Der Rest der Welt (2): Helgoland

Was ist das eigentlich mit Helgoland? Wieso fahre ich da immer wieder hin?
Helgoland ist einen Quadratkilometer groß. Was ganz schön klein ist. Es ist an vielen Stellen sehr hässlich. Betonmauern, insgesamt sicher mehrere Hundert Meter lang, und rostige Spundwände. Betontetrapoden als Wellenbrecher. Diese Tonnen und Tonnen und Tonnen von Beton nennt man: Küstenschutz. Küstenschutz bedeutet anscheinend, dass man die Küste einfach wegmacht. Die eigentliche Küste, die natürliche, muss irgendwo unter dem ganzen Beton und den rostigen Spundwänden liegen. Nur läge sie da ohne den Beton wahrscheinlich gar nicht mehr, sondern das Meer hätte die Insel inzwischen noch kleiner gemacht.

Aber außer hässlich ist Helgoland halt auch noch zauberhaft. Diese kleinen Häuschen in der bunten Farbpalette, die in den Fünfzigerjahren eigens für die Insel zusammengestellt wurde, und an die sich auch heute noch ein Teil der (wenigen) Neubauten hält. Wenn auch in teils etwas eigenartiger Interpretation. Viele empfinden diese kleinen Häuschen nicht als schön. Ich mag sie, ich mag die Farben und das Dichtgedrängte, es hat so etwas von Modelldörfchen, geradezu spielzeugartig. Drinnen, in diesen Häusern – keine Ahnung. Aber wenn man Gardinen und Fensterbänke und Vorgartendeko als Indizien nimmt, dann kann man vermuten, dass auch in den Häusern noch vieles ist wie in den Fünfzigerjahren.
Und da haben wir gleich das nächste Problem oder „Problem“, beziehungsweise die nächste Zauberhaftigkeit: es ist irgendwie alles ein bisschen aus der Zeit gefallen. Oder jedenfalls passiert alles mindestens 30 oder vielleicht auch 60 Jahre später als anderswo. In den Restaurants und Kneipen läuft Musik aus den Achtzigern, zu Essen gibt es Fleisch, Fisch, Fleisch und Fisch, Eimersoßen, Nudeln mit dicker Sahnesoße, Fleisch oder Fisch oder Pommes oder gekochten Brokkoli mit Eimersoße und Fleisch oder Fisch. Wenn man weder Fleisch noch Fisch möchte, verdrehen die Helgoländer die Augen und man bestellt sich den Salat mit Putenbruststreifen ohne Putenbruststreifen.
Die Insel ist zoll- und mehrwertsteuerfrei. Eine Menge Tagestouristen kommen, um billig Schnaps, Zigaretten, Parfüm und Süßigkeiten zu kaufen. Entsprechend viele solcher Läden gibt es. Und da sind wir bei Problem Nummer … wo sind wir gerade?

