Selim Özdogan: Die Tochter des Schmieds

Mach meinen Mann nicht zum Mörder, habe ich ihm gesagt, halt an, mach meinen Mann nicht zum Mörder. Halt an, und lass mich raus, und dann verpiss dich, so schnell du kannst.
Timur atmet hörbar aus und wendet kurz seinen Kopf ab, damit Fatma nicht sieht, wie seine Augen feucht werden. Sein Atem geht noch schwer. Er ist dankbar, er ist so dankbar dafür, dass das Schicksal diese Frau für ihn bestimmt hat.

Anatolien, Mitte des 20. Jahrhunderts. Der Schmied Timur verlobt sich mit Fatma, die schön ist wie ein Stück vom Mond. Vielleicht zunächst keine Liebesheirat, aber es wird schnell eine Liebesehe daraus. Die beiden bekommen drei Töchter: die schüchterne, still duldende Gül, die draufgängerische Melike, die sich nichts gefallen lässt, und die verträumte, künstlerisch begabte Sibel. Kurz nach Sibels Geburt stirbt Fatma an Typhus.
Timur heiratet sofort wieder, denn sonst müsste er seine drei Töchter weggeben. Seine zweite Frau ist jung und ein bisschen überfordert; Gül kümmert sich mit um ihre Schwestern, eine weitere Schwester und ein Bruder kommen hinzu. Gül arbeitet viel im Haushalt mit, in der Schule ist sie nicht so gut, und sie bleibt schüchtern und begehrt nicht auf.
Als sie vierzehn Jahre alt ist, halten die ersten Männer um ihre Hand an. Ein paarmal sagt sie nein, aber irgendwann willigt sie doch ein, einen zu heiraten.
Als Leser begleiten wir Gül und ihre Familie über einen Zeitraum von ungefähr 20 Jahren. Was in diesen zwanzig Jahren geschieht, ist nicht die ganz große Geschichte, keine Knallerstory, sondern eine Familiengeschichte, wie sie sich wahrscheinlich tausendfach so ähnlich zugetragen hat. Eine Familie, die ein paar Schicksalsschläge und Schwierigkeiten zu verkraften hat, aber insgesamt doch ihr Auskommen und ihre Zufriedenheit findet, jeder auf seine Weise, der eine mehr, der andere weniger. Denn auch, wenn es vielleicht keine große Geschichte ist, begegnen uns darin doch große Persönlichkeiten. Der Schmied Timur ist eine ganz großartige Figur, Gül und ihre Schwestern wachsen einem ebenso ans Herz, auch wenn man Gül in ihrer Schicksalsergebenheit manchmal am liebsten schütteln möchte. Ein leises, melancholisches, poetisches Buch, das durch lauter kleine Geschichten und Begebenheiten ein sehr vielseitiges und buntes Bild zeichnet. Immer wieder beeindruckend, wie weit die Lebenswirklichkeit in Anatolien in den 1960er Jahren von unserer (also meiner deutsch-bildungsbürgerlichen) entfernt ist. Und wie rasant sie sich dort ändert. Hat mir sehr gut gefallen.
Es gibt noch einen zweiten Band, „Heimstraße 52“, den ich bestimmt auch noch lesen werde.

Als E-Book gelesen, deswegen bekommt Özdogan keine Regalnachbarn.

Selim Özdogan: Die Tochter des Schmieds. Aufbau, 239 Seiten. Gebunden nur noch antiquarisch, Taschenbuch 8,99 €, E-Book 7,99 €.

7 Kommentare

  1. Katy Samstag, 10. Dezember 2011 um 03:58 Uhr [Link]

    One of my all-time favourites, as you may know.

  2. Isabel Bogdan Samstag, 10. Dezember 2011 um 10:25 Uhr [Link]

    That’s why I read it in the first place.

  3. Penelope Samstag, 10. Dezember 2011 um 11:01 Uhr [Link]

    Das wirklich Schöne an ebooks: man kann sie auf der Stelle herunterladen! Gemacht, danke *-*

  4. Zahnwart Samstag, 10. Dezember 2011 um 11:13 Uhr [Link]

  5. Isabel Bogdan Samstag, 10. Dezember 2011 um 11:23 Uhr [Link]

    Danke! Was Du schreibst, dass das so menschenfreundlich ist, fiel mir auch abends im Bett noch ein, dass ich das hätte schreiben sollen: Özdogan liebt seine Figuren, und das merkt man. Er lässt sie alle so sein, wie sie eben sind.

  6. Birte Vogel Donnerstag, 15. Dezember 2011 um 13:01 Uhr [Link]

    Ich wollte dieses Posting erst nicht lesen, weil ich das Buch schon vor längerer Zeit gelesen habe und im Nachhinein nichts Schlechtes darüber lesen wollte, weil ich es so wunderbar geschrieben fand. Und dann lese ich nicht nur, dass es Dir mit dem Buch ähnlich ging wie mir, sondern auch, dass es einen zweiten Band gibt – danke für den Tipp! :-)

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