Besitzer gesagt, habe ich irgendwo gelesen.
Die Bücher sind unglaublich international, das habe ich hier sonst noch in keiner Buchhandlung gesehen: sehr, sehr viele Übersetzungen, Belletristik, Wirtschaft, Politik, Biografien, Soziologie, Philosophie, alles. Aber eben alles in chinesischer Übersetzung, es gibt verblüffenderweise kein einziges ausländisches Buch zu kaufen. Obwohl wir hier im Univiertel sind.
Ach ja: Wie es in so einem alten Parkhaus riecht? Nach Kaffee.
Im Cafébereich hängen Bilder von Buchhandlungen in England und den USA. Teilweise ganz schmucklose Waterstone’s-Fassaden, teilweise sehr schöne Bilder von hübschen kleinen Lädchen oder tollem Innendesign. Und hier stehen Bücherregale mit einem unverkäuflichen Präsenzbestand deutscher und englischer Bücher, die aber eindeutig zusammengewürfelt und zerlesen sind, das sind keine, die jemand liebevoll zusammengetragen hat. Macht nix.
Ich habe einen Cappuccino mit Herzchen drauf, ein Stück warmen Schokoladenkuchen, sie spielen „Perfect day“ und es gibt freies W-LAN. Für das zensierte Internet, das heißt, ich kann es nicht mal live twittern. Das ist doch kein Zustand! Ich kann so nicht arbeiten!
Etwa in der Mitte der Tiefgarage ist Platz zum Herumsitzen und Lesen, Lernen, Schlafen. Wird alles drei rege in Anspruch genommen. Es gibt auch eine kleine Veranstaltungsfläche für Lesungen und so etwas. In den herumstehenden Sesseln wird, genau: gelesen, gelernt, geschlafen.
Weiter hinten der Bereich mit Kunstbildbänden, besonders schönen Büchern und so weiter. Insgesamt ist der Laden fast 4000 qm groß.
Das ist das Büro des Chefs. Der Chef trägt eine Pradabrille.
Als ich im Café saß, kam überraschend eine deutsche Studentin dazu, die ich kenne. (Klar, Nanjing hat nur 8 Millionen Einwohner, und ich kenne davon ungefähr neun oder zehn. Da läuft man sich halt mal über den Weg.) Wir wurden erst von zwei Angestellten angesprochen, die uns Faltblätter über den Laden in die Hand drücken wollten und dazu erstmal auf Englisch fragten, ob wir Chinesisch sprechen. Ich nicht, aber Tina. Also erklärten sie Tina, sie hätten hier Faltblätter über den Laden, die sie uns geben wollten. Ach was! Alsdann kam der Chef dazu, drückte uns seine Visitenkarte in die Hand und erklärte Tina, die ausländischen Bücher hier im Cafébereich seien nicht zu verkaufen, und nein, es gebe auch sonst keine zu kaufen. Ich drücke ihm einfach auch meine Visitenkarte in die Hand, er würdigt sie keines Blickes.
Tolle Bücher, tolles Ambiente, toller Schokoladenkuchen. Toller Laden, Gott sei Dank kann ich kein Chinesisch, sonst hätte ich wahrscheinlich richtig Geld dagelassen. Habe ich gesagt, ich könne nicht shoppen? Buchhandlungen sind was anderes. Stattdessen habe ich über 70 Bilder gemacht.
Nach China, haben sie gesagt, fährt man ja wohl mit einem halbvollen Koffer und kommt mit einem vollen zurück. Da ist ja alles so herrlich billig! Und man kann sich Kleider auf den Leib schneidern lassen, kostet quasi nichts! Ich hab’s heute versucht. Okay, nur kurz, zwei-drei Stunden, denn sogenanntes „Shoppen“ macht mir zuverlässig schlechte Laune. Und wie sollte es auch nicht? Das ist ja zu Hause schon so, da wird es hier auch nicht anders sein. Wieso sollte ich überhaupt shoppen?
Erstens: In meiner Größe gibt es hier quasi nichts.