Ich würde nicht auf Helgoland leben wollen. Viel zu eng und zu klein, und das meine ich sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn. Man kann nicht einfach weg, man befindet sich auf diesem einen Quadratkilometer, und wenn man weg will, muss man ein Schiff nehmen, das fährt höchstens einmal am Tag, im Winter sogar nur jeden zweiten Tag. „Mal kurz weg“ ist also immer gleich eine richtige Reise, man ist abends nicht wieder zu Hause, es kostet Geld, muss geplant werden und so weiter.
Und im übertragenen Sinn ist es ebenso schwierig. Jeder kennt jeden – das hat sicher auch Vorteile, aber eben nicht nur. Jeder Inselbewohner weiß quasi in jedem Moment, wo sich jeder andere befindet. Stell dir vor, sagte mal jemand, da kann man ja nie eine Affäre haben! Das weiß ja sofort die ganze Insel. Die einzige Chance sei es, sich die Arzttermine auf dem Festland auf den gleichen Tag zu legen. Die Schiffe fahren nämlich vormittags vom Festland auf die Insel, und nachmittags von der Insel aufs Festland. Das heißt, wer zum Facharzt muss oder wer sonst aus irgendeinem Grund aufs Festland muss, der muss dort auch eine Nacht übernachten. Das sei, behauptete meine Informantin, die einzige Chance für eine Affäre. Aber spätestens beim dritten „zufällig“ gleichen Festland-Termin bekommt es dann halt doch irgendwer mit. Hartes Leben.
Jemand ganz anderes sagte, auf der Insel gebe es eine „besondere Kultur des Verzeihens“. Genau deswegen. Weil es anders nicht geht, in so einer kleinen Gemeinschaft, da funktioniert einfach nichts mehr, wenn man nachtragend ist. Das gefällt mir wieder sehr, Verzeihen finde ich gut, und dieser Satz beschäftigt mich jetzt schon seit Jahren, irgendwann werde ich vielleicht eine Geschichte darüber schreiben, wenn mir eine einfällt. Eine Kultur des Verzeihens, das ist doch wundervoll. Trotzdem: ich würde dort nicht leben wollen.
Aber hinfahren? Immer wieder. Und dann bald noch mal. Eben weil es so aus der Welt ist. Und so klein. Man kann auf Helgoland immer und von überall aus das Meer sehen. Vom Oberland aus sogar fast rundum, in alle Richtungen, man steht hoch oben drüber und sieht in alle Richtungen dieses unendliche Blau, beziehungsweise diese unendlichen Blaus in allen Abstufungen, für die man schon bald keine neuen Vokabeln mehr findet. Der Wind pustet einem sofort alles aus dem Kopf, was da nicht drin sein soll, was nicht guttut oder sonst irgendwie blöd ist, also zum Beispiel schlechte Laune, schlechte Gedanken oder Erkältungen. Stattdessen macht sich sofort eine große Ruhe breit und ein großes Glück. Es passiert mir da oben regelmäßig, dass ich einfach lachen muss, nur weil Wind und Blau ist. Lachen, weil der Wind so toll ist und das Blau so toll ist und alles andere weit weg.
Und dann kommt man zum Vogelfelsen, und aus dem Lachen wird Staunen. Der Helgoländer Lummenfelsen ist Deutschlands kleinstes Naturschutzgebiet, und wahrscheinlich auch das hochkanteste. Stundenlang kann man dort stehen und den Basstölpeln bei ihren Flugmanövern zuschauen, es sieht aus, als würden sie das zum Spaß machen. Sie bewegen die Flügel fast gar nicht, sie breiten sie nur aus und stehen in der Luft, und nicht mal die stärkste Windbö kann ihnen etwas anhaben, sie ändern dann eben kurz die Richtung, mit minimalen Flügelbewegungen, total faszinierend. Und irgendwann will ich mal im Juni hin und den Lummensprung sehen, wenn die Jungen der Trottellummen sich vom Felsen ins Wasser stürzen, das muss ein unglaubliches Schauspiel sein.
Und dann die Düne. Die Düne ist sozusagen die Antithese zur Hauptinsel. Die Hauptinsel ist ein großer, roter Felsklotz, fast ausschließlich steile Klippen. Die Düne hingegen ist eine Düne, sie ist flach, besteht vor allem aus Sand, an einer Seite Kies, und auf der Düne leben Kegelrobben und Seehunde. Wenn man nicht wüsste, dass Robben Raubtiere sind und ein paarhundert Kilo wiegen und auch an Land verblüffend schnell werden können, dann könnte man hingehen und sie streicheln. Macht man natürlich nicht. Sie liegen einfach so am Strand herum, manchmal in großen Mengen, und tun Robbendinge, also meistens gar nichts. Manchmal machen sie aber auch Robbenbabys oder zanken sich, es gibt alle möglichen Sorten von Sozialverhalten zu beobachten. Robben. Zig riesige Robbeneltern und kleine Robbenkinder liegen da einfach so am Strand herum, und man kann zwischen ihnen herumspazieren. Unglaublich großartig.

