Tag 8 – Ein Buch, das dich an einen Ort erinnert

Johannes Mario Simmel: Doch mit den Clowns kamen die Tränen.

Schon wieder Simmel. Der Ort, an den mich dieses Buch erinnert, ist ein Flugzeug der AeroFlot, und mir kamen auch die Tränen. Schlimme, heiße, bittere Tränen, viele Stunden lang. Aber da konnte das Buch nichts für.

März 1991. Ich flog nach Tokyo, um ein Jahr dort zu bleiben. Am Frankfurter Flughafen hatte ich mich vom Liebsten verabschiedet. Wenn ich aus Tokyo zurückkommen würde, würde er in Schottland sein – wir würden uns anderthalb Jahre nicht sehen, genauso lange, wie wir zusammen waren. Kann sich jeder ausrechnen, dass so was nicht gutgehen kann, wenn man sich so lange nicht sieht und jeder in der Zeit so viel Neues erlebt. Ich hatte den Frankfurter Flughafen nassgeweint, ich weinte das Flugzeug voll. Von Frankfurt bis Moskau saß eine Gruppe junger Russen um mich herum, von denen einer Geburtstag hatte. Sie feierten und fanden, ich solle nicht so traurig sein, sondern lieber was trinken. „Trink, Mädchen, trink! Nicht weinen.“ Campari pur. Und noch einen. Ich weinte, sie schenkten mir Campari ein. Und stiegen in Moskau aus. War wahrscheinlich gut, sonst wäre ich gleich mit Alkoholvergiftung in Tokyo angekommen.
Auf der deutlich längeren Strecke von Moskau nach Tokyo war ich allein mit 200 Japanern, meinem Schmerz, meinen Tränen, meiner Betrunkenheit, meiner Müdigkeit und meinem Buch. Ich las „Doch mit den Clowns kamen die Tränen“ gegen meine Tränen an. Sobald ich das Buch weglegte, musste ich weinen, weinen, weinen, ich hätte gern geschlafen, aber es ging nicht, ich war von diesem Mann weggegangen, obwohl ich das überhaupt nicht wollte, bloß weil das Studium es so vorsah und wir „vernünftig“ waren, ich wollte bei ihm sein und ihn bei mir haben und mit ihm zusammen sein, und jetzt würde ich ihn anderthalb Jahre nicht sehen, nicht anfassen, nicht riechen, eine endlose Zeit, das Gefühl schnürte mir die Brust zu und machte einen Klumpen in meinen Hals, und ich weinte. Also nahm ich das Buch, um mich vom Weinen abzulenken. Ich war zum Umfallen müde, vom langen Flug und vom Weinen und vom Alkohol, mir fielen die Augen von selbst zu, aber sobald ich das Buch weglegte, musste ich wieder fürchterlich weinen, ich konnte nicht aufhören, ich kam nicht dagegen an, alles tat weh. Alles tat weh. Also las ich, und weinte, und las, und weinte. Was in Tokyo ankam, war ein Häufchen Elend. Ein mickriges, heulendes, übermüdetes, jämmerliches Häufchen Elend, ein trauriger Clown, der traurigste der Welt.
Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon dieses Buch handelt.

PS: Es gab dann doch noch ein Happy End. Mit dem Mann bin ich immer noch zusammen.

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8 Kommentare

  1. britta Montag, 18. Oktober 2010 um 10:04 Uhr [Link]

    Herzzerreißend! Mutig! Romantisch! Jetzt will ich wissen, wie das Wiedersehen war. (Und habt Ihr Euch denn nie besucht?)

  2. Isabel Bogdan Montag, 18. Oktober 2010 um 10:15 Uhr [Link]

    Doch, er hat mich im Sommer im Tokyo besucht, fünf ganze Wochen lang. Hat das ganze Semester gearbeitet, um den Flug bezahlen zu können. Aber dann hat es immer noch ein Jahr gedauert, bis wir wieder beide in Heidelberg waren.

  3. Susanne Montag, 18. Oktober 2010 um 10:56 Uhr [Link]

    Mein Gott! Wie schön! 1 1/2 Jahre! Wie schrecklich. Wie schön. Ich bin ganz fassungslos. Wirr noch dazu.

  4. britta Montag, 18. Oktober 2010 um 11:33 Uhr [Link]

    Immerhin, fünf Wochen zusammen in Tokyo! Hach.

  5. Malte Diedrich Montag, 18. Oktober 2010 um 14:29 Uhr [Link]

    Wie hart. Ich fand ja schon die Pias 4 Monate Island schlimm, die dann von 3 Tagen in Reykjavik unterbrochen wurden, aber 1,5 Jahre…

  6. Extramittel Montag, 18. Oktober 2010 um 15:57 Uhr [Link]

    Schnüff

  7. Helga Montag, 18. Oktober 2010 um 16:12 Uhr [Link]

    Da kommen der Leserin ja auch gleich die Tränen.

  8. giardino Montag, 18. Oktober 2010 um 21:33 Uhr [Link]

    *schnief*

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