Was Bücher mit Übersetzern machen

Man wirft Übersetzern ja gerne vor, was sie Schlimmes mit einem Buch gemacht hätten. Oder man bejubelt sie für das, was sie mit einem Buch gemacht haben. Natürlich machen Übersetzer etwas mit Büchern. Aber Bücher machen auch etwas mit Übersetzern.

Mit jedem neuen Buch kommt ein neues Thema, und das ist auch einer der Gründe, warum Übersetzen so ein toller Beruf ist: weil man immer wieder neu veranlasst ist, sich mit Dingen zu befassen, mit denen man sich sonst nicht befasst hätte, auf die man selbst womöglich gar nicht gekommen wäre. Natürlich gibt es auch Themen, bei denen man von vornherein weiß, dass sie einen nicht interessieren, dann soll man es bleiben lassen. Wenn man ein Buch nicht mag, wenn man schon das Thema nicht mag, dann wird die Übersetzung nicht gut. Mich beispielsweise lasse man mit Science Fiction und Fantasy in Ruhe, das ist nichts für mich, das weiß ich schon vorher, damit fange ich gar nicht erst an. Das muss man sich mal vorstellen: Hätte man mir damals Harry Potter angeboten, ich hätte abgelehnt. Waah!

Aber dann gibt es Themen, bei denen man spontan denkt, och ja, klingt interessant. Garten, jüdische Kultur, Transvestismus. Davon verstehe ich nicht viel, aber das kann man ja ändern. Man liest sich ein, es wird immer interessanter, man recherchiert all die kleinen Details, die der Autor so lässig en passant erwähnt, man googelt, schlägt nach, wälzt Lexika und Fachbücher und durchlöchert Fremde und Freunde, die sich mit dem Thema auskennen. Lieber Jan, falls Du das hier liest: es tut mir leid, dass ich Dich mit dem Satz „Ich bräuchte mal eine Abtreibungsberatung“ so erschreckt habe. Aber wenn schon ein Gynäkologe im Haus wohnt, kann ich mich ja auch vergewissern, dass meine Übersetzung richtig formuliert ist.

Sehr schön war auch die schon etwas ältere Kollegin, eine veritable Dame, stets tadellos gekleidet und frisiert, die einst den unvergessenen Satz „Ich habe ein gutes Verhältnis zu meinem Waffenhändler“ sprach. Wer Krimis übersetzt, muss den Unterschied zwischen Pistole und Revolver und den zwischen Hand- und Faustfeuerwaffen kennen, und muss wissen, was wie aussieht, funktioniert, heißt. Da liegt es nahe, im Waffengeschäft nachzufragen und sich die Dinger mal anzusehen.

So sammelt man im Laufe der Zeit eine erstaunliche Menge von erratischem Halbwissen in den abstrusesten Fachgebieten. Aber man macht sich nicht nur fachlich kundig; auch emotional beschäftigt man sich mit dem jeweiligen Thema. Und so dringt nicht nur der Übersetzer in das Buch ein, das Buch dringt auch in den Übersetzer ein. Vor vielen Jahren war ich im Europäischen Übersetzerkollegium in Straelen und übersetzte einen Bildband über Bar- und Clubdesign. Ich schwelgte in Luxus, überlegte, was ich zu Hause auf welche Weise umgestalten könnte, dachte über Vorhangstoffe und bunte Möbel nach, über Tische, Stühle und Wandfarbe und fand ganz allgemein, man müsse viel öfter schicke Designerlokale besuchen.

Mir gegenüber saß eine Kollegin, die die Biografie einer im zweiten Weltkrieg untergetauchten Jüdin übersetzte. Den Bericht über den Abtransport ihrer Familie, Briefe ihres Verlobten aus dem Konzentrationslager. So etwas übersetzt man nicht, indem man ein paar Vokabeln nachschlägt. Manchmal hörte ich sie stöhnen, manchmal liefen ihr Tränen über die Wangen. Dann gingen wir einen Kaffee trinken, und ich hatte ein schlechtes Gewissen wegen meiner Designerbars.

Etwas später habe ich in London eine dieser Bars besucht. Dort bezahlten wir für zwei Getränke 15,- Pfund, das waren damals ungefähr 45,- DM. Ich habe dann von dem Wunsch, mehr Designerlokale zu besuchen, wieder Abstand genommen.