Ich habe nicht mehr mitgezählt, wie oft ich in den letzten paar Jahren auf der Insel war, aber es war oft, und es hört nicht auf, beeindruckend zu sein. Die Vögel, die Robben, das Meer. Das Meer, das Meer, das Meer. Der Himmel geht bis ganz hinten, bis ganz unten, bis da, wo man nicht mehr weitergucken kann, und das in alle Richtungen. Ist das nicht unfassbar? Das ist unfassbar. Und man wird sofort geerdet, der Wind pustet einem alles Doofe aus dem Kopf, man lacht über den Wind und wie er einen torkeln macht, und ist ergriffen von der Natur, von Vögeln und Robben und Meer. Und staunt.
Und irgendwie ist auch immer gutes Wetter, denn selbst wenn schlechtes Wetter ist, ist auch immer mal gutes Wetter, es bleibt nie lange schlecht, und wenn die Sonne aufs Meer scheint, dann ist es gerade noch mal doppelt so schön, und dann sitzt man draußen und guckt ins Blau. Und weil die Insel so klein ist, stellt sich die Frage „was machen wir heute“ gar nicht wirklich, denn man kann eh nicht viel machen.
Die Insulaner behaupten ja, man könne eine Inselrundfahrt mit einem Börteboot machen. Das stimmt aber gar nicht, diese Börteboote fahren nienienie, weil immer zu viele Wellen sind. Wellen sind übrigens auch toll. Und Gischt ist toll.
Also macht man halt nichts, oder man geht spazieren, und man lässt sich vom Wind umpusten und von der Natur beeindrucken, und genau deswegen ist es auf Helgoland so toll: weil man nichts weiter machen kann. Oder muss. Man fährt bei schönem Wetter auf die Düne und läuft einmal drumherum und trinkt ein Bier und dann noch eins, oder wenn es kalt ist einen Sanddorngrog. Und dann fährt man wieder zurück oder bleibt noch eine Weile sitzen. Weil es nichts weiter zu tun gibt.
Und deswegen kann man dort auch so gut zum Arbeiten hinfahren. Wenn schlechtes Wetter ist, zum Beispiel, kann man eigentlich gar nichts anderes machen als Arbeiten. Nur halt mit Blick aufs Meer, statt auf eine Hamburger Wohnstraße. Und wenn schönes Wetter ist, dann kann man sich mit dem Laptop nach draußen setzen, auf eine Bank, und das Meer plätschern hören und ins Blau gucken und auf dem Bildschirm kaum was sehen, weil die Sonne zu hell ist, und dann wird man wieder lachen müssen, weil das nun wirklich die allerschönsten Luxussorgen sind, die man haben kann: dass man die Arbeit auf dem Monitor nicht sieht, weil die Sonne zu hell ist und das Meer zu schön. Und dann klappt man den Rechner vielleicht zu und geht noch eine Runde spazieren, auf dem Oberland oder auf der Düne, und wenn man den Rechner später wieder aufklappt, hat die Arbeit sich quasi von allein erledigt.
Und deswegen fahre ich immer wieder nach Helgoland. Wo ich nicht wohnen wollen würde, und wo es so hässlich und so zauberhaft ist, und wo dieses Blau ist und das Meer und Robben und Vögel und sonst nichts.

PS: Nächstes Wochenende probiere ich das mal wieder aus.

PS 2: Mehr über Helgoland, auch jede Menge Fotos usw. gibt es hier.

15 Kommentare

  1. Markus Montag, 19. November 2012 um 00:08 Uhr [Link]

    Seit April kann ich Dich gut verstehen. Und ich war nur dieses EINE Mal (auf unserer Klassenfahrt) auf Helgoland. Bisher.

  2. Anke Montag, 19. November 2012 um 07:24 Uhr [Link]

    .

  3. adelhaid Montag, 19. November 2012 um 07:56 Uhr [Link]

    hach.

  4. Maximilian Buddenbohm Montag, 19. November 2012 um 08:35 Uhr [Link]

    Jo.

  5. Extramittel Montag, 19. November 2012 um 09:09 Uhr [Link]

    Nächstes Jahr wieder, hm?