Zweitens: In meinem Geschmack auch fast nichts. Viele Chinesinnen haben ja etwas, was mir vollkommen abgeht, nämlich einen unbedingten Willen zur Niedlichkeit. Kaum eine Kopfbedeckung kommt ohne Kuscheltieröhrchen aus, auf Pullovern sind kleine Äffchen oder Kätzchen oder Tüdelütchen, es gibt sehr viel Rosa und Glitzer, und wenn nicht, dann doch zumindest große Schleifen am Hals und so weiter. Sogar die Handys haben niedliche rosa Plastiköhrchen.
Drittens: Seit Jahr und Tag predige ich, dass man kein billiges, unter teilweise grauenhaften Umständen produziertes Zeug aus Fernost kaufen soll. Dass ich jetzt selbst in Fernost bin, ändert daran natürlich nichts, das heißt, wenn ich zu Hause nicht bei H&M und GAP und uniqlo kaufe, dann tue ich das hier auch nicht, nur weil es hier noch billiger ist.
Viertens: Es gibt am anderen Ende der Skala natürlich auch die großen Designermarken. Also, die ganz großen. Chanel, Ferragamo, Prada, Fendi, Gucci. Ich war spaßeshalber vorhin kurz bei Armani, ein leichter, dünner Pullover kostete umgerechnet gut 300,- €. Ist das ein Schnäppchen? Keinen Schimmer, ist mir auch egal, nicht meine Preislage. (Hier alles nicht im Bild.)
Fünftens: Das mit dem Nähenlassen ist offenbar ein Fall für Shanghai oder Hong Kong, nicht für Nanjing.
Sechstens: Mein Kleiderschrank ist eh voll, was will ich denn noch? Nix will ich. Und sicher keinen rosa Plüschanzug aus Polyester mit Bommeln.
Siebtens: Einkaufszentren machen mich wahnsinnig.
Heute gekauft: Nix. Ich betrachte den Programmpunkt „Shoppen“ damit als erledigt. (Hey, ich habe mir in Shanghai ein blaues Hemd gekauft. Das muss reichen.)
was, bitte, ist das? Milch ist es jedenfalls nicht. Es besteht aber, wenn ich das richtig sehe, zu mindestens 80% aus Milch, außerdem enthält es (das sind die einzigen lateinischen Buchstaben auf der Packung): Bifidobacterium lactis, Lactobazillus bulgaricus und Streptococcus thermophilus. Ich bezweifle, dass ich es gekauft hätte, wenn ich vorher gesehen hätte, dass es Streptokokken enthält. Es ist ein bisschen schleimig, riecht aber nicht schlecht oder vergoren oder so. Ich tippe auf sowas wie Yakult. Das trinke ich gern, ich zögere aber noch, dies hier zu probieren. Kennt das jemand?
Heute Vormittag bin ich als erstes zum People’s Park marschiert, dem „pulsierenden Herzen der Stadt“. Vor dem Park bitten mich drei junge Damen, ein Foto von ihnen zu machen. Ich werde sofort brummig, mache ein einziges Bild, gebe ihnen die Kamera zurück und wende mich zügig ab. Woher ich komme, fragen sie noch, Deutschland, murmele ich schon halb im Gehen, aha, rufen sie mir hinterher, Guten Tag, aber da habe ich mich schon umgedreht und bin losmarschiert und mache eine abwinkende Handbewegung. Und ärgere mich sofort, vielleicht hätte ich das Spielchen noch ein bisschen mitspielen sollen, vielleicht hätte ich mal abwarten sollen, ob die Nummer mit der Teezeremonie kommt … sie wäre gekommen, natürlich wäre sie gekommen.
Montags Vormittags pulsiert im pulsierenden Herzen rein gar nüscht. Einige Männer spielen überraschenderweise Karten; normalerweise wird Mah Jang gespielt. Die meisten stehen drumherum, gucken zu und kommentieren das Spiel. Ich schlendere ein bisschen durch den Park – falsche Jahreszeit für den Lotosblumenteich, und auch sonst: so ein Park halt. Zwischen den Wolkenkratzern, bei strahlend blauem Himmel, immerhin. Ansonsten eher unterwältigend.