Stattdessen habe ich das Kochen angefangen. Nach zwei jüdischen Büchern, die nichts mit dem zweiten Weltkrieg zu tun hatten, in denen aber permanent Hühnersuppe gekocht wurde, hielt ich es nicht mehr aus und musste selbst welche kochen. Ich! Hühnersuppe! Hühnersuppe macht Arbeit, ich habe noch nie etwas gekocht, was Arbeit macht. Aber die Entdeckung war: das ist sie wert. Hühnersuppe ist meine große Liebe geworden, ich mache mir die Arbeit gerne. Außerdem ist Hühnersuppe nicht nur lecker, sondern auch noch gesund; „Jüdisches Penicillin“, heißt es, hilft gegen alles von Grippe bis Liebeskummer. Ich war schon seit Jahren nicht mehr krank, und ich behaupte, das liegt an der Hühnersuppe. Danke an meine beiden jüdischen Autorinnen! Ihr habt nicht nur meinen intellektuellen Horizont erweitert.

Als ich einen Transvestitenkrimi übersetzen sollte, bin ich als erstes in die schwule Buchhandlung gegangen und habe nach etwas zum Einlesen gefragt. Es gab leider wenig bis gar nichts, ich habe einfach zum hundertsten Mal Ralf König gelesen. Geblieben ist mir ansonsten die Musik von Georgette Dee und Tim Fischer. Zunächst habe ich nur bei Youtube reingehört, mir schließlich aber auch ein paar CDs gekauft. Georgette Dees Element-of-Crime-Cover beispielsweise sind wundervoll.

Gerade habe ich mit zwei Kollegen zusammen Jonathan Safran Foers Eating Animals übersetzt, Tiere essen, ein Sachbuch darüber, woher unser Fleisch kommt. Wie die Tiere leben, zu zigtausenden in ihrer eigenen Scheiße stehend, mit Antibiotika und Wachstumshormonen gefüttert. Und wie sie sterben – durch Elektroschock betäubt, oder auch nicht, ausgeblutet und ausgenommen von Maschinen, die den Darm verletzen, so dass Kot ins Fleisch gerät, und so weiter. Appetitlich ist das alles nicht.

Tschüss, Hühnersuppe. War eine schöne Zeit mit dir.

Was wir übersetzen: Wörter, Sätze, Texte

„Du bist doch Übersetzerin, was heißt denn refrigerator?“
Keine Ahnung. Ich bin Übersetzerin, ich kann keine Wörter übersetzen. Fast nie. Nicht mal so vermeintlich eindeutige Wörter wie refrigerator.
Das ist natürlich eine etwas wichtigtuerische Pose. In Wahrheit habe ich durchaus eine Ahnung: refrigerator wird in den allermeisten Fällen wahrscheinlich Kühlschrank heißen. Seltener vielleicht auch Kühler oder Kühlwagen oder Kondensator (eines Kühlsystems). Im Einzelfall kann es aber auch mal sein, dass refrigerator mit Schlagbohrmaschine übersetzt werden muss. Oder Staubsaugerbeutel. Das glauben Sie nicht?

Haikus are easy
but sometimes they don’t make sense.
Refrigerator.

Zur Erinnerung: Haikus sind durch eine genau abgezählte Silbenzahl definiert. Ein Haiku besteht aus drei Zeilen mit 5, 7, 5 Silben. Wie in diesem englischen Haiku. Beim Übersetzen muss diese Struktur beibehalten werden, denn sonst wäre es kein Haiku mehr. Der Anfang geht schnell von der Hand:

Haikus sind einfach,
aber nicht immer sinnreich.

Und dann? Refrigerator. Fünf Silben. Kühlschrank hat nur zwei. Tiefkühltruhe vier, Gefrierkombination leider sechs. Glücklicherweise kommt es in diesem Fall ja gar nicht darauf an, dass da ein Kühlgerät steht, das Kühlgerät ist egal, da muss irgendetwas vollkommen Zusammenhangloses mit fünf Silben stehen. Bleiben wir doch bei Haushaltsgeräten: Schlagbohrmaschine, Staubsaugerbeutel, Dunstabzugshaube. Suchen Sie sich was aus, Hauptsache, Sie übersetzen refrigerator nicht mit Kühlschrank.

Das ist natürlich ein Ausnahmefall, aber er zeigt sehr schön, dass man tatsächlich keine Wörter übersetzen kann. Nicht mal die, die auf den ersten Blick eindeutig aussehen. Denn je nach Kontext kann fast jedes Wort ganz unterschiedliche Übersetzungen erfordern.

