Bücher lesen

Da führe ich doch die Reihe der Nicht-Lese-Outings mal weiter. Zuerst schrieb Patschbella darüber, wie sie nach einer Zeit des Nichtlesens jetzt wieder zum Bücherlesen zurückkehrt. Dann kam Journelle mit dem „Geständnis“, dass sie im Moment gar keine Bücher liest. Und Excellensa, und inzwischen sicher noch mehr Leute. Und jetzt komme ich.
Ich bin die Frau, die annähernd fünfzehn Jahre lang so gut wie gar nichts gelesen hat. Aber das ist jetzt auch schon wieder genauso lange her.
Als Kind habe ich viel gelesen. Aber dann, so erkläre ich es mir im Nachhinein, war ich eher eine Spätentwicklerin, und die Schullektüre wurde von heute auf morgen erwachsen. Lange bevor ich erwachsen wurde. Zu Hause las ich Pferdebücher oder die Burg-Schreckenstein-Sammlung meines Bruders, in der Schule gab es Kleist, Droste-Hülshoff und Storm. Das hat mich alles überhaupt nicht interessiert, ich quälte mich nur irgendwie durch, weil es nun mal sein musste. Beziehungsweise: es musste ja nicht mal sein. Ich habe soundsoviele Deutscharbeiten geschrieben, ohne die betreffenden Bücher wirklich gelesen zu haben. Das ging nicht besonders gut, aber es ging irgendwie; ich war zwar noch ein wenig kindlich, aber nicht doof. Zum Durchmogeln hat es gereicht.
Ich werde nicht vergessen, wie wir im Deutschunterricht mal Bücher vorstellen sollten. Siebte oder achte Klasse, je drei Leute in einer Stunde. Die erste stellte Frederick Forsyth vor, „Die Akte Odessa“. Einen Thriller. Ich kannte nicht mal das Wort „Thriller“, geschweige denn hätte ich sowas gelesen. Die zweite hatte Stefans Zweigs „Verwirrung der Gefühle“ dabei, ebenfalls ein richtiges Erwachsenenbuch. Eine Dreiecksgeschichte! Du lieber Himmel. Und dann kam ich mit „Britta und ihr Pony“. So war das in der Mittelstufe.

Und mein Elternhaus? Naja – mein Elternhaus ist zwar voller Bücher, aber ich habe meine Eltern nie mit einem Buch in der Hand gesehen. Wir waren vier Kinder und meine Mutter hat ebenfalls gearbeitet, da war vermutlich einfach keine Zeit zum Lesen. Wenn meine Mutter in ein Buch geguckt hat, dann war es Arbeit (Lehrerin), und mein Vater las Zeitung. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie einfach so zum Spaß Bücher gelesen hätten.
In der Oberstufe hatte ich dann einen Deutschlehrer, der mich ebensowenig leiden konnte wie ich ihn, und so habe ich Deutsch nach der zwölften Klasse abgewählt. Und war fortan erstmal überzeugt, sogenannte „Literatur“ wäre langweilig, uninteressant, schwierig, schwer und düster. Man müsse sich das alles „erarbeiten“, und puh, wer wollte schon übermäßig arbeiten.
Dann habe ich zwei philologische Fächer studiert. Weil Sprachen mir lagen und ich nicht wirklich wusste, was ich jetzt mit meinem Leben anfangen sollte. Da musste man natürlich auch gelegentlich Bücher lesen, aber auch im Studium habe ich das nur unter Protest und Qualen getan. Oder eben gar nicht. Wahrscheinlich halte ich irgendeinen Rekord für „am wenigsten Bücher gelesen bei höchster Semesterzahl in einem philologischen Studium“. Ich habe das komplette Anglistikstudium ohne ein Wort Shakespeare geschafft. Nee, interessiert hat mich das alles nicht. Privat habe ich alle halbe Jahr mal einen lustigen Frauenroman gelesen, und das ist auch fast gar nicht übertrieben.