  6. Edwinek Montag, 19. November 2012 um 10:35 Uhr [Link]

    Ich war in meinem ganzen Leben nur ein paar Stunden auf Helgoland. Das hat aber gereicht um mich zu bezaubern. Das war in 2010, an einem Tag hin und zurück aus Büsum. Von der ganze Mehrwertsteuerfreiheit wusste ich nichts, wir wollten die Felsen und den Vögel sehen. Wunderbar, wie nah man an den Basstölpeln ran kommt.
    Ich liebe solche Hochseeinsel, war auch ganz bezaubert vor Färoer, aber gerade die winzigkeit von Helgoland macht die Insel so magisch.
    Wen ich in an der Deutschen Nordseeküste wohnen würde, würde ich bestimmt öfter fahren. Aus Holland ist es leider zu weit, aber irgendwann komme ich wieder.
    Eine Flasche Whisky habe ich mir übrigens doch noch gekauft, man ist ja nicht um sonst Holländer…

  7. Mell Montag, 19. November 2012 um 10:54 Uhr [Link]

    Trotz Allem: Ja!

  8. giardino Montag, 19. November 2012 um 12:30 Uhr [Link]

    . (*seufzzz*)

  9. Der Rest der Welt « Helgoland Montag, 19. November 2012 um 18:21 Uhr [Link]

    [...] sich nicht alles richtig einsortieren lässt, gibt es bei Isabel Bogdan nun eine weitere Rubrik, schlicht benannt mit “Der Rest der Welt” – und dort [...]

  10. Der Rest von Hamburg (16) – Update mit Eppendorf, anderen Gegenden, noch einmal Eimsbüttel und Helgoland | Herzdamengeschichten Montag, 19. November 2012 um 20:17 Uhr [Link]

    [...] ganz viele Stadtteile, Heldenchaos über Eppendorf (mit schönen Bildern) und Isa über Helgoland, das nicht ganz exakt zum Hamburger Stadtgebiet gehört, aber hey, da fährt eine [...]

  11. Helgoland | Stories & Places Dienstag, 29. Januar 2013 um 12:21 Uhr [Link]

  12. kiezneurotiker Mittwoch, 20. März 2013 um 13:15 Uhr [Link]

    Ich will da so gerne mal hin und dein Text macht mir noch mehr Lust drauf.

  13. Gisela Botschatzke Montag, 20. Oktober 2014 um 15:10 Uhr [Link]

    ach ja, wie recht du hast, obwohl, mal so ein halbes Jahr würde ich da auch gern leben mal gucken, wie das so ist und ich würde gern mal Silvester auf der Insel sein.
    Es ist einfach nur schön da!

  14. Kirsten Sonntag, 21. Juni 2015 um 09:48 Uhr [Link]

    Mit einiger Verspätung falle ich über diese zauberhaften Text, vielen Dank dafür. Ja, so ist es bei uns in Friesland. Auf Helgoland, und das ist für Hamburger vermutlich das am nächsten und einfachstenzu erreichende Stück Friesland, besonders aber auf den Halligen ein Stück weiter nördlich. Da kann es einem dann passieren, dem wirklich echten Nichts zu begegnen. Z.B. wenn man im Winter im Hotel auf Langeneß absteigt und dann erleben kann, dass die ohnehin sehr, sehr übersichtlichen Möglichkeiten (Info“haus“ Schutzstation Wattenmeer, Kapitän-Tadsen-“Museum“ und Cafe Ketelswarft) auch noch nicht da sind. Und so begegnet man auf seinen Spazier- und Fahrradtouren immer wieder den anderen Hotelgästen und unglaublich oft sich selbst. Das muss man mögen und aushalten können.
    Mir als Festlandsfriesin hat sich auf Langeneß unmittelbar sehr viel friesische Geschichte fühlbar erschlossen. Das ging mir auf Helgoland nicht anders, nur dass das Halunder („Helgoländer Friesisch“) dort ganz offensichtlich entdeckt werden will. Das ist auf den Halligen noch anders.

  15. Iris Sonntag, 16. August 2020 um 18:35 Uhr [Link]

    Danke für diesen wunderbaren Text. Toll geschrieben. Ich war gerade auf Helgoland und bin begeistert von den Vögeln, der Ruhe und dem endlosen Blau. Ich würde gerne dort eine Zeitlang leben, einige Monate oder ein Jahr.

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