Bei Sätzen geht es schon besser. Sätze kann man meistens übersetzen. Was allerdings nicht bedeutet, dass ein und derselbe Satz in allen Kontexten auf dieselbe Weise übersetzt werden könnte. Noch so ein einfaches Beispiel: Why don’t you sit down?
Die meisten Leute würden das spontan mit „Warum setzt Du Dich nicht?“ übersetzen. Das ist auch erstmal nicht falsch. Allerdings ist es so, dass diese „Why don’t you“-Floskeln (oder auch „Why don’t I“) im Englischen ein ganz übliches rhetorisches Mittel sind, und die obenstehende Frage eine gängige Formulierung, mit der man jemandem einen Platz anbietet. Die angemessenere Übersetzung wäre also – nun ja, da muss man schon wieder nach dem Kontext gucken. Wer sagt das zu wem? Duzen oder siezen die beiden sich, treffen sie sich zum ersten Mal, in welchem Verhältnis stehen sie zueinander, sind sie befreundet, wie alt sind sie, und so weiter. Die passende Übersetzung wird also (meistens) irgendwo zwischen „Nehmen Sie doch bitte Platz“ und „Pflanz dich“ liegen. Es sei denn, der Sprecher möchte wirklich wissen, warum sein Gegenüber sich nicht setzt. Das kann ja auch mal sein.

Was wir übersetzen, sind Texte. Ein Text entsteht nicht dadurch, dass man lauter Wörter hintereinanderschreibt. Oder lauter Sätze. Ein Haufen Wörter wird erst dann zu einem Text, wenn die Wörter zueinander in Beziehung gesetzt werden. Diese Beziehung kann in ihrem Sinngehalt begründet sein, in der Grammatik, in Klang oder Rhythmus, meist ist es eine Mischung aus all dem. Diese Beziehung muss mitübersetzt werden. Das heißt, der Übersetzer wägt, um beim obigen Beispiel zu bleiben, ab, ob die Kühlfunktion des refrigerators ausschlaggebend ist oder irgendetwas anderes an diesem Wort. Hier ist die Silbenzahl das wichtigste. Und dass es etwas ist, was die zweite Zeile des Haikus bestätigt, nämlich dass Haikus manchmal sinnlos sind.
Texte kann man fast immer übersetzen. Wenn man davon ausgeht, dass man einen Text übersetzt, verlieren zum Beispiel auch Wortspiele ihren Schrecken. Denn natürlich kann man nicht jedes Wortspiel wörtlich übersetzen („wörtlich übersetzen“ ist sowieso so ein Irrglaube), es kann also in der Übersetzung nicht immer an genau denselben Stellen ein Wortspiel stehen wie im Original, dafür kann man aber in der Übersetzung eines reinbringen, wo im Original keines steht. Mit Fingerspitzengefühl natürlich. Am Ende muss die Bilanz stimmen. Aus einem wortspielreichen Text in der einen Sprache wird ein wortspielreicher Text in der anderen Sprache gemacht.
Das ist die allerwichtigste und oberste Literaturübersetzungsregel. Man darf – bei aller Detailverliebtheit und Akkuratesse, die auch sein muss – nie den Gesamttext aus den Augen verlieren. Man muss immer wissen, wo dieses eine Wort und dieser eine Satz stehen. Wie sie sich stilistisch und rhythmisch in ein großes Ganzes eingliedern.

Kennen Sie den schon? Wieviele Übersetzer braucht man, um eine Glühbirne reinzudrehen? Kommt auf den Kontext an.

Übersetzen ist eine darstellende Kunst

Der Text, den ein Schauspieler spricht, steht fest, er ist vorgegeben, der Schauspieler kann ihn nicht verändern. Er muss in eine Rolle schlüpfen, sich mit Haut und Haar in jemand anderen hineinversetzen, denken wie er, fühlen wie er, sprechen wie er – dabei aber dennoch aufrichtig bleiben, er selbst bleiben. Er kann kein anderer werden, weil er kein anderer ist. Er muss vielmehr seine Persönlichkeit in die Rolle einbringen, und dabei ebenso sehr sich selbst wie der Rolle treu bleiben. Dazu muss er das Stück natürlich verstanden haben, es richtig und vollständig durchdrungen haben, er muss den Gesamttext begreifen, die Geschichte, den Hintergrund, die Figur und jedes Detail. Wenn er etwas nicht verstanden hat, funktioniert es nicht, dann wird er seine Rolle unbeholfen spielen.
Es genügt nicht, wenn der Schauspieler die vorgegebenen Worte aufsagt. Er braucht auch schauspielerisches Handwerkszeug (kann man lernen) und eine Menge Talent (kann man nicht lernen). Und außerdem braucht er Herzblut, und zwar viel davon, und auch das kann man nicht lernen. Wenn der Schauspieler das Stück liebt, wenn er seine Figur liebt und versteht, wird er besser spielen, als wenn er das Stück verachtet.
Ein schlechter oder lustloser Schauspieler kann das schönste Stück kaputtmachen. Ein guter Schauspieler hingegen kann aus einem mittelmäßigen Stück Ungeahntes herausholen. Mit Herzblut und Handwerk und Talent und Verstand. Es ist eine Kunst, ein Theaterstück zu schreiben, und eine andere, ganz eigene Kunst, es zu spielen.