So richtig angefangen zu lesen habe ich erst nach dem Studium. Irgendwann mit Ende zwanzig. Eigentlich bin ich erst übers Übersetzen wieder ans Lesen gekommen: weil mich die Sprache interessierte. Weil ich Deutsch tanken wollte und sehen, was deutsche Autoren und meine Übersetzerkollegen mit der deutschen Sprache machen. Und dann war ich ganz schnell angefixt und habe so ziemlich von heute auf morgen wieder mit dem Lesen angefangen. Das ist jetzt 15 Jahre her, und seitdem hat sich mein Lesepensum langsam gesteigert – mit leichten Ups und Downs – und ist, seit ich darüber blogge, relativ konstant bei einem Buch pro Woche. Das Lesen macht mir großen Spaß, ich liebe es, Sprache aufzusaugen und Geschichten zu entdecken und zu erfahren, was in anderer Leute Köpfen vorgeht. Und ist das gar nicht schwer und schwierig, und wenn es mal düster ist, dann ist es auch meistens gut so und berührt irgendwas in mir, und das ist total toll. Wenn ich danach dann was Leichteres brauche, dann lese ich eben was Leichteres, so einfach ist das. Es gibt so unfassbar viele Bücher da draußen – man „muss“ nicht irgendwas Bestimmtes gelesen haben. Man kann sich einfach aussuchen, was man möchte. Und wenn einen etwas nicht interessiert, dann legt man es eben beiseite, nach 20 oder 200 Seiten, und liest es nicht zu Ende. Na und? Es wird etwas anderes geben, was einen mehr interessiert. Das ist doch großartig!
Aber ich habe immer noch das Gefühl, riesige Lücken zu haben. Die ganzen Klassiker, quasi alle toten Autoren, all die Bücher, die „man“ mit 16 gelesen hat oder in den 20ern – die fehlen mir alle. Irgendwann habe ich mal den Fänger im Roggen nachgeholt, hat mir nichts gesagt. Hermann Hesse – keine Ahnung, nie gelesen. Ich bin quasi eine einzige Bildungslücke. Und die Schule ist schuld! Echt wahr. Vor allem die toten Autoren hat sie mir wirklich verleidet. Blöd, oder? So langsam könnte ich mich mal davon emanzipieren. Aber es gibt doch so tolle lebende Autoren, die will ich immer gerade dringender lesen als die ollen Schinken. Morgen muss ich unbedingt los, den neuen Rammstedt kaufen.

Dorothee Elmiger: Einladung an die Waghalsigen

Wow. Was für ein Buch! Ganz erstaunlich. Weil man hinterher irgendwie auch nicht wirklich klüger ist als vorher, man hat vielmehr das Gefühl, dass die Geschichte jetzt erst so richtig anfangen würde, aber da ist das Buch schon zu Ende. Und das ist ganz wunderbar so, denn der wichtigste Schritt der beiden Protagonistinnen ist da wahrscheinlich schon getan. Wenn die klassische Heldenreise damit anfängt, dass der Held nach anfänglichem Zögern aufbricht, um dann X weitere Stationen zu durchlaufen – dann hört es hier mit dem Aufbruch quasi auf.
Die beiden Schwestern Margarete und Fritzi sind, was ihr Alter angeht, irgendwo an der Schwelle von der Jugend zum Erwachsensein. Sie leben im „Gebiet“, einem ehemaligen Kohlerevier; im Laufe des Buchs erfahren wir, dass es dort unterirdische Feuer gibt, die Kohleflötze brennen schon seit Jahrzehnten, das Gebiet ist anscheinend zum großen Teil verwüstet und verlassen, aber so ganz genau erfahren wir es nicht. Der Vater ist Polizeichef der verschwindenden Stadt, die Mutter nicht mehr da. Es gibt in der Umgebung noch ein paar weitere bewohnte Ortschaften, aber auch das bleibt ein wenig unklar, wir erfahren nicht genau, was passiert ist, und wer noch da ist, und warum. Das vor allem: warum. Warum geht fast niemand weg, aus diesem tristen und offenbar begrenzten Gebiet? Da draußen ist die Welt, ganz normal, aber irgendwie bleiben die Leute, die noch da sind, zum größten Teil da. Man weiß nicht, warum. Man erfährt überhaupt ziemlich wenig, das aber auf eine unglaublich poetische Weise, die die ganze Geschichte ebenso klaustrophobisch wie hoffnungsvoll macht. Die beiden Schwestern suchen nämlich nach einem Fluss, den es einmal gegeben haben soll, und der möglicherweise unter der Erde verschwindet. Sie brechen auf, immer wieder, durchsuchen das gesamte Gebiet nach diesem Fluss, erleben Rückschläge und Krankheiten – und am Ende kommen sie, auch wenn ich eingangs etwas anderes behauptet habe, doch irgendwo an. Oder auch nicht. Ganz, ganz großartiges Buch, große Leseempfehlung.

Dorothee Elmiger: Einladung an die Waghalsigen. DuMont, 144 Seiten, gebunden, 16,95 €.
Taschenbuch, 9,99 €
E-Book, 7,99 €

[Die Links führen zum Webshop der Buchhandlung Osiander. Wenn Ihr das Buch dort kauft, werde ich ich reich.]

Neuerscheinung

Dieses Jahr könnte man meinen, ich wäre wahnsinnig fleißig. Dauernd erscheint irgendwas Neues. Stimmt natürlich nicht, ich habe gar nicht so viel auf einmal gearbeitet, sondern es erscheint nur irgendwie alles gleichzeitig. Jetzt also: Der Hamburger Ziegel 13.