Nach der wunderbaren chinesischen Massage gestern will ich mir tatsächlich einfach noch eine Fußmassage leisten. In einer anderen Dragonfly-Filiale, im Kerry-Center, das hier irgendwo in der Nähe … noch ein Stück … noch weiter … Ich laufe ein ziemliches Stück, die Geschäfte werden eleganter, kleine Boutiquen, dann die großen, Miu Miu, Louis Vuitton, Ferragamo … da ist das Kerry-Center. Das Kerry-Center ist verdammt groß, es gibt mehrere Türme mit Einkaufszentren, Büros, Hotels, Restaurants, wasweißich. Vier verschiedene Infodamen haben noch nie was von Dragonfly gehört, finden es auch in ihren elektronischen Hilfsmitteln nicht und gucken mich an, als würde ich etwas Unanständiges suchen. Irgendwann gebe ich auf. Keine Fußmassage, und mein chinesisches Handy will leider nicht mehr ins Internet gehen, ich fürchte, ich habe mein Kontingent schon aufgebraucht. Also gehe ich stattdessen essen, bei Din Tai Fung (aye, aye, Meike), hervorragende Idee. Und beschließe dort, die U-Bahn auf die andere Flussseite zu nehmen und mir die Stadt zum Abschied noch von oben anzugucken. Es ist nämlich herrliches Wetter und gar kein Smog heute; ich glaube, es ist tatsächlich der blauste Himmel, den ich in China bisher gesehen habe.
Auf der anderen Flussseite steige ich aus der U-Bahn und stehe mitten zwischen diesen riesigen Hochhäusern. Vollkommen irre. Sie glitzern in der Sonne und gehen bis hoch in den Himmel. Um von oben runterzugucken, wähle ich den nächstgelegenen Turm, den Oriental Pearl Tower, den Fernsehturm. Den fünfthöchsten Fernsehturm der Welt. Super, dass kein Smog ist.
Vor ein paar Jahren waren wir in New York und sind dort bei schönem Wetter aufs Empire State Building gefahren. Als ich oben auf die Aussichtsplattform trat und die glitzernde Stadt mir zu Füßen lag, war ich einen Moment lang total ergriffen. Ich habe tatsächlich ein Tränchen verdrückt. So schlimm war es diesmal nicht – vielleicht ist Shanghai einfach zu viel. Man sieht von da oben rundum in alle Richtungen, 360°, nur Shanghai. Häuser, Häuser, Häuser, vor allem Wohn-Hochhäuser, bis zum Horizont, beziehungsweise bis sich alles im Smog verliert – hat der sich jetzt klammheimlich doch wieder eingeschlichen, oder sieht man ihn nur von oben besser? Jedenfalls: von oben runtergucken ist natürlich sowieso super, mache ich immer gerne, und das ist hier alles ganz schön wow. (Hallo Mama, ich weiß, was Du denkst: „Vaters Tochter“ denkst du. Jo.)
Und dann ist es auch schon Zeit, zum Hotel zurückzukehren, mein Gepäck zu holen und nach Hause nach Nanjing zu fahren. Für den Rückweg zum Hotel will ich den Tunnel nehmen, der mir von gleich zwei Seiten empfohlen wurde. Jemand sagte etwas von entweder Aquarien, oder sogar Glas, durch das man die Fische im Fluss sehen kann. Ähm – gibt es womöglich zwei Tunnel? Ich gerate jedenfalls in den, wo man gar nicht durchläuft, sondern mit einem Bähnchen fährt, und die Tunnelwände sind mit Licht- und Gruseleffekten versehen – Sternenblitze, wehende Vogelscheuchen, Diskogeflacker, Geisterbahngelächter, ein sensationell alberner Spaß, der nur fünf Minuten dauert.
Und dann: Gepäck holen, zum Bahnhof, und wieder nach Nanjing. Tschüss, Shanghai! Drei Betrugsversuche in drei Tagen hat noch keine Stadt geschafft, glaube ich, aber ich fand’s trotzdem super. Shanghai verabschiedet sich mit diesem Anblick.
Im übrigen empfehle ich dringend, sich dieses Shanghaibild nochmal anzugucken. Laden dauert ein bisschen, aber dann kann man dieselbe Ansicht von 1987 und heute ineinander überblenden. Das ist wirklich … überwältigend. Vollkommen irrwitzig.