Genauso ist es auch beim Übersetzen. Übersetzen ist ebenfalls eine darstellende Kunst: jemand schreibt einen Roman (ein Sachbuch, eine Gebrauchsanweisung), und ein anderer schreibt den Text in seiner Sprache neu, mit seinen Mitteln und, ja: mit seiner ganzen Persönlichkeit. Der Übersetzer gibt, ebenso wie der Schauspieler, einen feststehenden Text wieder, von dem er nicht abweichen darf, dem er treu bleiben muss. In Wortlaut, Stil und Rhythmus. Er muss hinter den Autor zurücktreten, die Stimme des Autors nachempfinden, aber eben mit seiner eigenen Stimme. Eine andere hat er ja auch gar nicht.
Der Übersetzer muss das Buch ebenso gründlich verstanden haben wie der Schauspieler das Stück. Nicht nur den Handlungsablauf, sondern auch Hintergründe und Figuren, sämtliche Details und das, was sie zusammenhält, sonst funktioniert es nicht. Und auch der Übersetzer braucht dafür neben seinem Handwerkszeug, nämlich der deutschen Sprache, reichlich Talent und Herzblut. Denn auch der Übersetzer kann, wenn er sein Handwerk nicht beherrscht oder keine Lust hat oder das Buch nicht leiden kann, das schönste Buch kaputtmachen. Und umgekehrt kann ein guter Übersetzer aus einem mittelmäßigen Buch das Beste herausholen. Wenn er mit Leidenschaft und Sachverstand arbeitet, wird die Übersetzung gut. Ebenso wie bei den Schauspielern gibt es Übersetzer, die fast alle Rollen beherrschen, und andere, die immer nur sich selbst spielen oder zumindest auf ein Genre festgelegt sind.

Einmal wurden eine Freundin und ich gefragt, was wir beruflich machen.
„Ich übersetze Bücher“, sagte ich.
„Boah, voll schwer!“, sagte die Dame, die gefragt hatte. „Und Sie?“
„Ich schreibe Bücher“, sagte meine Freundin.
„Boah, noch schwerer!“, rief die Dame.
„Ja“, sagte ich, „das ist wirklich viel schwerer. Da muss man sich ja alles selbst ausdenken!“
„Nein“, sagte meine Freundin, „stimmt doch gar nicht. Übersetzen ist viel schwerer! Da ist man so eingeschränkt, man kann nicht machen, was man will, man muss immer treu sein, und so wahnsinnig genau! Als Autorin kann ich, wenn ich etwas nicht weiß, einfach was anderes schreiben. Und wenn ich etwas Doofes geschrieben habe, lösche ich es halt und denke mir was Neues aus. Das kannst Du als Übersetzerin nicht!“
Wir sind zu keinem Ergebnis gekommen, was nun schwieriger ist. Die Frage ist auch müßig. Ein Buch zu schreiben, ist eine Kunst. Es zu übersetzen, ist eine andere, ganz eigene Kunst.

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Missgeschick

Leute!
Ich hab das doch alles nicht gewusst! Und schon gar nicht gewollt!
Offensichtlich sieht man auf manchen Monitoren oder in manchen Browsern das knackige Grün gar nicht, das die Links kennzeichnet. Da ist das so dunkel, dass man es gar nicht bemerkt.
Und deswegen haben manche nicht gemerkt, dass im Eintrag hier drunter das Wort „Zuhause“ ein Link ist, so wie hier auch, und dass man, wenn man da draufklickt, zum neuen Blog kommt.
Menno.
Hätte doch mal einer was gesagt.
Also nochmal zum Mitschreiben: HIER DRAUF KLICKEN, neues Lesezeichen setzen, fertig. Tut mir Leid, wenn jetzt soundso viele geglaubt haben, ich wäre verstummt. Ich doch nicht!

Das ergibt jetzt alles keinen Sinn mehr, weil es hier um den Umzug von Blog 1 auf Blog 2 ging, Blog 1 jetzt aber in Blog 3 portiert wurde. Anders gesagt: vergesst es einfach. Hihi.
Alles, was hier oben drüber steht, ist Blog drei, was drunter steht, Blog eins. Dazwischen lag die Zeit bei Antville, nachzulesen hier. Irgendwann bekommen wir auch noch raus, wie man das auch hierher kopiert.

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