Der „Ziegel“, das Hamburger Jahrbuch für Literatur, erschien zum ersten Mal vor 20 Jahren, damals in den Maßen des, genau, Hamburger Ziegels. Inzwischen ist das Buch etwas größer geworden, heißt aber immer noch „Ziegel“ und erscheint alle zwei Jahre. Darin versammelt findet sich die aktuelle Hamburger Literatur: Mit dabei sind unter anderem Stevan Paul, Katrin Seddig, Gunter Gerlach, Mirko Bonné, Alexander Posch, Tanja Schwarz, und naja, ungefähr die komplette Hamburger Literaturszene halt. Oder jedenfalls ein großer Teil. Und ich! Meine erste eigene literarische Veröffentlichung! Alles andere war bisher ja eher journalistisch. Und dann gleich zwei Geschichten, „Brombeeren“ (S. 28) und „Der Pfau“ (S. 473). Hurra! *plopp*

Jürgen Abel / Wolfgang Schömel (Hg.): Hamburger Ziegel 13. Dölling und Galitz, 555 Seiten, 14,80 €.

[Der Link führt zum Webshop der Buchhandlung Osiander.]

Agnès de Lestrade (Anna Taube) / Valeria Docampo: Die große Wörterfabrik

In einer Museumsbuchhandlung kurz durchgelesen und sofort gekauft. Ging gar nicht anders.

Es gibt ein Land, in dem die Menschen fast gar nicht reden. Das ist das Land der großen Wörterfabrik. In diesem sonderbaren Land muss man die Wörter kaufen und sie schlucken, um sie aussprechen zu können. […] Es gibt Wörter, die sind wertvoller als andere. Man sagt sie nicht oft. Eigentlich nur, wenn man sehr reich ist. Denn im Land der großen Wörterfabrik ist Sprechen teuer. Diejenigen, die kein Geld haben, durchsuchen manchmal die Mülleimer. Aber die weggeworfenen Wörter sind meist wertlos: Man findet nur Hundekacka und Hasenpipi.

Was es in diesem Land aber auch gibt, ist die Liebe. Und die Eifersucht, die gibt es auch. Und es ist natürlich ganz unglaublich reizend, was dann wegen der Liebe passiert. Paul ist nämlich in Marie aus dem Nachbarhaus verliebt, aber das kann er ihr nicht sagen, denn er hat kein Geld. Am Ende wird aber alles gut, versprochen. Also gut, es schrammt vielleicht stellenweise hart am Kitsch vorbei, ebenso wie die Illustrationen – aber wer ein Herz hat, wird diesem kleinen Büchlein sofort erliegen. Ehrlich. Absolut zauberhaft.

Agnès de Lestrade (Anna Taube) / Valeria Docampo: Die große Wörterfabrik.
Gebunden, kleines Format, 8,95 €.
Gebunden, großes Format, 13,90 €.

[Die Links führen zum Webshop der Buchhandlung Osiander. Wenn Ihr sie hier anklickt und das Buch dann dort bestellt, werde ich unermesslich reich. Danke.]

Susann Pásztor: Ein fabelhafter Lügner

Jaaaa! Endlich mal wieder ein Buch, das mich so richtig begeistert. (Die Mumins sind natürlich auch super, laufen aber irgendwie außer Konkurrenz.) Jedenfalls:
Zum hundertsten Geburtstag ihres verstorbenen Vaters Joschi treffen sich die drei Halbgeschwister Marika, Hannah und Gabor. Marika und Hannah sind auch sonst in engem Kontakt, Gabor lebt weiter weg, und das nicht nur im wörtlichen Sinne. Bei den dreien ist außerdem Marikas Tochter, die sechzehnjährige Ich-Erzählerin. Zu viert fahren sie nach Buchenwald, wo Joschi inhaftiert war. Joschis erste Frau und die beiden ersten Kinder wurden in Auschwitz ermordet.
Den drei Frauen, von denen diese drei noch lebenden Kinder stammen, hat Joschi, wie sich herausstellt, ganz unterschiedliche Geschichten über seine Herkunft aufgetischt. Zu stimmen scheint nur, dass er Jude und in Buchenwald war. Ansonsten hat er frei drauflos erzählt, hat zwei Frauen quasi gleichzeitig geschwängert, hatte nach einem missglückten Selbstmordversuch drei Frauen an seinem Krankenbett stehen, hat gelogen und betrogen oder geschwiegen, hat irgendwie doch alle um den Finger gewickelt und schafft es am Ende, dass man ihn sogar als Leser irgendwie mag, trotz allem. Seine drei Kinder und seine Enkelin jedenfalls sind mit einem dermaßen umwerfenden trockenen Humor gesegnet, dass man ihnen sofort erlegen ist. Was dabei rauskommt: ein ganz wundervoll tragikomisches und warmherziges Buch; tatsächlich ein Buch mit Holocaust und Humor. Bemerkenswert. Ganz dicke Leseempfehlung, ich möchte eigentlich, dass Ihr das sofort alle kauft und lest und super findet und das weitersagt.

Susann Pásztor: Ein fabelhafter Lügner. 204 Seiten. Kiepenheuer und Witsch,
Gebundene Ausgabe, 17,95 €
Taschenbuch, 7,99 €
E-Book 7,99 €
Audio-CD, 12,99 €

(Die Links führen zum Webshop der Buchhandlung Osiander. Wenn Ihr das Buch dort bestellt, werde ich unermesslich reich.)

Twitter